Читать книгу Handover - Alexander Nadler - Страница 19

Dienstag, 29. April 1997, 9:14 Uhr

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„Hier wären wir.“ Den Mercedes sachte abbremsend zum Stehen bringend, verkündet der Taxifahrer mit diesen Worten das Ende der Fahrt. „Macht neun Mark zwanzig."

Claude kramt zehn Mark aus seinem Portemonnaie, die er dem Fahrer nach vorne reicht: „Passt so.“

„Danke schön, und noch einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“

„Ja, danke, Ihnen auch“, verabschiedet sich Claude aus dem Fond des Taxis steigend. ‚Mein Gott', schießt es ihm durch den Kopf, als er seine Aufmerksamkeit dem rehbraunen Ziegelsteinkomplex zuwendet, dessen abschreckend wirkendes Äußeres ihn an Fabrikhallen aus den zwanziger und dreißiger Jahren erinnert, ‚was für eine architektonische Geschmacklosigkeit, Unverschämtheit haben sie denn da wieder hingestellt. Das sieht ja aus wie ein Gefängnis.’ Eine Meisterleistung architektonischer Phantasie ist das neue Erlanger Polizeihauptquartier wahrlich nicht zu nennen, eher lässt sein derbes Äußeres vermuten, dass sein Planer mit diesem Entwurf eine noch offene Rechnung mit der Justiz begleichen wollte.

„Wo finde ich Kommissar Strelow?“, erkundigt er sich an der Pforte nach jenem Beamten, den ihm tags zuvor Krüger als Ansprechpartner hat mitteilen lassen.

„Zweiter Stock, Zimmer 204“, erhält Claude von dem Mann an der Pforte nach einem kurzen Blick in das alphabetische Verzeichnis die gewünschte Auskunft. Kurz dankend setzt er seinen Weg fort, orientiert sich im Hauptgebäude an den Hinweisschildern, die ihn mühelos zu dem ihm genannten Zimmer geleiten, neben dessen Tür das Namensschild des Gesuchten prangt. Nachdem sein Klopfen auch beim dritten Mal unbeantwortet bleibt, wendet er sich an einen großgewachsenen jungen Mann Anfang Dreißig, in dem er aufgrund des Aktenbündels, das er unter dem Arm trägt, einen im Hause Arbeitenden und somit Ortskundigen vermutet: „Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Kommissar Strelow finde? In seinem Zimmer ist er nicht, ich habe schon mehrfach geklopft.“

Trotz dieses Hinweises öffnet der Angesprochene die Tür zu Strelows Zimmer und überfliegt mit einem kurzen Blick den menschenleeren Raum. „Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber warten Sie einen Moment. He, Krause“, schreit er den Gang hinunter in Richtung einer sich langsam nähernden Gestalt, „weißt du, wo Strelow ist?“

„Strelow“, schallt es fragend hohl zurück. „Den habe ich vorhin weggehen sehen.“

„Weißt du, wohin?“

„Nein, keine Ahnung. Warum?“

„Hier ist ein Herr, der zu ihm will.“ Und sich an Claude wendend: „Haben Sie einen Termin?“

„Nein, nicht direkt. Ich bin gestern Abend aus Frankfurt gekommen. Einer ihrer Kollegen von dort, Herr Krüger, hat Herrn Strelow zwar von meinem heutigen Kommen unterrichtet, allerdings ohne konkrete Zeitangabe, da ich noch nicht wusste, ob ich schon gestern oder erst heute hierher kommen würde.“

„Hm, ... leider kann ich Ihnen auch nicht sagen, wann Strelow zurückkommt. Wenn Sie sonst nichts vorhaben, können Sie gerne warten.“

„Wird wohl das Beste sein. Schönen Dank auf jeden Fall auch.“

Besonders glücklich ist Claude über die in Aussicht stehende Warterei nicht, da er es jedoch versäumt hat, einen Termin zu vereinbaren, findet er sich mit dem Unvermeidlichen ab. Im Stillen indes ärgert er sich, dass er sich von Krüger nicht Strelows Telefonnummer hat geben lassen. Doch nun ist es zu spät.

Auf einem der Stühle vor Strelows Zimmer Platz nehmend, stellt er sich zum x-ten Mal seit seinem Gespräch mit Hauptkommissar Krüger die Frage, wie das Foto mit seinem Porträt in den Besitz des verunglückten Chinesen gekommen ist, dessen Person, das spürt er, in der Tat noch etliche Rätsel aufgeben dürfte. Antworten auf die ein oder andere Frage hofft er hier und heute zu finden. ‚Wenn nur Strelow endlich käme’, versucht er, alle paar Minuten einen Blick auf die Armbanduhr werfend, seiner Ungeduld Herr zu werden.

Doch scheint ihm das Schicksal an diesem Tage gewogen zu sein, denn kaum dass er fünfzehn Minuten gewartet hat, nähert sich ein etwas untersetzter Mittfünfziger mit stark gelichtetem silbergrauem Haar Zimmer 204, dessen Tür er zielstrebig öffnet und in das einzutreten er sich sodann anschickt.

„Entschuldigen Sie bitte“, wendet sich Claude im Aufstehen an den in Jeans und dunkelblaues Sakko Gekleideten, „sind Sie Herr Strelow?“

Mitten in der Tür stehen bleibend, dreht sich der Angesprochene um: „Ja.“

„Mein Name ist Duchamp, Claude Duchamp. Ich komme aus Frankfurt. Hauptkommissar Krüger hat Sie gestern von meinem Kommen verständigt.“

„Ah ja, richtig, Herr Duchamp. Kommen Sie herein“, fordert Strelow seinen Gast mit einladend ausgestrecktem Arm auf einzutreten, die andere Hand noch immer am Türgriff. „Haben Sie schon lange auf mich gewartet?“

„Eine Viertelstunde.“

„Tut mir leid, aber ich wusste nicht, wann Sie kommen, und ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Die Tür schließend, bietet er Claude einen leer stehenden Stuhl neben seinem Schreibtisch an, hinter dem sich Strelow selbst niederlässt. „Kollege Krüger hat mich gestern Nachmittag davon informiert, dass Sie kommen werden. Dabei hat er mir auch von Ihrem Fall, ich meine die Ermordung Ihres Bruders, und Ihrem gestrigen Gespräch mit ihm berichtet. Scheint ja eine recht merkwürdige Geschichte zu sein das Ganze.“

„Stimmt. Haben Sie zwischenzeitlich schon mehr herausbekommen, über das Unfallopfer meine ich, den Chinesen?“

„Offen gesagt, nein, allerdings habe ich seit dem letzten Anruf meines Kollegen nicht weiter nachgeforscht, da er mir signalisierte, dass Sie kommen würden und mir eventuell bei den weiteren Ermittlungen helfen könnten. Und ist Ihnen noch irgendetwas eingefallen, das ein Licht ins Dunkel bringen könnte?“

