Читать книгу Handover - Alexander Nadler - Страница 4

11:21 Uhr

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„Sie haben den Toten gefunden?“

„Ja.“

„Wie sind Sie denn in die Wohnung gekommen? Kennen Sie den Toten?“

„Ja.“ Die erste Frage Hauptkommissar Krügers bleibt unbeantwortet.

„In welcher Beziehung stehen...“, ein Moment des Zögerns, „...standen Sie denn zu ihm?“

„Er...“

„Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt.“

Es mögen nur drei, vier Sekunden sein bis zur Beantwortung dieser Frage, doch macht sich sichtlich Nervosität im Gesicht des Kriminalbeamten breit, sein rechter Arm hebt sich, die rechte Hand wird, eine Hohlkehle bildend, dem Befragten entgegengestreckt, als wolle man ihm darin die Antwort präsentieren. „Nun? Haben Sie meine Frage nicht verstanden?“, kommt Krüger dem Antworten-Wollenden mit zur Seite geneigtem Kopf und hochgezogenen Augenbrauen zuvor.

„Duchamp. Claude Duchamp.“

„Duchamp? Aber...“ Ein Blick zurück, dorthin, wo die Eingangstür liegt, neben der außen das Namensschild des Wohnungsinhabers angebracht ist, an das sich Krüger in diesem Augenblick erinnert.

„Er...“, der unkonzentrierte Blick streift über den im Zimmer Liegenden, bleibt an dem dicken Kreidestrich hängen, der dem Dahingerafften Grenzen setzt, räumliche wie zeitliche, der das Unbegreifliche in Form eines einzigen Striches umreißt, „...er war mein Bruder.“

Verlegenheit. „Hm, ach so.“ Floskelhaft: „Mein herzliches Beileid.“ Krügers Verdutztheit angesichts der Namensnennung löst sich. Neue Fragen liegen parat, wie Pfeile, zum Abschuss fein säuberlich aufgereiht. „Können Sie mir trotzdem ein paar Fragen beantworten, es wäre wichtig.“ Ein kurzes, wortloses Nicken von Seiten des Angesprochenen signalisiert Einverständnis. „War zum Beispiel die Tür offen, oder haben Sie einen Schlüssel?“

„Ich habe einen Schlüssel zur Wohnung, so wie mein Bruder einen zu meiner Wohnung in San Francisco hat.“

„In San Francisco?“ Krüger blickt seinen Assistenten Mihailovic, der inzwischen zu den beiden herangetreten ist, an, als ob jener Licht in die Sache bringen könne, weiterhelfende Hinweise zur Hand habe. Ein leichtes Kopfschütteln und das dazugehörende Achselzucken geben dem Hauptkommissar indes zu verstehen, dass Hilfe aus dieser Richtung zunächst einmal nicht zu erwarten ist. „San Francisco? Sie sagten San Francisco. Leben Sie dort?“

„Ja, seit fast einem Jahr.“

„Und seit wann halten Sie sich in Deutschland auf?“

„Seit heute Morgen. Ich komme direkt aus San Francisco. Meine Maschine ist so gegen neun Uhr gelandet. Anschließend bin ich mit dem Taxi hierher gefahren.“

„Ach dann gehört die Reisetasche und der Alukoffer da draußen Ihnen?“ Kommissar Mihailovics Arm weist durch die noch immer offen stehende Wohnungstür den Flur hinunter in Richtung Entree.

„Ja.“

Krüger hakt nach: „Entschuldigen Sie, um noch einmal auf den Schlüssel zurückzukommen, Sie sagten, Sie hätten einen für diese Wohnung und Ihr Bruder einen für die Ihrige. Und das, obwohl sie mehr als zehntausend Kilometer voneinander entfernt wohnen?“

„Was ist daran so merkwürdig? Gibt man heutzutage nur noch seiner Geliebten einen Wohnungsschlüssel, oder der Nachbarin zum Blumengießen, wenn man in Urlaub fährt? Mein Bruder und ich, wir haben uns immer prima verstanden, waren immer füreinander da. Wir konnten einander vertrauen. Ich weiß, leider ist das heutzutage nicht mehr selbstverständlich, doch wo, wenn nicht unter Geschwistern, in der eigenen Familie kann man wirklich Hilfe, Schutz, oder wenn nötig auch Zuflucht finden. Etwa bei Freunden?“ Claudes skeptischer Blick beantwortet die Frage von selbst. „Vielleicht finden Sie es altmodisch, doch haben uns unsere Eltern gelehrt, stets füreinander da zu sein. Und ich muss Ihnen sagen, es tut gut, zu wissen, dass es jemanden gibt, der hundertprozentig zu dir hält. Sie glauben wahrscheinlich, weil wir an zwei verschiedenen Enden der Welt leben ... lebten, könne ich so etwas leicht behaupten. Nein, Sie irren. Wir haben bis vor zwei, drei Jahren sehr viel gemeinsam unternommen, und dabei einander mehr als einmal gebraucht. Auch wenn sich unsere Wege dann aus beruflichen Gründen getrennt haben, so waren wir gedanklich und seelisch einander stets sehr nahe. Philipp war zwar schreibfaul und ich bin es im Grunde genommen auch, was unserem guten Verhältnis aber keinen Abbruch tat. Und um einander - falls nötig - zu helfen, haben wir uns gegenseitig immer Wohnungsschlüssel von unseren neuen Wohnungen geschickt, damit der jeweils andere auch dann rein konnte, wenn der andere gerade nicht zu Hause war. Kam zwar selten vor, aber ab und zu schon.“ Claude denkt an solch einen Fall, in Mailand, damals, vor rund zwei Jahren, als...

„Sie kennen diese Wohnung also? Sie waren schon einmal hier?“ zerreißt Mihailovic jäh die aufflackernden Erinnerungen.

„Nein. Hier bin ich zum ersten Mal. Philipp und ich ... wir haben uns seit einem Jahr, seit ich in den Staaten bin, nicht gesehen. Nur ein paar Mal geschrieben haben wir uns, und ein paar Mal miteinander telefoniert. Das letzte Mal ist aber auch schon eine Weile her.“ Der letzte Anruf Philipps vor einer Woche entgleitet in diesem Moment Claudes Erinnerung.

„Dann sind Sie also zufällig hier? Oder?“ Der Hauptkommissar zieht das Gespräch wieder an sich.

