Читать книгу Handover - Alexander Nadler - Страница 9
Donnerstag, 17. April 1997, 15:30 Uhr
ОглавлениеWie im Fluge ist der Vormittag mit dem Ausfindig-Machen eines Bestattungsunternehmens und dem Besprechen der nach Freigabe des Leichnams anstehenden Beisetzungsformalitäten vergangen. Claude fühlt sich davon reichlich ausgelaugt, als er müden Schrittes die Lobby seines Hotels betritt und sich zielstrebig in Richtung Aufzug hält, kurz bevor er ihn erreicht vom Concierge jedoch aus seinen Tagträumen gerissen wird: „Herr Duchamp, ich habe hier eine Nachricht für Sie.“
Ungewohnt unwirsch reißt Claude den ihm gereichten Umschlag auf, was er auf seine nicht ganz intakte Psyche zurückführt. Diese verbessert sich beim Überfliegen der Zeilen indes schlagartig. Mit einem hastigen: „Dankeschön“ verschwindet er sodann in dem mittlerweile bereitstehenden Lift, und kaum in seinem Zimmer angekommen, das Kuvert noch in der Hand, setzt er sich telefonisch mit Hauptkommissar Krüger in Verbindung, der sich auch sofort persönlich meldet: „Hier Krüger, Mordkommission.“
„Guten Tag, Herr Kommissar, hier Claude Duchamp. Ich habe soeben Ihre Nachricht erhalten. Danke, dass Sie an mich gedacht haben. Wann wollen Sie denn in die Wohnung meines Bruders?“
„Wenn es Ihnen passt, gleich.“
„Selbstverständlich, das passt mir ausgezeichnet.“
„Gut, wir kommen dann in ein paar Minuten bei Ihnen im Hotel vorbei und holen Sie ab.“
„Okay, ich warte in der Lobby auf Sie. Bis gleich also.“ Die sich unerwartet rasch aufgetane Chance, Zugang zu Philipps Archiv zu erhalten, hat Claudes Müdigkeit, in die sich allmählich ein Schuss Resignation zu mischen begann, urplötzlich vertrieben, deutlich spürt er, wie neuer Tatendrang Körper und Geist belebt. Mit kaltem Wasser wäscht er sich das Gesicht, um die ohnehin wieder rege gewordenen Lebensgeister nachdrücklich wachzurütteln. Und während er sich mit der Bürste durchs Haar fährt, blickt er tief in die Augen seines Spiegelbildes, so als wolle er sich durch Selbstsuggestion in seiner Zielsetzung bestätigen. Einmal kräftig den Rücken durchgedrückt, sich gestreckt, dann ist er soweit. Behänden Schrittes nimmt er diesmal die Treppe. ‚Vier Stockwerke, die sind doch ein Klacks’, amüsiert er sich im Stillen über seinen eigenen Tatendrang, mit dem er die Stufen paarweise hinuntersaust.
Keine fünf Minuten sind vergangen, bis er die Kriminalbeamten vorfahren sieht, und noch ehe Mihailovic die Hotelhalle betreten kann, ist ihm Claude flinken Schrittes entgegengeeilt und fängt ihn an der Eingangstür ab, woraufhin beide in den Wagen steigen, den Krüger mit leicht quietschenden Reifen in Bewegung setzt. Wie der Wagenlenker - ab und an in den Rückspiegel blickend, um so Blickkontakt mit ihm herzustellen - Claude mitteilt, habe man sich, da die Ermittlungen auf der Stelle träten, heute Morgen kurzfristig für einen weiteren Ortstermin in der Wohnung des Ermordeten entschlossen. Und da er Mihailovic gegenüber den Wunsch geäußert habe, das Archiv seines Bruders durchforsten zu dürfen, sei es doch am sinnvollsten, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, zudem könne er sich selbst dann auch noch einmal in Ruhe in der Wohnung umschauen, möglicherweise fiele ihm jetzt, da der erste Schock vorüber sei, ja doch irgendetwas auf oder ein, das ihnen weiterhelfen könne.