„Leider nein, zumindest nichts Konkretes, alles nur wirre Spekulationen. Ich denke, wir sollten zunächst einmal versuchen herauszufinden, wer dieser Wang Bing eigentlich genau war.“

„Richtig. Aus den Unterlagen, die ich mir gestern aus dem Einwohnermeldeamt und von der Universitätsverwaltung habe kommen lassen, geht hervor, dass er seit knapp eineinhalb Jahren in Erlangen gemeldet war und an der hiesigen Universität Germanistik und Betriebswirtschaftslehre studierte. Zwar habe ich dahingehend noch keine weiteren Nachforschungen angestellt, doch dürfte er entweder aus sehr wohlsituiertem Elternhaus oder aber aus einer politisch besonders linientreuen Familie stammen, denn er ist nicht von staatlicher Seite aus zum Studium nach Deutschland geschickt worden, sondern auf Einladung eines Herrn Sung Ning aus Frankfurt, der für ihn auch die Bürgschaft übernommen hat … und ihn möglicherweise finanziell unterstützt. Ich habe gestern Abend in Absprache mit meinem Kollegen in Frankfurt über das Auswärtige Amt Kontakt mit den Behörden in Shanghai aufzunehmen versucht, bislang von dort jedoch noch keine Antwort auf meine Anfrage erhalten. Schließlich müssen wir seine Eltern ausfindig machen. Ebenso hat sich Kollege Krüger mit Herrn Grunewald vom BKA in Verbindung zu setzen bemüht, doch habe ich noch keine Meldung darüber, ob ihm dies gelungen ist.“ Strelow stockt, bemüht sich offensichtlich, sich an etwas zu erinnern, was ihm nach wenigen Sekunden auch gelingt: „Ja richtig, der Wagen, ich meine das Unfallfahrzeug. Es war in Frankfurt zugelassen, und zwar auf Herrn Sung Ning. Wer dieser Herr ist, weiß ich noch nicht, nur dass er gleichfalls Chinese ist und allem Anschein nach schon eine ganze Weile in der Bundesrepublik lebt, sonst hätte er nämlich kaum als Bürge auftreten können. Mein Frankfurter Kollege will mir aber noch genauere Auskunft über ihn zukommen lassen. Ich glaube, das ist alles, was wir in diesem Fall bisher wissen. Wie gesagt, als ich erfuhr, dass Sie persönlich kommen werden, habe ich, da ich noch einen anderen brisanten Fall bearbeite, bislang keine weiteren Nachforschungen angestellt, denke aber, wir sollten dies nunmehr tun.“

„Gerne. Woran denken Sie dabei?“ Claude ist froh, aller Wahrscheinlichkeit nach in Kürze seinen Tatendrang befriedigen zu können.

„Wir müssen mehr über den Toten in Erfahrung bringen, seinen Freundes- und Bekanntenkreis, wer ein Motiv gehabt haben könnte, ihn zu ermorden, und nicht zuletzt, woher er die Pistole hatte und zu welchem Zweck er sie bei sich trug. Und natürlich, warum er Ihr Bild bei sich trug.“ Sich erhebend und den Stuhl unter den Schreibtisch schiebend, konkretisiert Strelow sein weiteres Vorgehen: „Als erstes möchte ich mich einmal im Studentenwohnheim umsehen, in dem er gewohnt hat. Vielleicht können uns die anderen Heimbewohner weiterhelfen.“ Und mit mahnendem Unterton an Claude gewandt: „Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Sie keine Alleingänge unternehmen.“ Krüger scheint ihn offensichtlich über Claudes Drang zu eigenmächtigen Nachforschungen in Kenntnis gesetzt zu haben. „Versprochen?“

„Versprochen.“ Es fällt Claude leicht einzuwilligen, schließlich muss er Strelow dankbar sein, dass ihn dieser überhaupt in die Ermittlungen mit einbezieht und nicht von vornherein ausschließt.

„Dann lassen Sie uns gehen.“ Claude ist mittlerweile ebenfalls aufgestanden und verlässt vor dem Kommissar den Raum. „Sind Sie mit Ihrem eigenen Wagen da?“, erkundigt sich der Kriminalbeamte, der bei Claude in den wenigen Minuten, die er ihn kennt, einen überaus vertrauenserweckenden und engagierten Gesamteindruck hinterlassen hat.

„Nein, ich bin mit dem Taxi gekommen.“

„Dann fahren Sie bei mir mit.“ Trotz ihrer Bestimmtheit klingt Strelows Stimme nicht gebieterisch, eher wohlwollend ordnend, den Eindruck vermittelnd, dass hier ein Mann spricht, der jederzeit Herr der Lage ist.

Die Fahrt in die Innenstadt nutzt der Kriminalbeamte, um sich mit weiteren Details des Falles vertraut zu machen. Die kurzen, prägnant gestellten Fragen lassen dessen jahrzehntelange Routine erkennen, sich in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen zu verschaffen. „Waren Sie schon einmal in Erlangen?“, weicht Strelow beim Passieren der innerstädtischen Fußgängerzone vom Thema ab.

„Nein.“

„Gar keine so schlechte Stadt. Abends ist zwar nicht allzu viel los, vor allem wenn man bedenkt, dass rund 20.000 Studenten hier studieren, andererseits macht sie ihr vieles Grün und ihre Fahrradfahrerfreundlichkeit irgendwie lebenswert. Und das Umland ist auch nicht ohne. Aber wir sind schon da. Das da drüben ist übrigens die Mensa.“ Das in einem dunklen Gelb gehaltene Gebäude liegt am Rande eines kleinen Platzes, der von geschotterten Wegen durchzogen wird, entlang derer in Reih und Glied hochaufragende Bäume stehen, unter denen wiederum Blumenrabatten für optisch belebende Farbkleckse sorgen. Vor einem recht nüchtern wirkenden viergeschossigen Plattenbau, an dessen Außenseiten sich auf jedem Stockwerk kleine Balkongalerien entlangziehen und der dank einigen Grüns ringsum ein wenig von seiner Hässlichkeit einbüßt, bringt Strelow den Wagen zum Stehen. Henkestraße, macht Claude nach dem Verlassen des Wagens über die Schulter blickend auf dem Straßenschild aus, während er dem zwei Schritte vorausgehenden Kriminalbeamten die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf folgt, neben der jener auf dem Klingelbord jenes Schildchen ausfindig zu machen versucht, das den Namen Wang Bing trägt, wobei er bereits nach wenigen Sekunden fündig wird. Gerade im Begriff die Klingel des mutmaßlichen Nachbarzimmers zu drücken, zeichnet sich hinter der Reliefglastür eine diffuse Schattengestalt ab, der sie wenige Augenblicke später von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.