‚Mailand, ja Mailand, mein Gott, auch schon wieder zwei Jahre her’, schießt es dem Befragten blitzartig durch den Kopf. Und laut: „Nein“, die Erinnerung bezüglich des aktuellen Geschehens setzt wieder ein, „mein Bruder rief mich letzte Woche, genauer gesagt letzten Freitag an und bat mich, ich solle versuchen so bald als möglich herüberzukommen. Er stecke da in etwas drin. In was, das hat er mir allerdings nicht gesagt. Er klang aber derart erregt und nervös, dass ich mich entschloss, meine Arbeit zu unterbrechen und mich hierher zu begeben.“

„Was könnte er gemeint haben mit: Er stecke in etwas drin?“ Krügers Blicke wandern über die Wände, die zahlreiche Fotos und Posters zieren. Unweigerlich folgt Claude den Augen des Hauptkommissars, registriert erst jetzt, was der durch die gesperrt herabgelassenen Rouleaus abgedunkelte Raum und die unerwartete Konfrontation ihm zuvor vorenthalten haben. Eines der überdimensionalen Fotos zieht die Blicke der beiden Kriminalbeamten ebenso unweigerlich an wie denjenigen Claudes: Es handelt sich um einen weiblichen Akt, in Rückansicht, voller Ästhetik und Harmonie. Ein zweiter, kleinerer, in Vorderansicht und ein großformatiges Porträt daneben lassen vermuten, dass es sich bei allen drei Bildern um dieselbe Person handelt, eine Asiatin, vermutlich Thailänderin, zumindest aber Südostasiatin. Ohne Claude anzusehen, nur mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken in Richtung der Aufnahmen, forscht Krüger weiter, noch immer gebannt von der Anmut des Mädchens, dessen Nacktheit nichts, aber auch gar nichts Entblößendes an sich hat: „Was macht Ihr Bruder eigentlich beruflich?“

„Er ist Fotograf, Modefotograf vor allem. Ab und an arbeitet er aber auch als Fotojournalist.“

„Und das da“, Krüger deutet auf besagte Aufnahmen, „gehört das auch zum Repertoire Ihres Bruders?“

Claude glaubt Neid in der Stimme des Kommissars mitschwingen zu hören. „Nein, oder sagen wir besser, nicht dass ich wüsste. Soweit ich weiß, hat er in dieser Richtung bislang nur privat gearbeitet. Als Modefotograf ist er mit vielen schönen Mädchen zusammengekommen, klar, doch hat der Außenstehende meist ganz falsche Vorstellungen von dem, was da passiert. Die meisten glauben, dass Sex in diesem Metier eine wichtige Rolle spiele.“ Claude versucht die Vermutungen, unausgesprochenen Erwägungen zurechtzurücken: „Harte Arbeit ist das, ein mitunter brutaler Kampf ums Dasein, ums Besser-Sein, ums Überleben im Konkurrenzdschungel. Kreativität, Einsatz wird verlangt, für das private Vergnügen - so Sie es denn so nennen wollen - bleibt bei ernsthaftem, konzentriertem Arbeiten meist keine Zeit.“ Spitz und entrüstet vibriert Claudes Stimme, der der Verwunderung darüber in Krügers erstauntem Gesichtsausdruck gewahr wird: „Pardon.“ Er nimmt Schärfe aus seiner Stimme: „Aber wissen Sie, Fotografieren ist, wenn man es professionell betreibt, Knochenarbeit. Und zwar jede Art der Fotografie!“

Die Art und Weise, mit der Claude das fotografische Gewerbe verteidigt, lässt Krüger vermuten: „Sind Sie auch Fotograf?“

„Ja.“

„Und was machen Sie? Auch Mode?“, mischt sich Mihailovic ein.

Claude wendet sich dem Kommissar zu, die Hände tief in die Taschen vergrabend. „Nein, ich arbeite als Fotojournalist, freelance.“

„Freelance?“ Mihailovic weiß mit dem Ausdruck nichts anzufangen.

Claude hilft ihm über seine Wissenslücke hinweg: „Freiberuflich, also nicht für eine bestimmte Agentur oder so.“

„Kann man davon leben? Ist das nicht ein harter Konkurrenzkampf, bei den vielen Fotografen?“ Krügers Interesse ist echt.

„Reich werden kann man damit in der Regel nicht.“ Claudes Gesicht überzieht Nachdenklichkeit, unterlegt von einem Schuss Resignation. „Können allein reicht nämlich oft nicht, Glück muss man haben, oder noch besser: Beziehungen. Und jede Menge Geduld und Glauben an sich selbst. Man kann noch so gut sein, die besten Ideen haben...“ Der nicht zu Ende geführte Satz drückt mehr aus als der vollendete vermutlich vermocht hätte. Claude schaut zu Boden, irgendwo zwischen seinen Füssen und seinem aus dem Leben gerissenen Bruder beißt sich sein Blick fest. Erst beim zweiten Mal dringen Krügers von der Gedankenverlorenheit verzerrte Worte zumindest soweit bis zu Claudes akustischem Wahrnehmungsvermögen durch, dass er Reaktion zu zeigen imstande ist: „Entschuldigung, was haben Sie gesagt? Ich war gerade nicht ganz da.“

„Nicht so wichtig“, beschwichtigt ihn der Kommissar, „ich wollte nur wissen, woran Sie gerade arbeiten, drüben, in den Staaten.“

„An einem Buch über San Francisco, und einer Story über die Aidskranken in der Stadt. Vielleicht mache ich auch noch etwas über ganz Kalifornien, mal sehen.“

„Verkauft sich so etwas gut?“

Stirnrunzeln und leichtes Achselzucken geben Claudes Worten Nachdruck. „Ich weiß nicht. Ich hoffe. Lässt sich im Voraus schwer sagen, das hängt von vielen Faktoren ab, Und die ändern sich in unserer schnelllebigen Welt oftmals verdammt rasch.“

Hauptkommissar Krüger hat sich derweilen neben dem Toten niedergekauert, und während er ihn der Länge nach in Augenschein nimmt, richtet er sich an dessen Bruder: „Um noch einmal darauf zurückzukommen: Sie haben also einen Schlüssel zum Apartment Ihres Bruders. Ist Ihnen beim Betreten der Wohnung irgendetwas aufgefallen, war die Tür offen oder so?“

„Sie war zu, aber nicht abgeschlossen, nur zugezogen.“

„Roland.“ Noch immer in Hockstellung, wartet Krüger auf den von ihm angerufenen Kriminalassistenten, der Augenblicke später seinen Kopf zur Tür hereinstreckt. „Ja, Chef.“

„Habt ihr schon etwas herausgefunden? Was ist mit der Wohnungstür? Ist sie gewaltsam geöffnet worden oder nicht? Oder habt ihr sonst schon irgendwelche Spuren?“

„Nein, zumindest nichts Brauchbares. Das Schloss ist unbeschädigt, keine Spuren von Gewaltanwendung. Entweder der oder die Täter hatten einen Schlüssel oder...“

„Oder der Ermordete hat selbst aufgemacht. Das wiederum hieße, er hat ihn oder sie gekannt, zumindest aber keinen Verdacht gehabt.“ Krügers und Claudes Blicke treffen sich. „Danke. Schaut, dass ihr noch etwas Brauchbares findet.“ Sich erhebend wendet er sich an Claude: „Seit wann hat Ihr Bruder diese Wohnung?“

„Seit einem halben Jahr, davor hat er fast vier Jahre lang in Mailand gelebt. Warum er hierher nach Frankfurt gezogen ist, weiß ich nicht. Ich habe mich damals gewundert, als er mir schrieb, er werde umziehen, schließlich ist Mailand - unter dem Gesichtspunkt der Mode und Modefotografie betrachtet - um Klassen besser als Frankfurt. Und finanziell hat es in Italien auch gestimmt, zumindest hatte ich, als ich ihn vor zwei Jahren dort besucht habe, diesen Eindruck. Er war aber auch einer der besten in seinem Metier.“ Traurig mustert Claude seinen getöteten Bruder, der soeben von allen Seiten abgelichtet wird, auf so unfreiwillige Art zum Fotoobjekt geworden ist. Mit jedem Blitz, der gezündet wird, so empfindet er es in diesem Moment, werde sein Bruder aufs Neue niedergestreckt, gar zu sehr ähneln in seiner Vorstellung die für Sekundenbruchteile aufleuchtenden Blitzlichter dem Mündungsfeuer jener Waffe, die er imaginär auf seinen Bruder gerichtet sieht. Mit der einem Fotografen eigenen Sehweise resümiert er lakonisch die völlige ästhetische Aussagelosigkeit der Szenerie um ihn herum. Die Routine und Nüchternheit, mit der der Polizeifotograf seiner Arbeit nachgeht, lässt jedoch keinen anderen Schluss zu: auch er ist Profi. Allerdings haben dessen, seines Bruders und seine eigene Seh- und Arbeitsweisen nichts miteinander gemeinsam, außer dem Arbeitsgerät und dem Ziel ihrer Tätigkeit: Dokumentarisch wiederzugeben, was sie durch ihre Objektive erfassen beziehungsweise erfassten, ein jeder auf seine Art und Weise.

