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Montag, 21. April 1997, 9:54 Uhr

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„Herein!“ Beinahe wäre die gedämpft durch die geschlossene Tür dringende Aufforderung im Lärm des halben Dutzends über den fliesenbelegten Flur trappelnder Beinpaare untergegangen.

„Guten Morgen“, begrüßt Claude - eine schwarze, in Philipps Labor aufgefundene Fotomappe unter dem Arm - den ihm unbekannten Beamten, der an einem der Aktenschränke mit dem Durchblättern von irgendwelchen Ordnern beschäftigt ist, wobei der Eingetretene bei einem kurzen Rundumblick registriert, dass sich sonst niemand im Raum aufhält. „Mein Name ist Claude Duchamp. Ich wollte zu Hauptkommissar Krüger. Ist er nicht da?“

„Doch, doch, ich bin ihm vorhin im Gang begegnet. Soviel ich von seinem Assistenten weiß, befindet er sich gerade in einer Besprechung. Und die kann noch ein wenig dauern. Aber vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Um was geht es denn?“

„Um den Mord an meinem Bruder. Allerdings hätte ich schon gerne mit dem Hauptkommissar persönlich geredet.“ Nach Sekunden des Schweigens erkundigt sich Claude: „Haben Sie eine Ahnung, wie lange die Besprechung noch dauert?“

„Keine Ahnung. Doch wie ich schon sagte, es kann sich noch ein wenig hinziehen. Aber Sie können gerne hier warten.“ Eine Geste bittet Claude, auf dem in der Ecke des Raumes stehenden Stuhl Platz zu nehmen.

„Und Kommissar Mihailovic ist auch nicht da?“, unternimmt er den Versuch, das Warten eventuell abkürzen oder zumindest sinnvoll überbrücken zu können.

„Der ist zusammen mit Krüger in der Besprechung“, wird ihm diese Hoffnung umgehend zunichtegemacht. Sich in sein Schicksal fügend, nimmt Claude die kurz zuvor gemachte Offerte notgedrungen an.

Während der Beamte immer neue Ordner und Mappen aus dem Schrank herausfischt und sich beim Durchblättern gelegentlich kurze Notizen macht, schweifen Claudes Blicke unstet durch den nüchternen Raum, der für ihn von Minute zu Minute mehr zum typischen Musterbeispiel tristen Beamtendaseins wird, auf merkwürdige, nicht greifbare Art und Weise erfüllt von Seelenlosigkeit und Bürokratismus, die jegliche menschlich emotionale Regung ersticken. Auch wenn der Himmel über der umliegenden Dachlandschaft sich heute mit schweren Regenwolken verhangen zeigt, so stellt er in diesem Moment aufgrund seiner sich fortlaufend ändernden Wolkenformationen und Hell-Dunkel-Schattierungen doch immerhin eine willkommene optische Zuflucht dar, an der sich seine Blicke festsaugen. Die zu kurze Nacht und die abgestandene Luft im Zimmer fordern dennoch allmählich ihren Tribut, die Augen des Wartenden werden, als jeder Zentimeter im Zimmer gründlich gemustert worden ist und auch der Blick durchs Fenster nichts mehr hergibt, allmählich schwerer - wohltuende Mattigkeit bemächtigt sich seiner.

Ob er eingenickt ist oder nicht, ist Claude in der Sekunde, in der er durch das Öffnen der ins Nebenzimmer führenden Tür aufschreckt, nicht klar, spielt zudem auch keine Rolle, sieht er doch endlich den sehnsüchtig Erwarteten hereinkommen. „Guten Tag, Herr Duchamp, entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten, aber wie Ihnen mein Kollege ja bereits mitgeteilt hat, war ich in einer wichtigen Besprechung.“ Hauptkommissar Krügers Laune scheint für einen Beamten-Montagmorgen ungewöhnlich gut, und auch der Händedruck vermittelt Claude das Gefühl, als sei sein Gesprächspartner an diesem Tag zum Bäume-Ausreißen bereit.