„Entschuldigen Sie bitte“, fängt Strelow die junge Frau ab, deren Plateausohlen sie gut acht Zentimeter größer machen und deren weit, sehr weit nach oben gerutschter Rocksaum einen Blickfang für jedes Männerauge darstellt, „können Sie mir sagen, wo ich die Hausverwaltung finde?“

Das strohblonde lange Haar mit einem eleganten Schwung zur Seite werfend weist sie dem Fragenden den Weg zum rückwärtig gelegenen Nachbargebäude. Die Selbstsicherheit, mit der sie die Stufen hinuntergeht und die wenigen Schritte bis zur Straße zurücklegt, macht deutlich, dass sie um die Wirkung ihres Erscheinungsbildes weiß, weiß, dass die Augenpaare der beiden Männer sie in ihrem Rücken vom Scheitel bis zur Sohle musternd abtasten.

„Warten Sie hier, ich versuche den Hausmeister ausfindig zu machen“, ergreift Strelow die Initiative und verschwindet kurz darauf hinter dem Gebäude, woraufhin sich Claude auf der Treppe niederlässt, die Rückkehr des anderen abwartend, der wenige Minuten später in Begleitung eines in einen grauen Arbeitsoverall gekleideten Herren Ende Vierzig zurückkehrt.

„Ich habe Herrn Baumeister gebeten, uns das Zimmer von Herrn Wang aufzusperren“, erläutert Strelow die weitere Marschroute, Claude kaum Zeit lassend sich dem Hausmeister vorzustellen, der flinken Schrittes die Treppe zum zweiten Obergeschoß hinaufsteigt, in dem das gesuchte Domizil sich befindet. An seinem Schlüsselbund nestelnd sucht der Herbeigeholte nach dem passenden Schlüssel, mit dem er schließlich öffnet. Claude weiß zwar selbst nicht, was er in dem Zimmer vorzufinden hofft, spürt jedoch, wie die sich zuvor merklich aufbauende Anspannung beim ersten Blick in diese offensichtlich ganz normale Studentenbude sich schubweise wieder verflüchtigt. Während der Kommissar den Hausmeister mit dem Hinweis entlässt, ihn nach Beendigung der Inspektion wieder zu rufen, woraufhin dieser im Treppenhaus verschwindet, nimmt Claude eine erste optische Bestandsaufnahme des Inventars vor. Rechts vom Eingang ein zum Bett umfunktionierbares Sofa, darüber ein langes Hängeregal voller Bücher und diversem Schnickschnack, am gegenüberliegenden Ende eine Tür, die zu einem kleinen Balkon führt und neben der ein fest installiertes Arbeitsbrett den Platz unter dem sich anschließenden Fenster bis zur linken Zimmerwand füllt, an der ein Kleiderschrank steht, und gleich zur Linken der Zimmertür ein Waschbecken mit Spiegel darüber. Des Weiteren registriert er noch zwei Stühle und einige Zimmerpflanzen, die dem Anschein nach längere Zeit nicht mehr gegossen worden sind, lassen sie ihre Blätter doch schlapp darnieder hängen, wenn sie nicht gar schon gelb geworden sind, wodurch sich ihr trostloses Erscheinungsbild noch verschärft.

„Schauen Sie sich ruhig um“, trägt Strelow seinen musternden Blicken Rechnung, „aber fassen Sie bitte nichts an!“

Claude schmerzt der Anblick der darbenden Grünpflanzen, wagt es allerdings nicht, um Erlaubnis zum Gießen zu bitten, stattdessen lässt er seine Augen über die Bücherrücken auf dem Regal wandern, deren einzelne Titel zu bestätigen scheinen, dass der Zimmerbewohner tatsächlich dem Studium der Fächer nachgegangen ist, in denen er eingeschrieben war. Chinesische Schriftzeichen zieren einzelne der Bücherrücken, den Betrachter angesichts dessen, dass er dieser Sprache nicht mächtig ist, darüber im Unklaren lassend, ob es sich dabei gleichfalls um Fach- oder anderweitige Literatur handelt. Erst beim zweiten Rundumblick wird Claude klar, was ihm im Unterbewusstsein zwar schon beim ersten aufgefallen war, er indes gedanklich nicht artikulieren konnte: Das Fehlen jeglichen Bilderschmucks. Weder findet sich ein Poster an den Wänden, wie dies in der Mehrzahl studentischer Wohnungen der Fall ist, noch ziert irgendein anderes Bild die ehemals weißen, nunmehr leicht angegrauten Wände, die ihren schmuddeligen Touch unzweifelhaft dem Nikotinqualm zu verdanken haben, der trotz gekippten Oberlichtes über dem Fenster jeder Faser des Vorhanges und den anderen Textilien im Raum mit abgestandener Kälte und Penetranz entströmt und dadurch Claudes Unbehagen zusätzlich steigert. Und von irgendeinem Foto, das Familie, Geschwister, Freunde oder Freundin zeigen würde, kann schon gar nicht die Rede sein. ‚Entweder ein totaler, introvertierter Einzelgänger, oder jemand, der darauf bedacht ist, möglichst wenig Anhaltspunkte bezüglich seiner Person zu liefern’, so Claudes erstes Resümee. Von einer Ecke des Raumes in die andere gehend, stets bemüht dem Kriminalbeamten nicht im Weg zu stehen, beobachtet er diesen, wie er mal hier, mal dort etwas genauer unter die Lupe nimmt, den Schrank einer genaueren Inspektion unterzieht, unter das Sofa schaut und zum Abschluss einen Blick in den kleinen Kühlschrank wirft, der neben dem Waschbecken auf einer rund vierzig Zentimeter hohen Konsole steht und in dem sich außer etlichen Getränkedosen kaum etwas befindet.

„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“, beendet Strelow seine still und routinemäßig durchgezogene Inspektion.

„Eigentlich nicht“, zieht Claude Bilanz, seine Gedanken zum Persönlichkeitsbild des Zimmerbewohners für sich behaltend, wobei Strelows Reaktion nicht erkennen lässt, ob er sich seiner stillen Analyse anschließen würde oder nicht.

„Mal schauen, ob von den Zimmernachbarn jemand da ist. Vielleicht können die uns weiterhelfen.“ Strelows Klopfen an der Zimmertür zur Rechten bleibt erfolglos, ebenso seine derartigen Bemühungen direkt links neben Wang Bings Zimmer, erst bei demjenigen daneben öffnet sich nach zweimaligem Versuch die Tür, in deren Rahmen ein unrasiertes, von wilden schwarzen Locken umrahmtes Männergesicht sichtbar wird, dem der Schlaf noch in die Augen geschrieben steht und aus dessen Mund sich ein gequältes, schlaftrunkenes: „Ja, bitte, was wollen Sie?“ entringt.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe“, scheint es Strelow peinlich zu sein, den jungen Mann, der ihm nur mit einer Unterhose bekleidet gegenübersteht, aus dem Schlaf gerissen zu haben, „mein Name ist Strelow, ich komme von der Kriminalpolizei und hätte eine paar Fragen an Sie. Nein, nein, keine Angst", reagiert er auf die sich schockartig weitenden Augen des so unvermittelt Überfallenen, „es geht dabei nicht um Sie, sondern um Ihren Zimmernachbarn, Herrn Wang Bing.“

„Ach so. Warten Sie einen Augenblick, ich ziehe mir nur rasch etwas an.“

„Lassen Sie sich Zeit“, ruft ihm der Kommissar durch die einen Spalt offen stehende Tür hinterher. Viel davon braucht der unsanft aus dem Schlaf Gerissene indes nicht, erscheint vielmehr kaum eine Minute später angezogen und flüchtig gekämmt bereits wieder.