„Dass Ihr Bruder von hinten erschossen wurde, spricht ebenfalls dafür, dass er seinen Mörder kannte“, gibt Mihailovic zu verstehen. Claudes fragender Gesichtsausdruck lässt ihn weiter ausführen: „Einem Fremden dreht man für gewöhnlich nicht den Rücken zu, es sei denn man läuft davon, was er aber ganz offensichtlich nicht getan hat. Ich nehme eher an, er wollte irgendetwas holen ... oder vielleicht etwas zum Trinken anbieten.“ Mit einer Kopfbewegung weist der Kommissar auf die in verlängerter Liegerichtung des Toten auf einem Servierwagen fein säuberlich aufgereihten Flaschen und Gläser.

„Wissen Sie, was mich stört, was ich irgendwie komisch ... ja, komisch finde?“ Krüger wartet gar nicht erst auf eine Antwort von Seiten Claudes. „Die halb heruntergelassenen Rouleaus. Warum sind in allen Räumen, außer im Labor, die Rouleaus nur halb heruntergelassen, warum nicht ganz, warum überhaupt?“ Mit einem Gedankensprung und einem Körperruck zur Seite orientiert er sich wieder in Richtung Toter: „Doktor, können Sie schon sagen, wann es passiert ist? Ungefähr zumindest.“

Doktor Jacklos stämmige, von einer Halbglatze bekrönte, neben der Leiche kniende Gestalt wird durch die unvermittelt von ihm geforderte Auskunft in eine abrupte Hundertachtzig-Grad-Drehung versetzt, was Claude befürchten lässt, diese werde auf seinen Bruder stürzen.

„Vermutlich zwischen siebzehn und zwanzig Uhr gestern Abend. Eher siebzehn als zwanzig Uhr.“

„Das ist es, was ich meine“, wendet sich der Hauptkommissar wieder dem Bruder des Ermordeten zu, „zu dieser Zeit ist es doch noch hell draußen. Und nachts lässt man die Rouleaus für gewöhnlich ganz herunter. Oder?“ Da der Befragte stumm bleibt, ergänzt Krüger: „Sie haben doch nichts verändert, zum Beispiel um besser sehen zu können oder so?“

„Nein, nein. Warum sollte ich, notfalls hätte ich das Licht angemacht.“

„Sehr gut. War ja auch nur eine Frage.“

Mihailovic, der sich mit einem der Männer von der Spurensicherung unterhalten hat, tritt wieder zu den beiden heran. „Nur ein Schuss. Unsere Leute haben keine weiteren Einschüsse gefunden. Wahrscheinlich eine großkalibrige Pistole, wobei es sich bei dem, respektive den Tätern um Profis zu handeln scheint, denn die Kollegen haben keine Patronenhülse gefunden. Und da die Nachbarn nach eigenen Aussagen keinen Schuss gehört haben, gehe ich davon aus, dass ein Schalldämpfer verwendet wurde."

„Gut. Genaueres erfahren wir ja dann nach der Autopsie.“ Krüger scheint über die ersten, wenn auch dürftigen und noch unbestätigten Erkenntnisse zufrieden. Zu Claude gewandt: „Sagen Sie, Herr Duchamp, hatte Ihr Bruder Feinde. Ich weiß, Sie sagten mir, dass Ihr Bruder Sie letzte Woche angerufen habe und Ihnen sagte, er stecke da in etwas drin. Sie sagten auch, Sie wüssten nicht, was er damit gemeint haben könnte. Könnte ja aber auch sein, dass dies hier nichts damit zu tun hat. Daher nochmals meine Frage: Hatte Ihr Bruder Feinde? Zum Beispiel von früher?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aufgrund seines stets um Ausgleich bedachten Charakters halte ich dies eigentlich für ausgeschlossen. Aber bitte, wir haben uns in den letzten Jahren selten gesehen, so dass ich dies nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann. Andererseits hätte mir Philipp gesagt, wenn er in derartigen Schwierigkeiten gesteckt hätte. Deswegen hat er mich ja auch ganz offensichtlich am vergangenen Freitag angerufen.“

„Hm. Ich frage Sie dies, da es sich offensichtlich nicht um einen Raubüberfall handelt. Wie es scheint, ist noch alles an seinem Ort. Allein die Kameraausrüstung Ihres Bruders wäre Grund genug für einen Einbruch. Und das Schloss an der Eingangstür ist auch unversehrt."

Claude löst den Blick von dem leblosen Körper seines Bruders. „Sie sagten doch aber selbst, dass mein Bruder den Täter offensichtlich persönlich gekannt haben muss. Man öffnet doch aber nicht jemandem, vor dem man sich fürchtet oder von dem man sich bedroht fühlt."

„Genau. Es muss sich also um jemanden handeln, von dem Ihr Bruder glaubte nichts befürchten zu müssen, den er kannte, oder um genauer zu sein, von dem er glaubte, dass er ihn kenne.“ Nach ein paar Schritten durchs Zimmer bleibt Hauptkommissar Krüger stehen: „Kann das, was Ihr Bruder andeutete, mit seiner Arbeit zu tun haben? Wissen Sie zufällig, womit er sich zurzeit beschäftigte? Sie sagten, Sie hätten nicht verstanden, warum er aus Mailand weggegangen sei. Könnte es da möglicherweise einen Zusammenhang geben?“

Die vielen Fragen, Spekulationen versetzen Claude in eine Art taumelnder Ratlosigkeit: „Keine Ahnung, Herr Kommissar.“ Die Bemühungen, seine Gedanken in einigermaßen geordnete Bahnen zu bringen, scheitern immer wieder beim Anblick des leblos vor ihm Liegenden, dessen tragisches Ende ihn mehr und mehr mit Wut, Zorn erfüllt, die den so bitter empfundenen Schmerz, Verlust zusehends überdecken. ‚Wer es auch war, ich werde ihn finden’, schwört er seinem Bruder, ‚das bin ich dir schuldig!’ Erinnerungen tauchen schemenhaft vor seinen Augen auf, Frequenzen stakkatoartiger Einzelbilder, in denen Stationen ihrer gemeinsamen Vergangenheit eingefangen sind.