Claude hört den Ausführungen des Hauptkommissars und seines Assistenten nur mit einem Ohr zu, gleich einem auf eine freudige Überraschung wartenden Kind spürt er prickelnde Erregung in sich hochsteigen. Die Unsicherheit, das Nicht-Wissen, wonach er eigentlich suchen soll, treibt seinen Adrenalinspiegel umso weiter in die Höhe, je mehr sie sich Philipps Wohnung nähern.
Leicht und leise schwingt nach dem Entfernen der polizeilichen Versiegelung die Wohnungstür auf. Während die Kriminalbeamten ohne irgendein Anzeichen emotionaler Regung den Türrahmen durchschreiten, überfällt Claude dabei für Sekundenbruchteile ein eigenartiges Gefühl der Beklemmung, fast ist es ihm, als ob er die Totenruhe seines Bruders dadurch störe, eindringe in ein ihm bis dato unbekanntes Reich. Doch ehe ihn dieser gefühlsmäßige Anflug wirklich übermannen kann, durchschneidet Krügers Stimme den von transparenter Totenstille erfüllten Raum: „Herr Duchamp, ich möchte Sie bitten, zunächst nichts anzurühren, und vielleicht könnten Sie sich erst noch einmal alles in Ruhe anschauen. Sie wissen schon, jeder Hinweis kann hilfreich sein.“ Der Kommissar winkt ihn zu sich ins Wohnzimmer, an den Ort des Verbrechens, das sich in Form der Kreidestriche, die die groben Konturen von Philipps Körper am Boden nachzeichnen, manifestiert, auf emotional brutale Art und Weise greifbar wird, so unverständlich es für Claude auch immer bleiben wird.
So sehr er sich auch zu rationaler Denkweise durchzuringen bemüht, fällt Claude beim Gang und Schweifen der Blicke durch die einzelnen Räume beim besten Willen nichts Besonderes, Verdächtiges auf, nichts, was ihm nicht auch schon am Tage des Auffindens seines Bruders ins Auge gefallen wäre. Lediglich die drei Fotos, die ganz offensichtlich Philipps Verlobte zeigen, sieht er nunmehr mit anderen Augen. Ihre Erotik wirkt heute noch intensiver auf ihn, wird geradezu körperlich spürbar. Mit den Augen des erfahrenen Fotografen, der sein Motiv analytisch Punkt für Punkt zu fassen, zu verstehen versucht, tastet er die Bilder ab, und so oft seine Blicke auch über den makellosen nackten Körper gleiten, sich an den wohlgeformten Brüsten und dem scharfgeschnittenen Dreieck der Schambehaarung festsaugen, so ist nichts, aber auch gar nichts von schwülstiger Lüsternheit darin zu erkennen, aus ihnen spricht einzig und allein die Bewunderung für die Schönheit dieses weiblichen Wesens und die Fähigkeit seines Bruders, es auf diese fast schon übersinnliche Art und Weise ins Bild zu setzen. Wer war sie, für die er seinen Bruder anfängt zu beneiden. Wo konnte er sie finden? Könnte sie ihm weiterhelfen?
„Wissen Sie, wer das Mädchen ist?“
Er hat Krüger nicht kommen hören, daher zuckt der Angesprochene leicht zusammen. „Soviel ich weiß, war sie Philipps Verlobte.“
„Eine verdammt schöne Frau. Haben Sie zwischenzeitlich mehr über sie herausgefunden, wie sie heißt und wo wir sie finden können?“
‚Haben die Nachbarn den Kriminalbeamten dahingehend keine Auskünfte gegeben?‘ „Ihr Name ist Jinda Bhirasri, mehr weiß ich leider auch nicht.“ ‚Warum bin ich eigentlich so skeptisch gegenüber der Polizei, warum die Furcht, ihnen etwas verraten zu können? Sie wollen dir doch nur helfen, das Schicksal deines Bruders aufklären.’ Claude versteht sich selbst nicht, eine innere Hemmung hindert ihn jedoch daran, den Beamten gegenüber mehr zu sagen als unbedingt nötig. „Kann ich nun in das Archiv meines Bruders?“
„Klar doch.“ Krüger bemüht sich, ihm gegenüber nett zu sein, ob aus reinem Mitgefühl oder weil er Claudes Ressentiments spürt, ist für den Fragesteller indes nicht erkennbar. Doch noch ehe sich seine aufkeimenden Gewissensbisse richtig breitmachen können, kommt des Hauptkommissars überraschende Mitteilung: „Wir sind hier soweit fertig, ich glaube nicht, dass wir noch etwas Sachdienliches finden. Daher halte ich es nicht für nötig, die Wohnung weiterhin zu versiegeln. Sie steht Ihnen somit zur freien Verfügung.“ Claude kann es kaum fassen, gestern und heute Morgen war er noch voller Unrast, ob seiner aufgezwungenen Untätigkeit schier geplatzt, und auf einmal räumt man ihm uneingeschränktes Handeln und Wandeln ein. „Wir halten Sie selbstverständlich auch weiterhin auf dem Laufenden, natürlich auch darüber, wann Ihr Bruder für die Beisetzung freigegeben wird. Lassen Sie es uns nur bitte wissen, falls Sie Ihre Adresse ändern."