„Was ist mit Wang?“, wendet er sich an Strelow.

„Herr Wang ist tot. Er ist am Wochenende bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen“, legt der Kriminalbeamte noch nicht alle Karten auf den Tisch.

„Was?“ Falls bis zu diesem Augenblick noch Restspuren von Schläfrigkeit im Körper des jungen Mannes gesteckt haben sollten, so werden sie durch das Vernommene mit einem Schlag und endgültig getilgt. Ungläubiges Entsetzen füllt das Gesicht, das in diesem Augenblick aussieht wie aus Stein gemeißelt, der Schock spannt und strafft alle Muskeln, wodurch erst die ganze Athletik des vor ihnen stehenden Mannes deutlich wird, dem es nicht leichtfällt, das Gehörte zu verarbeiten.

Dass Strelow trotz seiner vielen Dienstjahre und alle dem, was er in ihnen an mitunter Unmenschlichem erlebt hat, Mensch geblieben ist, verraten Claude die Sekunden, die dieser dem fassungslos vor ihm Stehenden zur Verarbeitung, Verdauung des Gehörten zugesteht. „Aus Ihrer Reaktion glaube ich schließen zu dürfen, dass Sie Herrn Wang recht gut kannten. Stimmt das?“

„Gut, nun ja, wie man sich als Zimmernachbar halt so kennt. Wir haben ab und zu miteinander gegessen, das heißt er hat mich eingeladen, denn er kocht ... kochte ganz gut Chinesisch. Dabei haben wir dann über so allerlei geplaudert, wobei er mir so einiges über China erzählt hat. Aber sollten wir nicht lieber reingehen“, lädt er Strelow und Claude zum Betreten seines Zimmers ein, wo er flugs ein paar Bücher von einem der beiden Stühle räumt, die er ihnen anbietet.

„Hat er Ihnen auch von seiner Familie erzählt?", greift der Kommissar sodann den Gesprächsfaden wieder auf.

Der junge Mann, der sich aus Mangel an weiteren Sitzgelegenheiten auf dem Bett niedergelassen hat, denkt einige Sekunden nach: „Eigentlich nicht viel. Seine Eltern leben in Shanghai, und soviel ich weiß, hat er noch eine Schwester, die aber woanders wohnt, wo allerdings weiß ich nicht mehr, den Namen des Ortes habe ich mir nicht merken können. Sein Vater ist irgendwie in der Stadtregierung tätig oder so, aber Wang hat nie viel darüber gesprochen.“

„Was war er denn für ein Typ? Umgänglich? Zurückgezogen? Und kennen Sie sonst irgendwelche Freunde von ihm?“

Letztere Fragen scheinen den Befragten, der den ersten Schock verarbeitet hat, stutzig gemacht zu haben: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie das frage, aber Sie sagten, er sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, stimmt’s?“

„Richtig.“

„Und Sie selbst sind von der Kriminalpolizei?“ Mit wortlosem Nicken beantwortet Strelow die an ihn gerichtete Frage. „Das verstehe ich nicht so ganz, ich meine, warum kümmert sich nicht die Verkehrspolizei um die Angelegenheit?“, bringt der Student seine Verwirrung zum Ausdruck.

Strelow hält den Zeitpunkt für gekommen, dem vor ihm Sitzenden reinen Wein einzuschenken: „Es war kein normaler Verkehrsunfall. Um genau zu sein, die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass auf den Wagen, den Herr Wang gefahren hat, geschossen wurde.“

„Sie meinen, es handelt sich um Mord, wenn ich Sie recht verstehe?“ Kaum waren die Spuren der ersten Schreckensnachricht einigermaßen aus dem Antlitz des jungen Mannes gewichen, lassen Wellen fröstelnden Schauerns dieses erneut erstarren. ‚Was für ein Job’, schießt es Claude bei der Beobachtung der Szene durch den Kopf, ‚Menschen beinahe täglich auf fast schon brutal zu nennende Art und Weise mit Gegebenheiten zu konfrontieren, ihnen lebenseinschneidende Hiobsbotschaften übermitteln zu müssen, an denen sie möglicherweise zerbrechen.’ Zwar spricht nichts dafür, dass dies auch in diesem Fall geschehen könnte, dennoch ist deutlich spürbar, welche Betroffenheit die Worte des Kommissars bei dem Studenten ausgelöst haben, und da dieser noch mit der Koordinierung seiner Gedanken beschäftigt zu sein scheint, nutzt der Kriminalbeamte sogleich die Gelegenheit, ihm in groben Zügen die weiteren für den Fall relevanten Fakten vorzutragen, aus denen man sich bislang keinen Reim machen könne.

„Wissen Sie zufällig, ob Herr Wang irgendwelche Verwandte hier in der Bundesrepublik besaß?“, geht Strelow von der Darlegung der Fakten direkt zur weiteren Befragung über.

„Nein, zumindest hat er mir gegenüber nie jemanden erwähnt. Es kamen zwar gelegentlich Landsleute von ihm vorbei, das waren aber meines Wissens alles auch nur Studenten. Nein, halt, stimmt nicht ganz, ein etwas älterer Chinese hat ihn mehrmals besucht, immer abends.“

„Können Sie sich an den Mann noch erinnern? Wie alt war er, wie groß?“

„Wie groß? Ziemlich klein, einen Meter fünfundsechzig schätze ich. Und wie alt? Schwer zu sagen, Asiaten sind so schwer zu schätzen... Na ja, vielleicht Anfang Fünfzig, aber wie gesagt, ohne Gewähr.“

„Würden Sie ihn wiedererkennen?“

„Ja, ich denke schon.“

„Und die anderen, was wissen Sie von denen?“

„Nicht sehr viel. Einer heißt Zhang und ist ... war Kommilitone von Wang. Wir drei haben einmal zusammen zu Abend gegessen. Die beiden hatten anlässlich irgendeines chinesischen Feiertages Chinesisch gekocht. Der war im Vergleich zu den anderen relativ häufig da, wenn Wang zu Hause war.“

Der Ton der letzten Bemerkung veranlasst Strelow zu folgender Frage: „War er denn oft weg?“