„Dann wissen Sie sicherlich auch nicht, für wen Ihr Bruder derzeit arbeitete“; unterbricht des Kommissars Stimme Claudes gedanklichen Ausflug, „für welches Magazin oder welche Agentur?“

„Tut mir leid, nein. Soviel ich weiß, arbeitete er in Mailand zuletzt für Vogue und Harper's Bazaar, außerdem für ein paar der dort unten ansässigen Modezaren.“ Spöttische Gereiztheit schwingt am Satzende mit, lässt vermuten, dass sich der Redner nicht allzu viel aus derlei Persönlichkeiten macht. Um der Frage Krügers, der sich in die Nähe der Balkontür begeben hat und von dort aus den Raum prüfend mustert, infolge des nicht zu überhörenden Spottes zuvorzukommen, schickt sich Claude an hinzuzufügen: „Ich kann mit dem ganzen Modeschnickschnack nichts anfangen, das meiste, was da zweimal im Jahr als die kommende Mode angepriesen wird, zieht doch sowieso keiner an. Nicht nur, weil es für den Normalverbraucher nicht erschwinglich ist, sondern ganz einfach, weil es nicht tragbar ist, oder möchten Sie als Faschingsfigur durch die Gegend laufen. Schauen Sie sich doch einmal an, was da so über die Laufstege läuft, würden Sie Ihrer Frau erlauben, so etwas anzuziehen? Das Ganze wäre ja nicht so schlimm, wenn besagte Herren beziehungsweise Damen und ihresgleichen unter sich blieben, nur werden sie von allen Seiten derart hofiert und als die Macher in den Himmel gehoben, dass es beschämend ist, wie bereitwillig gewisse Leute deren unverschämte Forderungen auch noch mittragen, zum Beispiel Zehntausende für ein Abendkleid hinlegen, bloß weil es von Herrn Sowieso ist. Da fehlen ganz einfach die Relationen, doch nicht nur da, dies ist meiner Meinung nach überhaupt eines unserer größten Probleme, in jeder Hinsicht. Wir haben die Maßstäbe verloren, das Augenmaß - den Anstand.“ Die auf sie niedergehende Standpauke verwirrt Krüger und seinen Assistenten vorübergehend, lässt Claude nachsetzen: „Für mich zählt nicht der äußere Schein, die Hülle, für mich zählt das, was dahinter steckt, der Mensch. Sein und Schein klaffen gar allzu oft weit, sehr weit auseinander. Wo viel Schein ist, ist leider oftmals allzu wenig Sein. Die meisten Menschen fallen jedoch bereitwillig auf den gebotenen Kulissenzauber herein, sind gar nicht mehr fähig ... oder willens dahinter zu schauen, und genau so handeln sie auch. Und warum? Um Eindruck zu schinden, um Einfluss und Macht zu erlangen, einzig und allein darum geht es doch, und dafür verkaufen sie sich und andere. Leider. Und alle, fast alle spielen diese Komödie mit. Ich habe nichts gegen schöne Kleider und ähnliches, im Gegenteil, doch vieles, was uns als schön und begehrenswert anzudrehen versucht wird, entpuppt sich als kurzlebige Seifenblase, folgt lediglich dem Primat der Gewinnmaximierung. Schönheit, wahre Schönheit ist von Dauer, und zudem subjektiv. Was für mich schön ist, muss für Sie noch lange nicht schön sein. Kaum einer aber wagt es, aus den von sogenannten Fachleuten aufgestellten Trends, die einem Korsett gleich die Gesellschaft strangulieren, auszubrechen. Und mit dieser Hörigkeit und blauäugigen Gutgläubigkeit lässt sich gutes, das heißt schnelles Geld verdienen- Wahrscheinlich aber wollen die Menschen gegängelt werden, nur muss dies geschickt gemacht sein, damit sie nicht merken, wie viel sie von ihrer ach so hochgehaltenen Individualität bereits preisgegeben haben. Rede den Menschen ein, wenn sie dies und das täten, dann seien sie wer, dann glauben sie es in aller Regel auch. So läuft es in der Werbung, im Beruf, in der Politik - überall. Und macht einer den Mund auf, dann gilt er als Spinner, als Utopist, renitenter Querulant, und kann er den Mund gar nicht halten, räumt man ihn notfalls auf die ein oder andere Art und Weise aus dem Weg.“ Claude dämpft seine Erregung, schraubt seine Verbitterung zurück: „Einiges von dem, was Philipp fotografiert hat, war wirklich gut, vieles aber war, auch in seinen Augen, total verrückt und überzogen. Warum er es dann gemacht hat, werden Sie fragen. Sie werden lachen: des Geldes wegen. Manche geben für ihr Image horrende Summen aus, also ließ er sie zur Ader, wobei jene ihm noch dankbar waren. Kein Wunder also, dass meinen Bruder immer wieder Zweifel bezüglich seiner Arbeit überkamen, dass er sich als Mitläufer, Mittäter fühlte, der sich der gleichen subtilen Verbrechen schuldig mache, gegen die wir - er und ich - anzugehen bemüht waren. Und obwohl wir uns des Zwiespaltes bewusst waren, habe ich ihn ermuntert weiterzumachen, denn er verstand es meisterhaft, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Er besaß jene Intuition, die nötig ist, um aus der Masse der Modefotografen hervorzustechen. Mode war sein Metier, das wusste er, dazu bekannte er sich. Um den von ihm mit angerichteten Schaden irgendwie wieder gutzumachen, haben wir uns daher überlegt, was wir tun können, um unser, oder besser sein Gewissen wenigstens so einigermaßen wieder ins Lot zu bringen. So ließ er schließlich dreißig Prozent seiner Einnahmen diversen Umweltorganisationen und humanitären Hilfseinrichtungen zukommen, außerdem legte er zwanzig Prozent in einem Fond an, mit dem wir Projekte in der Dritten Welt unterstützen beziehungsweise sogar selbst aufgebaut haben. Außerdem hat er sich, soweit ihm sein Beruf Zeit dafür ließ, in einer Reihe von Organisationen betätigt, die sich zum Beispiel um die Wiedereingliederung ehemaliger Drogensüchtiger kümmern. Glauben Sie mir, er war sich des Dilemmas, in dem er sich befand, sehr wohl bewusst, und auch nicht glücklich darüber. Doch sah er in seiner Tätigkeit, in dem damit verdienten Geld eine Chance, anderen zu helfen, einen - wenn auch winzigen - Teil des Geldes, das für den Luxus eines kleinen Bevölkerungsanteils ausgegeben wird, dorthin umzuleiten, wo es wirklich gebraucht wird. Bei alledem war er allerdings indes Realist genug, seine Möglichkeiten und Grenzen abschätzen zu können. Dass er bei den Idealen, die er verfocht, nicht nur auf Gegenliebe stieß, dürfte Sie nicht verwundern, aber Feinde, nein, Feinde, die ihm nach dem Leben trachteten, hatte er meines Wissens deswegen nicht. Dazu war er viel zu tolerant. Er versuchte zu überzeugen, und zwar durch das eigene Beispiel. Anderen etwas abzuverlangen, wozu er selber nicht auch bereit gewesen wäre, dies wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Sein Engagement war ehrlich, das spürte jeder, der mit ihm zu tun hatte, mit ihm redete. Dafür schätzte ihn ein jeder, auch wenn man anderer Meinung war als er.“ Erleichtert und irgendwie neu motiviert fühlt sich Claude, nachdem er sein Herz ausgeschüttet hat, obwohl er sich keineswegs sicher ist, ob das Gesagte bei seinen Zuhörern auch richtig verstanden wird. „Ich erzähle Ihnen dies alles, damit Sie sich ein Bild von meinem Bruder machen können. Vielleicht hilft es Ihnen ja bei Ihren Ermittlungen.“