„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das uns im Fall meines Bruders möglicherweise weiterhelfen kann.“ Bewusst spricht Claude von ‚uns’, will dadurch zu erkennen geben, dass er nicht bereit ist, das Heft völlig aus der Hand zu geben. Da es ihm darum geht, mehr über die Identität der auf den Fotos abgelichteten Personen herauszufinden und noch immer erfüllt von nicht erklärbarem Misstrauen gegenüber den Kriminalbeamten, verschweigt er Krüger jedoch, wie und wo er zu dem Bildmaterial gekommen ist, berichtet ihm stattdessen, er habe es rein zufällig im Archiv seines Bruders gefunden, und da die Aufnahmen nicht zum sonstigen Arbeitsrepertoire von Philipp passten, wolle er sich nur einfach einmal erkundigen, ob Krüger irgendeine der auf den Aufnahmen zu erkennenden Personen identifizieren könne. Ob ihm der Kriminalbeamte die aufgetischte, reichlich an den Haaren herbeigezogen klingende Geschichte allerdings abkauft, vermag er aufgrund des völlig stoischen Gesichtsausdrucks seines Gegenübers nicht zu erkennen.

Die sechs großformatigen Porträts, die in der Fotomappe obenauf liegen, sagen dem Kommissar offensichtlich nichts, legt er sie doch nach einem flüchtigen Blick darauf achtlos auf seinen Schreibtisch, genauso wie das folgende Dutzend Abzüge. Unauffällig mustert Claude das Muskelspiel in Krügers Gesicht, versucht in dessen Augen jedwedes auch noch so geringe Anzeichen zu registrieren, das ihm einen Hinweis darauf geben könnte, ob jener irgendjemanden auf den Abzügen zu erkennen glaubt. Wie unnötig seine derartigen Anstrengungen sind, wird ihm Sekunden später klar, als der Kriminalbeamte plötzlich bei der Betrachtung eines der Fotos stockt und auf eine der darauf zu sehenden Gestalten zeigend feststellt: „Wenn mich nicht alles täuscht, so ist dies hier Klaus-Peter Hilgens.“ Den Zeigefinger noch immer auf das Bild gelegt, sucht Krüger Blickkontakt mit Claude herzustellen, der, kaum hat jener seine vermeintliche Identifikation ausgesprochen, an die Seite des Bild-Begutachters herangetreten ist und auf das Foto starrt, das sie unter Umständen einen ersten Schritt weiterbringt. Der genannte Name indes sagt Claude nichts: „Hilgens, sagten Sie ... nie gehört. Wer ist das?“

„Sie kennen Hilgens nichts?“ So erstaunt sich der Beamten im ersten Augenblick zeigt, so rasch holt ihn die Erkenntnis ein: „Ach klar, Sie waren ja längere Zeit im Ausland. Hilgens ist einer der großen politischen Aufsteiger der letzten Jahre, womöglich sogar der größte, zumindest in Hessen. Er sitzt seit zwei Jahren im hiesigen Landtag. Kam praktisch als Nobody hinein, nur weil sein Vater ein recht wohlhabender Bauunternehmer ist und langjähriger Landtagsabgeordneter war, und bei seinem Rückzug aus der aktiven Politik rechtzeitig innerhalb seiner Partei dafür sorgte, dass sein Sohnemann das Erbe des Vaters antreten konnte. Und da sich Hilgens ... ich meine den Vater“, bemüht sich Krüger eventuelle Missverständnisse auszuräumen, „…da sich Hilgens gegenüber der Partei stets recht spendabel gezeigt hatte, setzte diese seinen Sohn, wie nicht anders zu erwarten, auf einen der oberen Listenplätze, zwar nicht unbedingt zur Freude aller Parteimitglieder, doch Sie wissen schon: Wer aufmuckt, landet ganz hinten auf der Liste. Und so kam Hilgens Junior in den Landtag, mehr oder weniger ohne jegliche politische Erfahrung. Doch da ist er ja nicht der einzige, Typen wie er tummeln sich genügend in der Politik herum.“ Krügers zynischer Sarkasmus ist nicht zu überhören. „Und seither ging es dank der Protektion seines Vaters steil bergauf, man munkelt bereits davon, dass er der nächste Innenminister im Lande werden soll.“