„Ja, manchmal zwei Wochen und mehr. Als ich ihn einmal deswegen ansprach, meinte er, er müsse Geld verdienen, um sein Studium zu finanzieren, daher jobbe er manchmal auch woanders, weiter weg, so dass es sich nicht lohne, jeden Tag nach Hause zu fahren.“

„Wo das war, wissen Sie nicht zufällig?“

„Nein, keine Ahnung. Ich habe ihn nicht gefragt, und er hat mir nichts gesagt.“

„Und die anderen chinesischen Bekannten, die Herrn Wang besucht haben? Was wissen Sie von ihnen?“

„Die scheinen nicht hier in Erlangen zu wohnen. Einmal habe ich Wang nämlich mit zweien von ihnen zufällig in einem Auto mit Münchner Nummer wegfahren sehen.“

„Wie oft kamen die zu ihm zu Besuch?“

„Keine Ahnung, auf so etwas passe ich nicht auf.“ Mit seiner Antwort offensichtlich selbst nicht zufrieden, nimmt sich der junge Mann Zeit, zählt im Stillen nach: „Dreimal, wenn ich mich recht entsinne...“ Noch einmal überfliegt er seine Hochrechnung: „Ja, Wang war jetzt drei Semester hier, und sie kamen so etwa jedes halbe Jahr einmal bei ihm vorbei, wobei sie das eine Mal ganz schön einen draufgemacht haben. Zum Glück war es in den Semesterferien, da war kaum einer im Haus, ansonsten hätte es wahrscheinlich Beschwerden gehagelt.“

„Und sonst, wer kam sonst noch zu ihm zu Besuch?“

„Drei, vier andere Chinesen, gelegentlich aber auch der eine oder andere Studienkollege, die ich aber nur habe rein- und rausgehen sehen.“

„Waren darunter auch Frauen?“

Einige Sekunden des Nachdenkens verstreichen. „Nein, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.“

„Fällt Ihnen sonst noch etwas zur Person von Herrn Wang ein?“

„Na ja, ... ich persönlich kam gut mit ihm aus, und die anderen hier im Haus denke ich auch. Bis auf das eine Mal, wo es wirklich hoch herging, war er eher ein ruhiger Typ, der wusste, was er wollte. Er war so eine richtige Arbeitsbiene, genauso wie man sich Chinesen halt vorstellt. Der hat bis frühmorgens die Nacht durch studiert, weil es da ruhiger ist, meinte er. Dafür hat er dann tagsüber gepennt, wenn er keine Vorlesungen hatte. Ansonsten... Haben Sie sein Zimmer schon gesehen?“ Ein Blick auf Strelow bestätigt, dass dies der Fall ist. „Dann haben Sie ja gesehen: er lebte recht bescheiden, leistete sich keine Extravaganzen, was er, so vermute ich, angesichts seiner finanziellen Lage auch gar nicht konnte.“

Strelow lässt dem jungen Mann, den das Namensschild an der Eingangstür als Peter Dörfler ausweist, noch eine Weile Zeit, um seine Gedanken zu durchforsten und so eventuell noch auf etwas zu stoßen, das von Relevanz sein könnte. „Sagen Sie mir“, beendet er schließlich die allem Anschein nach ergebnislosen Bemühungen, „wissen Sie, ob Herr Wang eine Waffe besaß? Wir haben nämlich eine bei ihm gefunden. Haben Sie irgendwann einmal eine solche bei ihm gesehen, oder hat er sie Ihnen gegenüber erwähnt?"

„Nein, um Gottes Willen, Wang war gar nicht der Typ für so etwas … hätte ich zumindest gedacht. Ich habe ihn eher für einen Pazifisten gehalten, aber Sie sehen, so kann man sich täuschen.“

„Der Schein trügt oft, glauben Sie mir“, bemüht sich Strelow den mit seiner Urteilsfähigkeit Hadernden wieder ein wenig aufzubauen, „wenn Sie wüssten, wie oft ich mich in Menschen getäuscht habe, und trotz meiner Erfahrung bis heute nicht dagegen gefeit bin. Den klassischen Gauner- und Verbrechertypen gibt es nicht, dann wäre die Sache ja zu einfach und wir bald arbeitslos.“ Das leicht um die Mundwinkel spielende Lächeln lockert die Situation auf, nimmt ihr ein wenig von der Brisanz, die hinter diesen Worten versteckt liegt, ohne dass dadurch indes die Irritation in den Augen des Studenten abgebaut werden könnte.

„Soll das heißen, dass Wang in irgendwelche krummen Machenschaften verstrickt gewesen ist?“ Dörflers Stimme vibriert ungläubig, wobei seine Augen zwischen Strelow und Claude hin- und herfliegen.

„Auszuschließen ist es nicht. Was uns vor allem zu schaffen macht, ist der Umstand, dass die Seriennummer entfernt wurde, was doch sehr profimäßig anmutet. Zudem besaß Herr Wang keinen Waffenschein … Umstände, die nicht gerade für ihn sprechen. Und last but not least: Wer bringt schon einen harmlosen Studenten um.“

Claude hat Dörfler die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, so dass er beinahe Mitleid mit dem jungen Mann verspürt, der ob des Gehörten erst seine Gedanken neu ordnen muss, wozu ihm der Kriminalbeamte allerdings kaum Gelegenheit lässt: „Dann wäre da noch etwas, worauf wir bislang noch keine Antwort gefunden haben. Wie kommt das Bild von Herrn Duchamp", Strelow deutet auf Claude, „in den Besitz von Herrn Wang? Wie uns Herr Duchamp versichert hat, ist er Herrn Wang nie begegnet, geschweige denn, dass er ihm ein Foto von sich gegeben hätte.“

„Ach, Sie sind gar nicht Kriminalbeamter?“, resümiert Dörfler - Claude oberflächlich musternd - den letzten Hinweis.

„Nein“, ergreift erstmalig Claude das Wort, wobei er, einer spontanen Idee folgend, seine Brieftasche aus seiner Weste zieht, der er eine Aufnahme seines ermordeten Bruders entnimmt und diese dem Studenten entgegen hält: „Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“

„Darf ich“, bittet der Gefragte darum, das Bild zwecks näherer Betrachtung in die Hand nehmen zu dürfen. „Nein, ... ist das Ihr Bruder? Er sieht Ihnen irgendwie ähnlich.“

Claude nimmt das Bild wieder an sich: „Ja, das war mein Bruder.“

Die Vergangenheitsform und die nicht zu überhörende Trauer in der Stimme seines Gegenübers entgehen Dörfler nicht: „Ist er tot?“

„Ja“, gibt sich Claude kurz angebunden. Zu weiteren Ausführungen sieht er sich indes nicht veranlasst. Dass seine vage Idee, Philipp könnte irgendwann einmal zusammen hier mit Wang aufgetaucht sein, zumindest von Seiten des jungen Mannes keine Bestätigung findet, erleichtert ihn einerseits, andererseits müssen die beiden nach dem derzeitigen Stand der Untersuchungen in irgendeiner Beziehung zueinander gestanden haben - und die Frage, wie Wang an sein Bild gekommen ist, bleibt damit gleichfalls weiterhin in Rätsel.