„Möglich.“ Krüger klingt nicht gerade überzeugt. Zwar hilft ihm das soeben Gehörte dabei, sich ein erstes, oberflächliches Persönlichkeitsbild des Ermordeten zu machen, bei seiner Suche nach einem Motiv bringt es ihn jedoch momentan nicht weiter. „Vorläufig wäre das alles, Herr Duchamp. Halten Sie sich aber bitte noch solange zur Verfügung, bis wir unsere Arbeit hier beendet haben.“ Sich zur Seite drehend wendet sich der Kommissar an seinen Kollegen: „Sag mal, was ist mit den Nachbarn. Haben die nicht irgendetwas bemerkt oder beobachtet?“ Claude schnappt noch die Verneinung und den Hinweis Mihailovics auf, dass nur einer der Mieter zwischenzeitlich nach Hause gekommen sei, dann lösen sich die Stimmen der Kriminalbeamten und der von den Beamten der Spurensicherung gewobene Stimmen- und Geräuschteppich zusehends auf. Es berührt ihn eigenartig, fremde Leute in den Sachen und im Privatleben seines Bruders herumstöbern zu sehen, ihre Akribie, mit der sie sich Stück für Stück eine Vorstellung davon zu verschaffen versuchen, wer der Ermordete war, wie er war, was jemanden dazu veranlasst haben könnte, ihn kaltblütig zu erschießen.

Philipp und er konnten nie verstehen, wie sich ein Mensch das Recht anmaßen kann, über das Leben eines anderen zu entscheiden, ganz gleich ob als Einzeltäter oder als Vertreter eines politischen Systems zur Durchsetzung angeblicher staatlicher Sicherheitsinteressen. Im Antlitz eines jeden einzelnen stehe seine Lebensgeschichte geschrieben, aus den Augen eines jeden lasse sich dessen Charakter herauslesen, dies war Philipps Überzeugung, deren Richtigkeit er des Öfteren auf überzeugende Art und Weise unter Beweis zu stellen vermocht hatte. „Lasse dir beim ersten Mal nichts vorgaukeln“, hatte er seinen Bruder in diese Kunst eingewiesen, „manchmal musst du lange warten, doch irgendwann erkennst du das wahre Gesicht deines Gegenübers, und fast immer verrät er sich durch seine Augen. Ob Gier, Hass oder Neid, Zuneigung, Sanftmut oder Melancholie, Aggressivität, Hoffnungslosigkeit oder Eitelkeit, Selbstbewusstsein, Kriecherei oder Koketterie, sie alle, und all die vielen Nuancen dazwischen beziehungsweise Kombinationen daraus, offenbaren sich in ihnen, du musst nur willens und fähig sein, die Zeichen und Züge richtig zu deuten, hinter die meist vorgehaltene Maske zu blicken.“ Philipp hatte ihn aber auch gewarnt, vor den Enttäuschungen, die er dadurch erfahren werde, denn schon bald werde er bemerken, wie viele Menschen eine Maske trügen. „Doch wirst du so auch deine wahren Freunde erkennen, auch wenn es nur sehr wenige sein werden. Aber auf sie ist Verlass. Und diese Erkenntnis wiegt viele Ernüchterungen auf.“ Und doch schien sich Philipp zumindest in einem Menschen geirrt zu haben: ein - dies belegt der leblose Körper in der Wohnzimmermitte nur allzu deutlich - fataler Irrtum.

Als Belegmaterial für seines Bruders These versteht Claude die beiden Fotoserien, die in schwarz eloxierten Bilderrahmen die Wände des Eingangsflures zieren. Sie gehören offensichtlich zu den neueren Arbeiten Philipps, zumindest sind sie Claude völlig unbekannt. Eine der beiden Schwarzweißserien, die kleinformatigere von beiden, links vom Eingang, bestehend aus fünf Aufnahmen, ist partiell handkoloriert, zur Steigerung und Akzentuierung eines jeden dieser eigenwilligen Porträts, so die Vermutung des in der Betrachtung und Analyse Versunkenen. Ebenso wie aus den Bildern auf der anderen Flurseite blickt ihn aus jeder dieser zirka vierzig Zentimeter breiten Aufnahmen ein Augenpaar an, herausgeschnitten aus den Gesichtern verschiedenster Menschen. Zwei Augen und ein Stück des Nasenbeins, das ist alles, und doch hinterlassen sie durch diese Komprimierung beim Betrachter einen nicht für möglich gehaltenen Eindruck. Die bildhafte Verdichtung, Herauslösung lässt Philipps These auf gar eindringliche Weise spürbar, erlebbar, nachvollziehbar werden. Ob in den mit überaus feinen Farbakzenten überarbeiteten Bildern oder in den reinen Schwarzweißaufnahmen auf der gegenüberliegenden Seite, in jedem einzelnen von ihnen steckt jener unverwechselbare, einmalige Ausdruck, der Charaktere formt.

Nicht nur als Beobachter fühlt sich Claude angesichts der Augenpaare rings um ihn herum, vielmehr fühlt er sich zusehends in die Rolle des Beobachteten versetzt, zur Selbstreflexion aufgefordert. Selbstbeobachtung, Selbstprüfung, sich selbst korrigieren, Fehler unumwunden eingestehen können, Maximen, an denen er und Philipp sich ausrichteten, es zumindest versuchten. Im stillen Zwiegespräch mit den eigenwilligen Aufnahmen seines Bruders werden diese gleichsam zu Mahnbildern an die eigene Person, Aufrufe zur kritischen Reflexion des Ichs, zur Zurücknahme des in westlichen Kulturkreisen weitverbreiteten überzogenen Egoismus, der zur Zersplitterung von auf lange Sicht überlebenswichtigen Gesellschaftsstrukturen geführt hat, Irritation und Kulturpessimismus, wenn nicht gar Kulturlosigkeit hinterlassend.

Ein von dem geheimnisvollen Licht Asiens durchflutetes Augenpaar umhüllt Claudes Gedanken mit der ihm so vertrauten Atmosphäre fernöstlicher Regionen, lässt ihn mental eintauchen in jene Welt, die ihn seit seiner Schulzeit fasziniert, ihm seither Halt gewährt, in der er sich wiederfindet, die durch zahlreiche Reisen ein Teil seines Ichs geworden ist, der dominanteste Teil seines Ichs. In diesen Ländern, bei diesen Menschen hat er sein Ego als das begreifen gelernt, was es wirklich ist, nämlich ein winziger Teil des Ganzen, hin und wieder ein mehr oder weniger bedeutsamer, insgesamt aber einer, der gleichberechtigt, gleichwertig neben unzähligen anderen steht, dabei nicht weniger als sie ist, aber auch nicht mehr. Seine Fähigkeiten und Möglichkeiten im Rahmen sozialer Gerechtigkeit einzuschätzen, sich zu bescheiden, seine Person nicht allzu wichtig zu nehmen, den anderen uneingeschränkt zu respektieren, in jeder Lebenslage, in jeder Lebensform, all diese Erfahrungen verdankt er zum größten Teil dem Umgang mit Menschen, hinter deren materieller Armut und Not oftmals mehr Würde und Menschlichkeit erlebbar waren als hinter den prunkvollen Fassaden und Roben genusssüchtiger Wohlstandsgesellschaften, deren gedankliche und lebensphilosophische Tiefenlosigkeit ihn in zunehmendem Maße erschreckt, Schlimmes befürchten lässt in Bezug auf das globale Miteinander.

Sind dies die Augen jener Schönen, deren Bilder lebensgroß im Wohnzimmer hängen, die mit ihrer Sinnlichkeit dem Wort ‚Eros‘ neuen Gehalt geben? Philipps Geliebte?