Die nach dem Gehen der beiden Beamten eintretende Stille, das Alleinsein in dieser Wohnung drückt schwer auf Claudes Gemüt, der zunächst einen weiteren Rundgang durch die Räume unternimmt, in denen er noch immer den Geist seines Bruders zu spüren glaubt. Erst beim Blick durch die Balkontür fällt ihm auf, dass sich die Sonne bereits verdächtig den Dachfirsten der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite genähert hat, es somit Zeit für ihn wird, endlich das Archiv nach dem von Clemens angedeuteten Beweismaterial zu durchsuchen.
Da er seinem Bruder früher bei Besuchen in Mailand gelegentlich bei der Archivierung geholfen hat, kennt er das Ordnungssystem Philipps, der daran auch nichts verändert zu haben scheint, wie ihm schon nach wenigen Stichproben klar wird. Da Philipp sich ihm sonst aller Wahrscheinlichkeit viel früher anvertraut hätte, muss es sich um relativ neues Material handeln. ‚Nur gut, dass Philipp seine Arbeiten außer stichwortartig beziehungsweise themenmäßig auch chronologisch sortiert hat’, sinniert Claude beim Durchblättern der Dia- und Negativhüllen sowie der Fotomappen, die er systematisch durchschaut, um sich einen Überblick über die letzte Schaffensphase des Ermordeten zu verschaffen. Irgendetwas Brauchbares fördert seine Suche jedoch nicht zu Tage, nicht der kleinste Hinweis findet sich. Allmählich wird ihm klar, dass seine Sucherei wohl eigentlich überflüssig ist, denn sollte dieses Material tatsächlich etwas mit dem Mord zu tun haben, so dürfte es entweder von dem oder den Tätern mitgenommen oder aber von seinem Bruder an einem wirklich zugriffssicheren Ort aufbewahrt worden sein. Bei reiflicher Überlegung kommt Claude unter Berücksichtigung all dessen, was er bislang erfahren hat, immer mehr zu der Überzeugung, dass sein Bruder wahrscheinlich einen anderen Aufbewahrungsort gewählt haben dürfte - doch wo? Bei seiner Verlobten? Unwahrscheinlich, Philipp war nicht der Typ, der andere in etwas mit hineinzog. ‚Nur schade, dass diese Frau sich nicht meldet, zumindest musste sie doch von dem Mord erfahren haben, stand er doch, wenn auch ohne Foto und zumeist nur auf den hinteren Seiten, in nahezu allen regionalen Zeitungen’, grübelt er vor sich hin. Ein Bankschließfach oder etwas Ähnliches? Alles irgendwie zu simpel, zu einfallslos. Jetzt ist Claude gefordert: Wie gut kannte er seinen Bruder wirklich. Hatte er irgendeine Andeutung gemacht, wo pflegten sie in der Vergangenheit ihre vor anderen Augen geheim zu haltenden Dinge aufzubewahren, zu verstecken?