Da das Informationspotential des jungen Studenten offensichtlich ausgeschöpft ist, erhebt sich Strelow mit einer letzten Frage: „Wissen Sie, mit wem Herr Wang im Hause sonst noch befreundet war, wer uns in dieser Angelegenheit eventuell weiterhelfen könnte?“

„Mit Sabine hat er sich ganz gut verstanden. Sie hat ihm gelegentlich beim Studium geholfen, sie studiert nämlich ebenfalls Germanistik, ist allerdings schon ein paar Semester weiter. Und bei Rolf hat er ab und zu einmal um Rat in BWL nachgefragt.“

„Wo finde ich die beiden denn?“

„Sabine wohnt um die Ecke im Flur hinten links, Rolf ein Stockwerk höher, Zimmer 304.“

„Können Sie mir noch ihre Familiennamen sagen?“

„Sabine Lochner und Rolf Hirsemann.“

„Vielen Dank, Herr Dörfler, Sie haben mir sehr geholfen, und entschuldigen Sie nochmals, dass wir Sie gestört haben“, verabschiedet sich Strelow auch im Namen von Claude, an den er sich im Flur wendet: „Mal schauen, ob die beiden da sind.“

Das Klopfen an Sabine Lochners Zimmertür bleibt unbeantwortet, so dass die beiden ihr Glück ein Stockwerk höher versuchen, mit demselben negativen Resultat, was Claude ein bisschen missmutig stimmt, da er die gerade ganz gut angelaufenen Recherchen bereits wieder ins Stocken geraten sieht. „Noch sind Semesterferien“, kommentiert Strelow ihre Erfolgslosigkeit. „Ich denke, wir sollten seinen Landsmann, Herrn Zhang, ausfindig zu machen versuchen, meinen Sie nicht auch“, bemüht er sich, Claude das Gefühl zu geben, nicht nur am Gängelband mitgeschleift zu werden. „Versuchen wir unser Glück bei der Universitätsverwaltung. So viele Zhangs wird es in Erlangen ja wohl nicht geben.“

Unmittelbar im Stadtzentrum in einer kleinen Seitenstraße gelegen, untergebracht in einem alten, hübsch restaurierten Gebäude, empfängt sie der Eingangsbereich der Universitätsverwaltung mit jenem wuseligen Gewirr junger Menschen, das Claude noch aus seinen eigenen Hochschultagen kennt, wenn es darum geht, wenige Tage vor Semesterbeginn die letzten Studienformalitäten zu erledigen. Große und kleine, hellhäutige und dunkelhäutige, gelassen heitere und ein wenig finster, verärgert dreinblickende Personen vermischen sich an diesem Ort, alle noch recht jung, voller Erwartungen an die Zukunft, und alle friedlich, ein buntes Völkergemisch darstellend, quasi ein Archetyp dafür, wie es auf der Welt auch zugehen könnte, wie Menschen, ganz gleich welcher Rasse oder Nation sie angehören, in Frieden miteinander leben können und wollen, angespornt von dem Gedanken, der Idee einer besseren Welt, in der das sich ergänzende Miteinander, nicht das sich gegenseitig ausstechende Konkurrenzdenken das Leitbild darstellt. ‚Schön wäre es’, sinniert Claude, genau wissend, dass am Ende, wenn diese jungen Menschen ihr vielfach mit großem Enthusiasmus angetretenes Studium werden abgeschlossen haben, sie die zu wenig Hoffnung und Optimismus Anlass gebende Realität eingeholt haben und spätestens dann mit brutaler Grausamkeit zuschlagen wird, wenn es darum geht, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, spätestens dann werden bei nahezu allen von ihnen Prinzipien, Moral und Ideale in den Hintergrund zu treten haben, aus purem Überlebenswillen, wenn nicht aus schlimmeren Beweggründen heraus.

„Da wären wir ja schon“, reißt ihn der Kommissar aus dem sich düster vor seinen Augen aufbauenden Zukunftsszenario, dem entgegenzusteuern er auch nach dem Todes seines Bruders sich bemühen wird, so sein Vorsatz. Mit wenigen Worten erklärt Strelow der Dame hinter dem Schalter, worum es geht, bittet sie, in der Datei Zhangs Adresse ausfindig zu machen.

„Wir haben hier dreimal Zhang“, kommt nach kurzem Warten die erste Meldung. „Zhang Wen, Philosophie, Sinologie und Geographie ... das dürfte nicht Ihr Mann sein. Dann habe ich hier Zhang Jing, Germanistik, Anglistik und Vergleichende Sprachwissenschaften ... scheint auch nicht der Gesuchte zu sein. Und schließlich noch Zhang Bao, Germanistik und Betriebswirtschaftslehre, 4. Semester ... das dürfte er sein."

„Könnten Sie mir bitte seine Adresse aufschreiben?“ Was die Dame unverzüglich tut. „Vielen Dank“, nimmt Strelow ihr den Zettel aus der Hand, leise vorlesend: „Zhang Bao, Haagstraße 17, Erlangen. Na also. Dann wollen wir unser Glück da einmal versuchen.“

Bedingt durch die zahlreichen Einbahnstraßen im innerstädtischen Bereich, lernt Claude aufgrund des zu fahrenden Umweges die alte Hugenottenstadt besser kennen, findet bestätigt, was ihm Strelow bezüglich des vielen Grüns gesagt hat, das durch seine frühlingshaft frische Saftigkeit seinen positiven Eindruck noch verstärkt, zumal es die Sonne an diesem Tag gut meint und alles in ein nur von einzelnen dünnen Wölkchen zart verschleiertes Licht taucht, wodurch Claudes photographische Instinkte geweckt werden und er Dutzende fotogener Motive und Perspektiven ausmacht, obgleich die Fahrt kaum fünf Minuten dauert.

Die Reihen der Namensschilder neben den dazugehörigen Klingelknöpfen durchgehend, sucht der Kommissar nach dem Namen von Wangs Kommilitonen, bis er ihn schließlich in der dritten Reihe ausfindig macht. „Zimmer 110“, lässt er verlauten, gleichzeitig den entsprechenden Knopf mehrfach drückend.

„Ja, bitte, wer ist da?“, schallt es nach dem dritten Versuch aus der Gegensprechanlage entgegen.

„Herr Zhang Bao?“, erkundigt sich Strelow sicherheitshalber bei dem unsichtbaren Antwortgeber.

„Ja. Wer spricht bitte?“

„Ich bin Kommissar Strelow. Ich möchte Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Würden Sie mich bitte hineinlassen.“ Leises Sirren gibt die elektronische Türverriegelung frei, so dass Strelow und Claude das Haus betreten können, in dessen erstem Stock sie der junge Chinese Mitte zwanzig an der Flurtür erwartet.