Daneben das Augenporträt eines energisch, entschlossen dreinblickenden Mannes, den Claude aufgrund der um die Augenwinkel spielenden Falten und sich andeutenden Tränensäcke auf fünfzig bis fünfundfünfzig schätzt. Von dicken Augenbrauen überwölbt, versinken die Augen in tiefen Höhlen, zwischen denen sich der scharfkantige Nasenansatz deutlich heraushebt. Die kleinen Pupillen vermitteln den Eindruck leicht entfachbarer Aggressivität. Philipp schien den scharfen Kontrast zwischen den beiden nebeneinander aufgehängten Bildern bewusst gewählt zu haben, um so den Ausdruck eines jeden von beiden noch zu verstärken. Hier das Harte, Rohe, Ich-Bezogene, dort das Weiche, Fügsame, Mitleidvolle - zwei Welten, festgehalten in zwei brillanten Aufnahmen, die die gegensätzlichen Pole menschlicher Natur für Claude auf bislang ungesehene Art und Weise sichtbar, spürbar machen. Ein fröstelnder Schauer läuft ihm angesichts dieser geballten Aussagekraft den Rücken hinunter.

Noch in anderen Paaren versuchte der Ermordete ganz offensichtlich Gegensätze menschlichen Lebens, menschlicher Erscheinungsformen einzufangen. Der tief zerfurchte Greis - oder ist es eine Frau? - hängt neben dem unschuldig in die Welt schauenden Neugeborenen, dessen Fragen an das ihm noch bevorstehende Leben der daneben hängende altersweise Blick zu beantworten scheint, oder es zumindest versucht. Am Ende des Ganges, neben der Wohnzimmertür, durch die die Sonne, gedämpft von den noch immer gesperrt heruntergelassenen Rouleaus, nachmittäglich warm Einlass in die Wohnung begehrt, der Versuch, eine Brücke zwischen Schwarz und Weiß zu schlagen: Ein Streifen fast kontrastlosen Schwarzes, in dem klares Augenweiß ebenso dunkle Pupillen einfängt, behauptet sich neben der fast genauso kontrastarmen Blässe der Aufnahme daneben, aus der zwei dunkle Pupillen hervorstechen.

Unwillkürlich tritt Claude in das vom Eingang aus rechts gelegene Zimmer, dessen Tür sperrangelweit offen steht. Spurensuche auch hier. Er erkennt in einem der beiden den Raum Inspizierenden den von Hauptkommissar Krüger Roland Genannten. Geradezu gleisend das Licht, das von keinem Rollladen am Einfall gehindert das Zimmer überflutet. Fotokoffer und -taschen, Studioleuchten, Reflexschirme und weiteres fotografisches Equipment füllen den vorderen Teil des Raumes, an der Wand rechts des Eingangs, durch deren Türdurchbruch Claude im Lichte einer Neonlampe das eigentliche Labor erkennt, Stahlschränke: Philipps Archiv. Unter dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite ein Leuchttisch mit danebengerücktem Arbeits- und Schneidetisch einschließlich darunter geschobenem Drehstuhl. Der ihm mit Namen bislang unbekannte der beiden im Raum sich aufhaltenden Kriminalbeamten verschwindet in Richtung Labor, wohin ihm Claude langsamen Schrittes folgt.

Der schwere schwarze Samtvorhang hinter der Tür, der vor unbeabsichtigtem Lichteinfall während der Laborarbeit zusätzlich Schutz bieten soll, ist zurückgeschoben. Gleich neben der Tür jene an einen Feuermelder erinnernde Warnleuchte, die den Eintretenden signalisieren soll, ob im Labor gearbeitet wird oder nicht. Claude kennt diese bereits aus Mailand, wo Philipp sie sich hatte installieren lassen, nachdem ihm Freunde ein paar Mal unbeabsichtigt die Früchte stundenlanger Arbeit zunichte gemacht hatten. ‚Erloschen dies Licht, wie dasjenige meines Bruders’, sinniert der ins Fotolabor Tretende.

Neonlicht erhellt den nach außen hermetisch abgedunkelten Raum, dessen Fenster Philipp durch einen schwarzen, lichtundurchlässigen Bretterverschlag verbaut hat. Ein großes Waschbecken aus Edelstahl und Regalbretter voller Fotochemikalien, ein fast zwei Meter langer Arbeitstisch, darauf Vergrößerer und Belichtungsmesser, der Schrank, in dem Philipp seine Fotopapiere aufzubewahren pflegte. ‚Philipps Hexenküche’ hatten sie sein Labor immer genannt, denn in ihm wurde der Ermordete zum Magier, zauberte er jene erstaunlichen, sich in den Köpfen der Betrachter festsetzenden Bilder hervor, die zu seinem Markenzeichen geworden waren, ohne dabei in Klischees abzudriften. Wohl eines seiner letzten Zauberkunststücke waren die im Flur hängenden Augenpaare, die Claude hier zum ersten Mal sieht, in der sein Bruder eine völlig neue Ausdrucksform, Aussageform gefunden hatte.

„Haben Sie schon irgendetwas gefunden?“, wendet er sich an die beiden Fahnder, deren Verneinung ihn nicht überrascht.

„Ist Ihnen mittlerweile etwas aufgefallen, selbst wenn Sie es für unwichtig, unbedeutend halten mögen. Uns hilft alles“, suchen die Befragten ihrerseits neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Auch Claude bleibt lediglich eine negative Antwort, was ihn verstimmt, zu gerne möchte er helfen Licht in die für ihn völlig unverständliche Tat zu bringen, allerdings geht ihm jegliche Ahnung ab, wo er seine Nachforschungen ansetzen könnte. Beklommen von der Abgeschlossenheit des Raumes zieht es ihn wieder in Richtung Wohnzimmer, in dem zwischenzeitlich die Rouleaus hochgezogen worden sind, die wärmenden frühnachmittäglichen Sonnenstrahlen die beklemmende Szenerie in eine als unwahr, unpassend empfundene Geruhsamkeit hüllen. Müdigkeit überfällt Claude, ursächlich bedingt durch die Zeitverschiebung, ausgelöst von der so unvermutet anbrandenden sonnendurchfluteten Nachmittagsatmosphäre, in der von der Härte, Brutalität des Lebens abgeklärte Menschen emotionslos ihrem Job nachgehen. Erschöpft lässt er sich in einen der Sessel fallen, die zu viert um einen großen, runden Glastisch gruppiert sind. Sich zurücklehnend, dämpft der ihn überwältigende Wunsch nach Schlaf die Geräusche aus dem nebenan liegenden Schlafzimmer und vom Balkon, auf dem er den Kommissar und dessen Assistenten - sich in der geöffneten Glastür widerspiegelnd - hantieren sieht. Von unsichtbaren Kräften gelenkt, sinken die Augenlider nieder, die wirr umher kreisenden Gedanken zerfließen im Nichts, doch schon schrecken ihn sich nähernde Stimmen und metallisches Klappern auf. Scheppernd setzen die beiden Eingetretenen einen silbergrauen Metallkasten neben seinem toten Bruder ab, wie er ihm aus Kriminalfilmen bestens bekannt ist, der ihm stets einen Schauder des Schreckens eingeflößt hat wegen seiner Kälte und Formlosigkeit, gleichsam ein Spiegelbild des Geschehenen, an dessen unumkehrbarem Ende er steht.