Noch ehe Claude sich Gedanken darüber machen kann, was der Politiker in jenen Kreisen zu suchen habe, in deren Umfeld die Aufnahmen allem Anschein entstanden sind, macht der Kommissar auf mehreren der Fotos noch ein paar andere ihm bekannte Gesichter aus: „Da schau an, der schöne Lukas, und da haben wir ja auch noch seinen Spezi, den Manni. Hier, schauen Sie“, klärt er Claude auf, „das hier ist Lukas Singer, auch ‚Hau-den-Lukas’ genannt, und das ist Manfred Arnold, kurz Manni. Zwei üble Typen, arbeiten beide in und um Frankfurt als Zuhälter, dürften aber auch sonst noch in allerlei krumme Dinge verwickelt sein.“

Trotz der nicht besonders guten Ausleuchtung sind auf den Aufnahmen zwei muskelbepackte Protze zu erkennen, die in Claude nur einen Gedanken aufsteigen lassen: ‚Denen möchte ich nachts allein nicht begegnen.’ Und woher der Erstgenannte seinen Spitznamen hat, verrät das grobschlächtige Gesicht, in dem eine plattgeschlagene Boxernase prangt, nur allzu deutlich.

„Ja, wen haben wir denn da“, frohlockt Krüger, ein weiteres Foto geradezu triumphierend hochhaltend, „damit wäre das Trio komplett.“ Claude die Aufnahme entgegenhaltend zeigt er auf eine im Vergleich zu den beiden zuvor identifizierten Gestalten recht unscheinbare Figur, an der auf den ersten Blick vor allem das äußerst gepflegt wirkende Äußere hervorsticht: „Lorenz Kowalzik, einer der großen Drahtzieher in der Frankfurter Unterwelt. Lassen Sie sich von seinem Äußeren nicht täuschen, das ist ein ganz ein fieser Typ, der die Drecksarbeit allerdings anderen überlässt, zum Beispiel Lukas und Manni.“ Die Aufnahmen noch einmal grob überfliegend, kommt Krüger Claude mit der entscheidenden Frage zuvor: „Tja, bleibt die Frage, was hat Hilgens mit all dem zu tun? Wenn ich mir die Aufnahmen so anschaue, so vermute ich, dass sie hier in Frankfurt gemacht wurden, und zwar auf unserer Amüsiermeile. Und die einzige mir auf den Bildern bekannte Person, die eigentlich nicht dorthin passt, ist Hilgens.“

Thorwalds und Claudes Vermutungen bezüglich des Entstehungsortes der Aufnahmen finden durch die Aussage des Kommissars somit ihre Bestätigung, wobei Claude zusätzlich zu der Frage, was der Abgeordnete in diesen Kreisen zu suchen hatte, ebenso dringend wissen möchte, was sein Bruder mit diesen Fotos belegen wollte. Dass auch ein Politiker sich einmal in einem dieser Etablissements sehen ließ, war noch kein Verbrechen, zumal Hilgens auf keiner der Aufnahmen mit einer der drei anderen von Krüger identifizierten Personen zu sehen ist, woraus man unter Umständen irgendwelche Schlüsse hätte ziehen können. Und den Abgeordneten in den Schmutz zu ziehen, ihn bloßzustellen, nur weil er sich unter Umständen in diese Kreise begeben hatte, zu etwas Derartigem hätte sich Philipp nie hinreißen lassen. Sensationspublizistik war ihm seit jeher ein Gräuel, hatte sein Bruder - ebenso wie er selber - zu allen Zeiten rundweg abgelehnt. Die Querverbindungen stellen offensichtlich jene sechs Personen dar, die sich bereits am Wochenende für ihn und Thorwald als Schlüsselfiguren herauskristallisiert haben, denn zumindest eine von ihnen ist auch jeweils auf Fotos mit Hilgens und den drei Unterweltgrößen zu sehen.