„Guten Tag“, empfängt er sie höflich und mit akzentfreiem Deutsch, „Sie sind Herr Schelow?“, wendet er sich an den vorausgegangenen Kommissar.

„Strelow“, korrigiert ihn dieser, die zum Gruß entgegengestreckte Hand schüttelnd. „Und dies ist Herr Duchamp“, stellt er Claude dem schmächtigen Asiaten ohne weitergehende Angaben zur Person vor.

„Guten Tag, Herr Duchamp“, begrüßt Zhang Claude mit asiatischer Höflichkeit, will meinen, einer wohldosierten Verbeugung. „Doch bitte, kommen Sie weiter“, dirigiert er sie in sein Zimmer, das kaum weniger spartanisch eingerichtet ist als dasjenige von Wang Bing und darüber hinaus sogar noch ein Stück kleiner als jenes ist, wobei es im Vergleich dazu weniger aufgeräumt ist, das Bett ungemacht herumliegt und Bücher, Schreibutensilien und anderer Krimskrams sich wild im Zimmer verstreuen. „Warten Sie bitte einen Moment, ich hole nur rasch noch einen Stuhl aus dem Fernsehraum.“ Claude bleibt kaum Zeit, sich einmal richtig im Zimmer umzusehen, ehe der quirlig wirkende junge Mann mit der versprochenen Sitzgelegenheit zurückkehrt und die Zimmertür hinter sich schließt.

Während er sie auffordert Platz zu nehmen, schwirren Herrn Zhangs Blicke nervös und verunsichert zwischen Claude und dem Kriminalbeamten hin und her, was Strelow zum Anlass nimmt, ihm zunächst einmal die Furcht zu nehmen: „Keine Angst, Herr Zhang, wir kommen nicht Ihretwegen, sondern wegen Herrn Wang, Herrn Wang Bing. Er ist doch ein Kommilitone und Freund von Ihnen, nicht wahr?“

„Wang Bing? Ja, wir studieren zusammen Germanistik und BWL. Er ist zwar ein Semester hinter mir, aber wir besuchen einige Vorlesungen und Seminare gemeinsam. Was ist mit ihm?“

„Gleich. Zunächst noch eine Frage: Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“

„Wann ich ihn zum letzten Mal gesehen habe?“ Mit der Wiederholung der an ihn gerichteten Frage versucht der junge Chinese, dessen dichtes schwarzes Haar aussieht, als sei es nur mit Mühe zu bändigen, ein wenig Zeit zum Nachdenken und zur Einschätzung der Frage zu gewinnen, aus der er sich noch keinen Reim machen kann. „Das ist schon eine Weile her, während der Semesterferien sehen wir uns nicht so oft, vor allem weil Bing in den Ferien immer arbeitet. Irgendwann Anfang April war ich das letzte Mal bei ihm. Aber warum fragen Sie mich das? Ist ihm etwas zugestoßen?“

Wieder fällt Strelow die lästige, ungeliebte Pflicht zu, schlechte Nachricht überbringen zu müssen: „Ja ... Ihr Freund ist tot.“ Die schmalen Augenschlitze des Chinesen weiten sich zu kaum für möglich gehaltener Weite, der eher schüchterne Blick, der es bis zu diesem Augenblick tunlichst vermieden hat, den beiden Fremden direkt in die Augen zu schauen, starrt mit einem Schlag den Kommissar unvermittelt an, wobei aufsteigender feuchter Glanz die schwarzen Pupillen noch dunkler erscheinen lässt als sie ohnehin sind. „Er kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, allerdings bei keinem gewöhnlichen.“ Wortlos, aufmerksam bis in die Haarspitzen, lauscht Herr Zhang den folgenden Ausführungen des Kommissars, dessen Worte mit den Augen geradezu aufsaugend, wobei er mit seinen Fingern nervös an seinen Hosenbeinen herumzupft, sich dadurch ein Ventil für seine unübersehbare Anspannung verschaffend. „Das wäre alles, was wir bislang von Ihrem Freund wissen“, schließt Strelow seine Ausführungen, „aber vielleicht können Sie uns ja noch etwas erzählen.“

Ungläubig: „Ich? Was wollen Sie wissen? … Fragen Sie mich.“

„Wussten Sie, dass Herr Wang eine Waffe besaß?“

„Nein, ich habe nie eine bei ihm gesehen, und er hat auch nie eine erwähnt. Durfte er denn überhaupt eine besitzen?“

„Nein, das ist ja das Problem. Ich weiß, die Frage mag Sie überraschen, möglicherweise sogar unsinnig erscheinen. Trotzdem: Können Sie sich vorstellen, dass Herr Wang in irgendwelche illegalen Geschäfte verwickelt war?“

Unfähig länger sitzen zu bleiben, müht sich der schmächtige, fast zierlich zu nennende Chinese, den Raum mit weitausholendem Schritt durchmessend, seiner Gedanken Herr zu werden: „Bing, ... nein, ... nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Kennen Sie seine anderen chinesischen Freunde?“

„Ja, ich bin ihnen gelegentlich begegnet, letztes Jahr beim Chinesischen Neujahrsfest haben wir sogar einmal die ganze Nacht durch zusammen gefeiert.“

„Wissen Sie, wo sie wohnen?“

„Zwei von ihnen studieren in München, einer in Marburg, und einer in Hamburg.“

„Kennen Sie ihre Namen?“ An und für sich eine überflüssige Frage.

„"Selbstverständlich. Soll ich sie Ihnen aufschreiben?“

„Das wäre sehr nett.“ Noch ehe Herr Zhang anfangen kann nach Stift und Papier auf seinem Schreibtisch zu suchen, reicht ihm der Kommissar einen kleinen Notizblock und Kugelschreiber, die er beide aus seiner Jackeninnentasche gezogen hat. Um Leserlichkeit bemüht, schreibt jener die vier Namen in Druckbuchstaben untereinander auf den Block. „Liu Dong, Li Chang,...“, beginnt der Kriminalbeamte sie auf dem zurückgereichten Notizblock zu entziffern.

„Das sind die beiden, die in München wohnen", unterbricht ihn der Chinese, der ihm über die Schultern schaut.

Strelow vermerkt die letzte Aussage hinter den beiden Namen, ehe er sich den beiden anderen zuwendet: „Hu Peng, richtig?“ Mit aufwärts gewandtem Blick überzeugt er sich von der Richtigkeit seines Leseversuchs.