„Herr Kommissar.“ Krüger lässt eine Weile auf sich warten, gibt Mihailovic, soweit Claude dies in der Spiegelung erkennen kann, gestikulierend noch irgendeine Anweisung. Während er sodann vom Balkon ins Zimmer tritt, richtet sich einer der beiden Träger, mit einer Kopfbewegung auf den Toten weisend, an den Hereinkommenden: „Können wir ihn schon mitnehmen, Herr Kommissar, oder brauchen Sie ihn noch?“

„Moment mal! Stephan, seit ihr hier fertig? Die fragen, ob sie den Toten mitnehmen können.“ Die Emotionslosigkeit und Sachlichkeit, mit der - als ob es sich um irgendeinen Gegenstand handle - über seinen Bruder gesprochen wird, sticht Claude tief ins Gemüt; kaum dass er sich beherrschen kann, seiner Entrüstung, seinem Schmerz lauthals Gehör zu verschaffen.

Aus dem Schlafzimmer kommt das Okay, dem Krüger durch eine ausladende Armbewegung in Richtung des Getöteten seinen Segen gibt. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machen sich die beiden Dunkel-Gekleideten an die Arbeit. Das Abheben des Deckels, das vorsichtige Hochheben des Niedergestreckten, gepaart mit dem Bemühen, die auf den Teppich gezeichneten Umrisse nicht zu verwischen, das Hineinlegen des leblosen, schwer durchhängenden Körpers in den Metallsarg, das fachmännische Zurechtrücken eben desselben, das Wiederaufsetzen des Oberteils - alles geschieht routinemäßig, mit fast bewundernswerter Gelassenheit. Waren es zwanzig oder dreißig Sekunden? Mehr auf keinen Fall. Der Kommissar tauscht noch ein paar Worte mit den beiden Sargträgern, doch dringen diese nicht mehr in Claudes Bewusstsein, sein Blick fixiert - die Sinne urplötzlich wieder hellwach - den nunmehr inhaltslosen Strichzug, der sich über den Teppichboden zieht, die Formen eines menschlichen Körpers in groben Zügen nachzeichnend, die Persönlichkeit, Individualität seines Bruders damit mit einem Male auf ernüchternde Weise zerstörend, ja verneinend.

Seine Augen folgen den Konturen der Linie, der Lebenslinie, oder besser vielleicht Todeslinie seines Bruders, die ihm die Grenzen, die Begrenztheit menschlichen Daseins nachhaltig bewusst werden lässt. Wie er selbst, war Philipp eine Kämpfernatur, die wusste, wofür sie einzutreten hatte. In langen Diskussionen hatten sie Pläne gefasst, Ideen ausformuliert, wie sie, mit Hilfe ihres Mediums und den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihren Beitrag zur Bewahrung der Welt mit all ihren mannigfaltigen Daseinsformen beisteuern könnten. War er gewiss auch kein lautstarker Verfechter und Propagandist ihrer Vorstellungen gewesen, so vermochte es Philipp weit mehr als er selbst, sich und seine Thesen auch vor größerem Publikum selbstbewusst und überzeugend zu vertreten. Er selber scheute große Auditorien, bemühte sich durch die ihm eigene stille Überzeugungsarbeit seinen Teil beizutragen, in Form von Büchern, Artikeln und Ausstellungen, in denen er die noch immer existierenden Schönheiten dieser Welt einzufangen und zu präsentieren versuchte, andererseits aber auch auf die Miseren und Missstände schonungslos hinwies. Ihre Vergangenheit hatte sie gelehrt, das Leben als Kampf anzusehen, als Kampf um und für das gemeinsame Überleben, einen Kampf, in dem sie allerdings nur friedliche, deswegen aber keineswegs weniger streitbare Mittel zuließen. Bilder und Wörter waren ihre Waffen, mit denen sie mitunter schmerzlicher trafen als dies martialisches Rüstzeug vermocht hätte. Es schien in der Familie zu liegen. Ihr Großvater, in den sinnlosen Metzeleien bei Verdun anno 1916 von Granatsplittern schwer verletzt, hatte sein Überleben der aufopferungsvollen Bereitschaft einer zwanzigjährigen Krankenschwester zu verdanken gehabt, die die Mitschuld ihrer Nation an diesem Blutbad persönlich nur dadurch einigermaßen ertragbar gefunden hatte, dass sie sich bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit für die Betreuung verletzter Kriegsgefangener einsetzte. Kaum einer habe ihm damals ernsthafte Überlebenschancen eingeräumt, als er eingeliefert worden sei, hatte ihnen - seinem Bruder und ihm - ihre Großmutter erzählt. Als Paul Duchamp, ihr Großvater, nach einer Woche der Bewusstlosigkeit endlich die Augen geöffnet habe, sei sie gerade an seinem Bett gestanden und habe in diesem Augenblick, in dem ein zum Sterben verurteilt Geglaubter ins Leben zurückgekehrt sei, jene mit Worten nicht fassbare Macht gespürt, die Liebende beim Anblick ihres Auserwählten befällt. Mehr als ein halbes Jahr habe es gedauert, bis Paul wieder soweit hergestellt gewesen sei, dass er in ein Kriegsgefangenenlager überwiesen werden konnte. So unendlich lang sie die Stunden an seinem Krankenlager empfunden hatten, wie im Fluge vergangen seien sie ihnen vorgekommen, als sie, die sich allen von oben verordneten Feindbildern zum Trotz ineinander verliebt hatten, auseinandergerissen worden seien, nicht wissend, ob sie einander jemals wiedersehen würden, könnten, dürften. Beider Wille und Einsicht sei jedoch stärker gewesen als obrigkeitliche Verblendung. Gleich nach Kriegsende habe er, der Franzose, begonnen, sie, die Deutsche, zu suchen. Ein Jahr habe es gedauert, bis sie einander wieder gegenübergestanden seien, wobei jeder von ihnen jenes unauslöschliche Feuer gespürt habe, das zur Umschiffung und Überwindung mutwillig und gedankenlos aufgebauter Vorurteile notwendig ist. 1920 habe Paul seine Wilhelmine dann vor den Traualtar geführt, in einem kleinen Dorf an der französisch-belgischen Grenze, auf neutralem Boden. Als 1924 Jean, ihr Erstgeborener, zur Welt gekommen sei, hätten sie bereits seit knapp zwei Jahren in der Nähe von Aachen gelebt, konfrontiert mit all den Problemen, die eine Ehe wie die ihre zu dieser Zeit mit sich gebracht habe. Sie seien bestrebt gewesen, ihren insgesamt vier Kindern, zwei Jungen und zwei Mädchen, jenen Spross der Liberalität einzupflanzen, der völkertrennende Barrieren niederzureißen imstande sei. Jean, Philipps und Claudes Vater, hatte seinen Söhnen oft von den schmerzhaft empfundenen Sticheleien berichtet, mit denen er und seine Geschwister immer und immer wieder drangsaliert worden seien, die leicht in Beleidigungen, und mitunter auch in offenen Fremdenhass umgeschlagen seien. Die Ermahnungen seiner Eltern, stets friedlich und auf Ausgleich bedacht zu bleiben, seien angesichts der sich epidemieartig ausbreitenden braunen Gesinnung nicht immer leicht einzuhalten gewesen, und doch habe in ihnen, trotz der erschreckenden Umwälzungen, die Überzeugung gesiegt, dass Auseinandersetzungen nur mit friedlichen Mitteln zu führen seien. Nur eine schwere Lungenentzündung hatte ihren Vater davor bewahrt, gegen das Heimatland seines Vaters ins Feld ziehen zu müssen. Ihr Großvater selbst, in den letzten Wochen noch zum Volkssturm gepresst, hatte die erstbeste Gelegenheit genutzt und war übergelaufen, so dass er bereits einige Wochen nach Kriegsende zu seiner Familie zurückkehren konnte, die den Wahn der vorausgegangenen Jahre relativ unbeschadet überstanden hatte, sah man von den psychischen Auswirkungen einmal ab. Und dann, in den Nachkriegsjahren, war jene Frucht erst richtig aufgegangen, die ihre Großeltern gesät hatten, wie Claude aus dem Munde seines Vaters erfuhr. Alexander, der jüngste der vier Geschwister, sei Anfang der sechziger Jahre als Entwicklungshelfer nach Afrika gegangen, später dann nach Südamerika, wo auch Marie, die zweitälteste, mit ihrem brasilianischen Mann und Familie lebte und sich für die vom Leben Benachteiligten einsetzte. Isabelle, die Drittgeborene, sei nach ihrem Studium als Austauschlehrerin nach Frankreich gegangen und habe sich dort niedergelassen. In zahlreichen deutsch-französischen Austauschorganisationen tätig, sei sie 1973 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ihre Eltern - Jean und Katharina - schließlich zogen sich, nach dem Ausscheiden des Vaters aus dem Auswärtigen Amt nach Südfrankreich zurück, wo sie Seminare zu Fragen der Dritten Welt abhielten.