Sich den Kopf ob dieser Frage zermarternd durchstreicht Claude die Wohnung immer und immer wieder, in der Hoffnung, dass sich irgendein Hinweis finden möge, der ihm weiterhelfen könnte. Von den Wänden, den Möbeln, all dem Sammelsurium, das sein Bruder im Laufe seines abwechslungsreichen, von zahllosen Reisen geprägten Berufslebens zusammengetragen hat und das nunmehr Schränke, Vitrinen und Regale füllt, strahlt ihm nichtssagende Leere entgegen, die seine Ratlosigkeit nur noch steigert, ihn schier verzweifeln lässt. Ermattet vom erfolglosen Malträtieren seiner grauen Zellen, sinkt er schließlich in einen der Sessel im Wohnzimmer nieder, gönnt er sich zum ersten Mal seit er die schicksalsbehaftete Wohnung betreten hat eine gefühlsmäßige Pause, lässt sich ganz einfach hängen, die Augen geschlossen, versuchend, den allzu regen Geist allmählich auszublenden, wobei die Geräusche des Hauses und der Straße langsam aber sicher die Oberhand gewinnen, das noch immer Entsetzliche, Unbegreifliche wie mit einem narkotisierenden Schleier zudeckend. Doch noch ehe dieser unregelmäßig gewebte Geräuschteppich seine letzten geistigen Regungen zu schlucken vermag, quasi im Dreiviertelschlaf, durchzuckt ihn eine tief aus seiner schlaftrunkenen Gedankenwelt hervortauchende Idee, die ihn mit einem Schlag wieder hellwach macht. ‚Dass ich da nicht schon früher daran gedacht habe’, geht er mit sich selbst ins Gericht. Dass seine Gedanken durch den urplötzlich am anderen Ende des Tunnels auftauchenden Lichtblick erneut unter Koordinationsschwierigkeiten leiden, wird ihm erst bewusst, als er nach dem instinktiven Ergreifen des Telefonhörers und dem Wählen der sich ins Gedächtnis gerufenen Rufnummer gewahr wird, dass keinerlei Summ- oder Freischaltton zu vernehmen, die Leitung tot ist. Warum, darauf findet er zwar keine schlüssige Antwort, wundert sich aber auch nicht sonderlich darüber.
Auf ein vorbeifahrendes Taxi zu warten oder eines von den Nachbarn aus zu bestellen, erscheint ihm in diesem Augenblick zu kompliziert, zu nervtötend, und angesichts der vorgerückten Stunde als unpassend, zudem tut ihm ein wenig abendliche Frischluft gut. Die Fahrzeuge und Fußgänger, die auf dem Weg bis zu seinem Hotel an ihm vorbeigleiten und -huschen, nimmt er nur als uniforme Schattengestalten wahr, zu sehr hängt er gedanklich seinem neuen Hoffnungsträger hinterher. Aufgeregt wie ein Primaner vor einer entscheidenden Klassenarbeit, sucht er in seinen Jackentaschen nach seinem Zimmerschlüssel, den er, auch dies ein deutliches Zeichen seiner Erregtheit, ungewohnt ungelenk ins Schloss steckt. Das Zimmer betretend hastet er schnurstracks zum Telefon. Endlich. Hastig tippt er die Zahlen der Rufnummer, die er - um sich ihrer Richtigkeit zu vergewissern - auf dem Weg zum Hotel in seinem Adressenbuch nachgeschaut hat, nach dem Abheben des Hörers in den Telefonapparat. Den vom Tickern der Schaltzentrale erfüllten Sekunden, während derer die Verbindung hergestellt wird, folgen ebenso nervenzehrende, in denen der Hörer am anderen Ende der Leitung nicht abgehoben wird, so dass mit jedem Klingelton Claudes Hoffnung auf rasche Beantwortung der ihn peinigenden Frage Stück für Stück dahinschwindet. Kaum noch erwartet, ist sein Bemühen doch noch von Erfolg gekrönt.