„Stimmt, das ist der in Hamburg“, vervollständigt Herr Zhang, was Strelow wiederum hinter dem genannten Namen notiert, woraufhin er sich schließlich den letzten Namen vornimmt: „Sing Fai. Ist das der in Marburg?“ Ein Kopfnicken des hinter ihm Stehenden bestätigt seine Vermutung. „Genauere Adressen haben Sie nicht zufällig?“

„Nein, tut mir leid. Aber Bing müsste sie haben.“

Claude kann sich nicht erinnern ein Adressbuch oder etwas Ähnliches in Wang Bings Zimmer gesehen zu haben, ebenso scheint es dem Kommissar zu gehen, der dies auch kundtut: „In Herrn Wangs Zimmer habe ich nichts Entsprechendes gefunden, kein Adressenverzeichnis oder so. Da müsste ich noch einmal meine Frankfurter Kollegen anrufen, ob die etwas bei dem Toten gefunden haben“, weist er - Claude anblickend - auf eine weitere mögliche Quelle hin, bei der er fündig werden könnte. „Noch eine Frage zum Abschluss, Herr Zhang: Kennen Sie einen Herrn Sung Ning aus Frankfurt?“

„Nie gehört, wer soll das sein?“

„Das ist der Besitzer des Wagens, mit dem Ihr Freund verunglückt ist, darüber hinaus war er der Bürge von Herrn Wang.“

„So...?“ In der Stimme des Chinesen schwingt ein nicht zu überhörender zweifelnder Unterton mit, der die Aufmerksamkeit des Kriminalbeamten weckt, dessen Frage Herr Zhang allerdings zuvorkommt: „Mir hat er einmal gesagt, dass er von der chinesischen Regierung geschickt worden sei und mehr oder weniger seine Familie für ihn hafte.“

„Sind Sie sich da ganz sicher?“, möchte sich Strelow die offensichtlich erste Widersprüchlichkeit, auf die sie gestoßen sind, noch einmal bestätigen lassen.

„Ja klar, darüber sprechen wir Chinesen untereinander doch mit als erstes, denn jeder will wissen, wie es der andere geschafft hat herauszukommen.“

„Fast hätte ich es vergessen“, schiebt der Kommissar noch eine Frage nach: „ Haben Sie eine Ahnung, wo Herr Wang zuletzt gejobbt hat?“

„In oder bei Frankfurt, vermute ich. Er hat mir bei unserem letzten Treffen nur gesagt, dass er am nächsten Morgen wieder nach Frankfurt fahren müsse.“

„Tja, ich denke, das wäre im Moment alles. Oder haben Sie noch eine Frage, Herr Duchamp?“ Da dies nicht der Fall ist, verabschiedet er sich zusammen mit Strelow von dem jungen Chinesen, letzterer nicht ohne den Hinweis, im Falle weiterer Fragen nochmals wiederzukommen.

Stickige Luft schlägt ihnen beim Öffnen des in der prallen Sonne parkenden Wagens entgegen. Der Blick auf die Armbanduhr verrät Strelow, dass es Zeit ist an die Mittagspause zu denken: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein nettes Lokal in der Innenstadt, da können wir etwas essen und trinken, und dabei Bilanz ziehen.“

La Brasserie, das Lokal, von dem der Kommissar sprach, liegt an Erlangens Hauptstraße, die in diesem Bereich Fußgängerzone ist. Aufgrund des schönen Wetters wählen sie einen Tisch im Freien, von dem aus sich das geschäftige Treiben ringsum, die flanierenden, ihren Einkäufen nachgehenden Passanten sowie die sich durch sie hindurchschlängelnden Radfahrer recht gut beobachten lassen. Trotz des großen Andrangs, dessen sich die bistroartige Gaststätte erfreut, wird ihre Bestellung schnell aufgenommen, woraufhin sie sich nach einem ersten kräftigen Schluck daran machen, den Vormittag aufzuarbeiten, wobei sie sich schließlich einig sind, dass sie insgesamt nicht sehr viel weiter gekommen sind, die einzige wirkliche Ungereimtheit die unterschiedlichen Angaben bezüglich des Bürgen ist.

Mit der spärlichen Ausbeute nicht so recht zufrieden, muss Claude, während beide sich jeweils einen knackig frischen Salatteller schmecken lassen, endlich eine Frage los werden, die ihn bereits seit dem Vortag bedrückt und ihn emotional aufwühlt, die er sich bis zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht getraut hat zu stellen, aus Angst für hysterisch gehalten zu werden: „Glauben Sie eigentlich, dass ich in Gefahr schwebe, dass es Herr Wang unter Umständen auf mich abgesehen hatte?“ In der Art wie Strelow die Augen nach oben schlägt, erkennt Claude, dass er ins Schwarze getroffen hat.

„Um ehrlich zu sein, Herr Duchamp, dies können wir nicht ausschließen. So einiges deutet zumindest in diese Richtung, allerdings bräuchten wir einfach nur mehr Angaben zur Person von Herrn Wang. Wie mir mein Frankfurter Kollege mitgeteilt hat, hat er sich diesbezüglich ja bereits mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung gesetzt. Vielleicht können uns aber auch seine anderen chinesischen Freunde weiterhelfen. Ich werde deswegen gleich nach dem Mittagessen meine Kollegen in Hamburg, München und Marburg anrufen. Vermutlich wird es jedoch ein wenig dauern, bis ich mehr weiß. Vorher werde ich aber noch Frankfurt von dem informieren, was ich heute Morgen erfahren habe. Möglicherweise wissen die zwischenzeitlich auch schon wieder mehr.“

All die vom Kommissar genannten Möglichkeiten, an zusätzliche Informationen zu gelangen, befriedigen Claude nicht wirklich, dieses Herumtappen im Dunkeln, dieses Sich- Klammern an vage Hoffnungsschimmer nervt ihn, obgleich er genau weiß, dass sie gegenwärtig keine Alternative haben, Geduld angesagt ist. „Hoffentlich“, bringt er seine von Ungeduld gespeiste Stimmungslage kurz und bündig auf den Punkt.

„Bleiben Sie noch in Erlangen?“ Claude nickt. „Ja? Gut! Dann spannen Sie heute Nachmittag ein bisschen aus, schauen Sie sich die Stadt an. Ich werde später noch einmal mein Glück im Wohnheim versuchen, und vielleicht bekomme ich ja noch im Laufe des Tages Informationen von meinen Kollegen. Wenn Sie möchten, können Sie morgen Vormittag im Präsidium vorbeischauen, aber rufen Sie besser vorher an. Hier haben Sie meine Rufnummer.“ Rasch kritzelt Strelow sie auf ein aus seinem Notizblock gerissenes Blatt Papier und schiebt dieses Claude über den Tisch zu. „Ich muss jetzt los. Wir sehen uns dann morgen, ja.“

„In Ordnung“, verabschiedet sich Claude, sich nach dem Gehen des Kriminalbeamten wieder niederlassend, um sich behaglich im Sessel zu strecken und noch einen Cappuccino zu bestellen, der seinen träger werdenden Geist beleben, fit machen soll für den Nachmittag, den er mit einem Bummel durch die Fußgängerzone zu beginnen und, falls ein guter Film läuft, in einem Kino abzurunden beschließt.

Handover

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