Zu ähnlicher Erkenntnis scheint auch Krüger gelangt zu sein, der die sechs Porträtvergrößerungen noch einmal zur Hand nimmt und sie einer genauen Begutachtung unterzieht, doch ohne Ergebnis: „Wir müssen herauskriegen, wer diese Personen sind, dann kommen wir möglicherweise ein Stück weiter. Sie kennen auch niemanden davon?“, rückversichert er sich noch einmal bei Claude.

„Nein.“

„Können Sie mir die Aufnahmen dalassen, damit wir sie durch unseren Computer jagen können. Vielleicht hilft uns das weiter. Doch sollten Sie sich keine allzu großen Hoffnungen machen, dass all dies überhaupt etwas mit dem Tod Ihres Bruders zu tun hat“, bemüht sich der Kriminalbeamte, Claudes Erwartungshaltung nicht zu sehr in den Himmel schießen zu lassen.

„Selbstverständlich.“ Da Claude mit dem Begehren des Kommissars gerechnet hat, ist er in diesem Augenblick froh darüber, dass er den in der letzten Nacht angefertigten zweiten Satz an Abzügen wenigstens nicht umsonst gemacht hat. „Ich wäre Ihnen allerdings dankbar, könnten Sie mir Bescheid geben, falls Sie etwas Brauchbares herausfinden.“

„Machen wir.“ Krüger schiebt die kreuz und quer über seinen Schreibtisch ausgebreiteten Abzüge zusammen, wobei er diejenigen, auf denen sich die von ihm erkannten Personen befinden, auf dem Stapel ganz nach oben legt. „Ehe ich es vergesse, Herr Duchamp, das Gerichtsmedizinische Institut hat mich heute Morgen informiert, dass Ihr Bruder nunmehr für die Bestattung freigegeben ist.“

‚Gut, dass ich bereits mit Julius darüber gesprochen habe’, geht es Claude bei dieser Mitteilung durch den Kopf. „Danke, ich habe schon alles für die Überführung und die Beisetzung Erforderliche in die Wege geleitet. Ich werde Philipp beim Grabe meiner Eltern beisetzen. Ein guter und enger Freund von uns ... von mir ist Geistlicher, er wird die Totenmesse halten.“ Warum er den Kriminalbeamten in die Einzelheiten der Beisetzung einweiht, darüber ist sich Claude selbst nicht schlüssig, vermutlich um seine latent vorhandenen Schuldgefühle ein klein wenig abzubauen, die er ob der Hilfsbereitschaft des Hauptkommissars und seiner eigenen nur bedingten Aufrichtigkeit diesem gegenüber nicht völlig zu verdrängen vermag. „Ich werde in dieser Angelegenheit also zwei oder drei Tage weg sein, doch können Sie mir eine Nachricht in meinem Hotel hinterlassen. Sobald ich zurück bin, melde ich mich wieder bei Ihnen.“

„Ist gut, Herr Duchamp, wir tun unser Möglichstes.“

So unangenehm ihm die ganzen Formalitäten bezüglich der Überführung und Bestattung auch sind und ihn Thorwald soweit als möglich davon zu entlasten versprochen hat, zwingt sich Claude beim Verlassen des Polizeipräsidiums dazu, sich ohne Umschweife in die Gerichtsmedizin zu begeben, um den Leichnam seines Bruder für dessen letzte Reise vorzubereiten.

Handover

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