„Ja, bitte“, schallt ihm eine verschlafene Stimme entgegen, „hier Thorwald.“
Der schlaftrunkene Klang lässt Claude auf den Wecker am Nachttisch blicken, wodurch sein schlechtes Gewissen wachgerufen wird. „Entschuldigen Sie bitte, Hochwürden, dass ich Sie so spät anrufe. Hier spricht Claude Duchamp.“
„Claude!“ Wie weggeblasen ist offensichtlich die Müdigkeit des Angerufenen, und auch wenn ihn Claude nicht sehen kann, so ist er sich ganz sicher, dass in diesem Augenblick zumindest ein freudiges Lächeln über das Antlitz seines Gesprächspartners huscht. „Mein Gott, wo steckst du? Warum hast du dich so lange nicht gerührt? Und überhaupt, seit wann bist du so förmlich, seit wann siezt du mich?“
Claudes schlechtes Gewissen wird durch Thorwalds Fragen nicht gerade gelindert. „Ach wissen Sie ... weißt du“, druckst er herum, „es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ich dachte mir, vielleicht bist du mir böse, zumal ich deine beiden Briefe nicht beantwortet habe, die du mir vor Monaten geschrieben hast. Aber du kennst mich ja, ich war schon immer ein Schreibmuffel.“
Auch ohne optischen Kontakt vermag sich Claude das stumme, verständnisvolle, verzeihende Lächeln des aus seinem ersten Schlaf Gerissenen vor Augen zu rufen, dazu kennen sich beide zu lange und zu gut. „Schön, dass du dich mal wieder meldest. Die vorgerückte Uhrzeit lässt mich allerdings vermuten, dass du einen ganz besonders triftigen Grund dafür hast. Oder hast du nur die Zeitdifferenz vergessen?“
Diese Worte sind für Claude ein weiterer Beleg dafür, wie vertraut er dem anderen ist, dieser allerdings gleichzeitig davon ausgeht, dass er ihn aus seiner neuen Wahlheimat aus anruft. „Ja, du hast recht, ich rufe dich tatsächlich aus einem ganz besonderen Grund an, allerdings nicht aus den Staaten, sondern von Frankfurt aus.“ Er lässt seinem Gesprächspartner ein paar Sekunden zum gedanklichen Verdauen, zur mentalen Neuorientierung. „Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, dass Philipp tot ist. Und genau...“
„Was? Was sagst du da? Philipp ist tot? Nein, davon weiß ich nichts! Wie ist das geschehen, wo, wann?“ Thorwalds Erregung mischt scharfe Unterklänge in die ansonsten so sanfte Stimme; kein Wort indes zum Standort des Anrufers.
„Er ist ermordet worden, letzten Donnerstag.“
„Ermordet? Philipp ermordet?“ Solange sie sich auch schon kennen, nie zuvor hat Claude den Geistlichen derart verwirrt, konsterniert gehört. Wie sehr ihn diese mitten in der Nacht so unvermutet übermittelte schreckliche Nachricht emotional getroffen hat, belegt das Schweigen, das zum Sammeln der Gedanken benötigt wird. „Das kann, das will ich einfach nicht glauben. Philipp hat doch nie jemandem etwas zuleide getan.“ ‚Das haben viele Opfer nicht’, kommentiert Claude diese Feststellung im Stillen für sich selbst. „Hat man den Täter schon?“
„Nein. Sei mir bitte nicht böse, wenn ich dir jetzt nicht die ganze Geschichte erzähle, auch wenn mein Anruf etwas mit Philipps Tod zu tun hat. Was ich wissen möchte, ist, ob du in den letzten paar Wochen einen Brief oder ein Päckchen von Philipp erhalten hast?“
„Nein, oder besser gesagt, ich weiß es nicht. Weißt du, ich war die letzten drei Wochen in der Bretagne und bin erst heute Nachmittag zurückgekommen. Daher habe ich noch keine Zeit gehabt, all meine Post durchzuschauen. Und eben aufgrund meiner Abwesenheit habe ich in letzter Zeit auch keine deutschen Zeitungen gelesen oder Nachrichten gehört. Wenn es für dich wichtig ist, schaue ich gleich einmal nach.“
„Es ist sogar sehr wichtig, sonst hätte ich dich auch nicht zu dieser Tageszeit gestört.“
„Gut, warte bitten einen Augenblick, ich gehe nachschauen.“
Von quälender Hoffnung geprägte Minuten verstreichen, während derer Claude endlich dazu kommt seine Jacke und Schuhe auszuziehen und sich eine Cola einzugießen, deren Kühlschrankfrische ihm belebend durch die Kehle rinnt.