Philipp und er führten das Werk ihrer Eltern und Großeltern zur Aussöhnung der Völker auf ihre ganz spezifische Art und Weise fort, fingen in Wort und Bild ein, was einerseits weltumspannend verbindet, andererseits aber prangerten sie - durch ihre Objektive und Worte - an, wenn gegen die Menschlichkeit, gegen die Menschheit und deren Lebensgrundlagen gesündigt wurde. Mit neunzehn hatte sein Bruder bei verschiedenen Lokalzeitungen angefangen. Schon bald fiel seine einfühlsame Sehweise, die aber auch so schonungslos offenlegend sein konnte, auf. Aufträge für namhafte Magazine folgten. Rein zufällig entdeckte er dann sein Faible für die Modefotografie. Dem Sujet selbst kritisch gegenüberstehend, nutzte er die sich ihm bietende Chance, damit das Geld zu verdienen, das sie für die Umsetzung und In-die-Wege-Leitung ihrer weltanschaulichen Ideale benötigten. Ganz hatte er der Reportage indes nie abgeschworen, doch ließen ihm die zahlreichen Aufträge während der letzten Jahre immer weniger Zeit dafür. Diesen Part übernahm, wenn auch aus einem etwas anderen Betrachtungswinkel heraus, er, Claude, dem es dabei überwiegend um die ästhetische Umsetzung der Schönheiten und Besonderheiten der Länder und deren Völker ging. Ruhiger und zurückhaltender als sein Bruder, lag ihm die - wenn nötig - knallharte, eiskalte Gangart Philipps im Grunde genommen nicht, so dass er sich von Fall zu Fall, ihrer beider Ziele vor Augen, neu motivieren musste. Sie hatten einander in so mancher brenzligen Situation beigestanden, nun war er von seinem gerade neununddreißig Jahre alten Bruder auf dem gemeinsam eingeschlagenen Weg alleingelassen worden.

In seinen Gedanken und Erinnerungen verloren, nimmt Claude das Geschehen um sich herum nur schemenhaft wahr, Geräusche und Stimmen dringen verweht, wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Er weiß nicht, wie lange er so dagesessen ist, nachdem sie den Leichnam seines Bruders hinausgetragen haben. Eine Weile noch starrt er teilnahmslos in den Raum, ehe ihn die Worte des Hauptkommissars in die Wirklichkeit zurückholen: „Für den Moment sind wir hier fertig, Herr Duchamp. Ist Ihnen mittlerweile noch irgendwas eingefallen oder aufgefallen?“

„Wie?“ Claude muss sich erst wieder neu orientieren. „Nein, nichts.“ Und während er sich, etwas schlaftrunken, erhebt: „Und was geschieht jetzt? Kann ich die Wohnung benutzen? Ich wollte ja bei Philipp wohnen, also habe ich mich noch nach keinem Zimmer umgesehen.“

„Es tut mir leid, Herr Duchamp, aber für den Moment müssen wir die Wohnung Ihres Bruders versiegeln. Ich hoffe allerdings, dass dies nicht allzu lange dauert. Wir werden Sie aber auf jeden Fall verständigen, wenn es soweit ist. Ich wäre Ihnen daher dankbar, könnten Sie uns sobald als möglich mitteilen, wo Sie vorübergehend untergekommen sind. Wenn Sie wollen, bringt mein Kollege Sie zu einem Hotel, das hier ganz in der Nähe liegt.“

„Das wäre nett, danke.“ Noch einmal lässt Claude seine Blicke durch das Zimmer wandern, Krüger hingegen gibt Mihailovic Anweisung, sich um ihn zu kümmern.

„Noch eine Frage“, wendet sich Hauptkommissar Krüger erneut an Claude, „wusste Ihr Bruder eigentlich, dass Sie kommen?“

„Ich weiß nicht. Ich habe zwar drei-, viermal versucht ihn telefonisch zu erreichen, er war jedoch nie zu Hause, lediglich sein Anrufbeantworter meldete sich. Ich habe ihm darauf mitgeteilt, dass ich heute kommen würde, ob er das Band aber auch abgehört hat, das weiß ich nicht, ich denke aber schon, schließlich gehen ... gingen täglich viele Anfragen bei ihm ein. Ich nehme also schon an, dass er das Band jeden Abend abgehört hat, er von meinem Kommen somit wusste."

„Habt ihr das Band gecheckt?“

„Klar, Chef. Nichts darauf.“ Mihailovics Stimme drückt Zufriedenheit darüber aus, dass er dieses Detail nicht übersehen hat.

„Gar nichts?“

„Nein.“

„Hm. Okay. Kümmere dich bitte um Herrn Duchamp. Bring ihn zum Hotel, und falls er dort bleibt, lass dir gleich Zimmer- und Telefonnummer geben.“ Zu Claude: „Auf Wiedersehen. Wir halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden.“

„Danke. Wann, glauben Sie, wird mein Bruder für die Bestattung freigegeben?“

„Drei, vier Tage wird es schon noch dauern, denke ich. Wir werden Sie rechtzeitig informieren.“ Schon im Weggehen begriffen, dreht sich Krüger nochmals um und langt in die Brusttasche seines Jacketts: „Meine Karte mit meiner Nummer im Präsidium. Meine Privatnummer schreibe ich Ihnen auf die Rückseite.“ Sekunden später nimmt Claude das Kärtchen entgegen und steckt es in seine Westentasche. Im Gefolge der abziehenden Spurensicherer verlässt er an der Seite Mihailovics den Ort des Verbrechens, während sich der Vorsatz pochend in sein Gehirn meißelt: ‚Du bist nicht umsonst gestorben, Philipp, wir werden deinen Mörder finden, und ich werde unser Werk fortsetzen, allein, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Das verspreche ich dir, mein Bruder!’

Handover

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