„Claude, bist du dran?“
„Ja. Und?“
„Du hast recht gehabt, es ist tatsächlich ein Päckchen von Philipp während meiner Abwesenheit eingetroffen. Ich habe es hier vor mir liegen. Obendrauf ist ein Begleitschreiben geklebt. Soll ich es öffnen?“
„Natürlich. Lies es mir bitte vor.“ Claude hört das Rascheln am anderen Ende der Leitung, das ihm signalisiert, dass die Beantwortung seiner Frage kurz bevorsteht.
„Hörst du? Ich lese dir jetzt den Brief deines Bruders vor. ‚Lieber Julius, zunächst möchte ich mich bei dir entschuldigen, dass ich erst heute wieder von mir hören lasse. Auch wenn meine Entschuldigung abgedroschen klingt und unter guten Freunden eigentlich kein Argument sein dürfte, so kann ich zu meiner Verteidigung nur vorbringen, dass mich mein enger Terminplan in den letzten Monaten derart eingebunden hat, dass ich keine Zeit fand, mich eher bei dir zu melden. Und da wir stets ehrlich zueinander waren, möchte ich dir auch nichts vorflunkern, sondern dir offen eingestehen, dass ich mir heute nur deswegen Zeit für diese Zeilen nehme, weil ich mich möglicherweise in einer nicht ganz ungefährlichen Situation befinde, deren Ausgang ich derzeit nicht abschätzen kann. Ich habe dich mehrmals telefonisch zu erreichen versucht, doch warst du nie zu Hause. Daher schreibe ich dir nunmehr und möchte dich bitten, das mitgeschickte Päckchen bei dir aufzubewahren, bis entweder ich es selbst wieder abhole oder mein Bruder dies tut. Obwohl ich weiß, dass dies an und für sich unnötig ist, möchte ich dich bitten, das Päckchen nicht zu öffnen. Ich belaste dich nur äußerst ungern damit, doch bist du außer meinem Bruder die einzige Person, der ich uneingeschränkt vertraue. Pass gut auf dich auf, wobei ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Dein Philipp.’“
Klangen Philipps Zeilen nicht wie ein Abschied, trotz des am Schluss zum Ausdruck gebrachten Wunsches auf ein baldiges Wiedersehen? Wieder taumelt Claude, wie von einem wohlplatzierten Aufwärtshaken angeschlagen, durch die Wellentäler seiner Psyche, derer er bis vor wenigen Tagen so sicher zu sein glaubte, insbesondere nach jenem Lebensabschnitt, in dessen Mittelpunkt Isabel gestanden hatte. Da auch Thorwald schweigt, wahrscheinlich damit beschäftigt, das Schreiben ein zweites Mal durchzulesen, teilt Claude ihm seinen Entschluss mit: „Julius, wenn es dir nichts ausmacht, komme ich morgen zu dir.“
„Selbstverständlich. Ich freue mich, trotz des traurigen Anlasses. Kommst du mit dem Auto oder mit der Bahn?“
„Mit der Bahn. Sobald ich weiß, wann der Zug in Freiburg ist, rufe ich dich noch einmal an, okay?“
„Okay. Falls ich morgen früh außer Haus sein sollte, kannst du meiner Haushälterin Bescheid geben, die richtet es mir schon aus. Ich werde sie morgen jedenfalls dahingehend instruieren. Wahrscheinlich kommst du ja eh erst am Nachmittag.“
„Anzunehmen.“ Kurzes Schweigen beiderseits. „Dann will ich dich nicht weiter stören. Alles weitere morgen. Bis dann.“
„Bis dann, und ... Kopf hoch!“
„Klar doch.“ Claude bemüht sich überzeugend zu klingen, was ihm aber nicht so recht gelingen will, auch wenn ihm das Gespräch, so seine erste Analyse, offensichtlich weitergeholfen, möglicherweise sogar den entscheidenden Schlüssel für die Lösung des Falles geliefert hat. Noch aber wagt er nicht daran zu glauben, wie er sich eingestehen muss auch ein klein wenig aus Furcht, sein Bruder könnte in irgendeine unlautere, womöglich gar ungesetzliche Sache verstrickt sein, was er sich zwar an und für sich nicht erklären kann, doch wie verkündet es ein Werbeslogan beinahe täglich im Fernseher: Nichts ist unmöglich. Der morgige Tag wird Aufschluss darüber geben - hoffentlich.