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Montag, 28. April 1997, 8:00 Uhr

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Das stakkatohafte Piepsen des Weckers schneidet durch seine Träume, holt ihn schlaftrunken aus dem Wirrwarr skurriler Phantasien voller Fratzen, deren hämisches Gelächter nahtlos in eben jenes schlafraubende Geräusch übergeht, das er durch eine reflexartige Armbewegung zum Verstummen zu bringen versucht, was ihm allerdings erst im dritten Anlauf gelingt, eben um jene Sekunden zu spät, die die Möglichkeit des Wieder-Einschlafens zunichtemachen, ihn jedoch noch minutenlang unentschlossen ihm Bett ausharren lassen. Nur allmählich beginnen sich seine Gedanken zu ordnen, taucht der Vorabend, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher werdend wieder vor ihm auf, ein Abend, an dem er sich dank des humorigen Wesens von Eva-Marie so gut amüsiert hat wie schon lange nicht, es ihr tatsächlich gelang, bei ihm sämtliche Gedanken an seinen Bruder für einige Stunden vollständig auszublenden. Und der Vietnamese hielt in der Tat, was sie versprochen hatte. Alles in allem ein rundum entspannender Abend, der erst gegen ein Uhr zu Ende ging und, aufgrund der ziemlich miesen Nacht zuvor, nunmehr seinen Tribut fordert, obwohl die durch das Fenster herein lächelnde Frühlingssonne ihm das Aufstehen eigentlich erleichtern sollte. Doch erst der Gedanke an Eva-Maries Aufzeichnungen vertreibt jenen Rest an Schläfrigkeit und Trägheit, der einen zwischen Liegenbleiben und Aufstehen zaudern lässt. Wie elektrisiert hüpft Claude mit einem Sprung aus den Federn, setzt das Wasser für den Kaffee auf und dreht anschließend das Wasser der Dusche kontinuierlich von lauwarm auf eiskalt, was ihm zwar eine Gänsehaut bereitet, ihn andererseits aber putzmunter macht.

Fertig angezogen, die dampfende Tasse wohlriechenden Kaffees in der Hand, lässt er sich behaglich im am Fenster stehenden Sessel nieder, neben dem die ominöse Mappe auf dem Tisch liegt, herausfordernd, seiner Neugier harrend, als wolle sie sagen: „Nun nimm mich schon endlich in die Hand!“

‚Nun denn’, animiert sich Claude im Stillen, und während er mit der Rechten die Kaffeetasse abstellt, langt er mit der Linken nach den Aufzeichnungen, deren ihm bislang unbekannter Inhalt ihn gedanklich bereits seit Tagen verfolgt.

Wie er an den in den Unterlagen auftauchenden Daten erkennt, hat Eva-Marie schon vor sechs Jahren mit der Faktensammlung begonnen, wobei sie in den ersten drei Jahren allem Anschein nach besonders intensiv damit beschäftigt gewesen war, denn die Zahl der Eintragungen während der letzten drei Jahre fällt merklich geringer aus als im davorliegenden Zeitraum. Daten und Zahlen über höchstwahrscheinlich krumme Geschäfte, verschlungene, kaum aufzudröselnde Verbindungen zwischen verschiedenen Organisationen und Personen, Listen, wem welches Lokal, welches Bordell gehört, wer zu wem Kontakt pflegt, wer wahrscheinlich wen erpresst, ein noch weitgehend ungeordnetes Sammelsurium an Informationen, die, so die jeweiligen Vermerke, zum Teil auf Berichten von Informanten, zum Teil auf eigenen Spekulationen beruhen. Und in all ihnen Namen, Namen und nochmals Namen, ihm teilweise aus den Ausführungen der Polizei oder im Zusammenhang mit seinen eigenen Recherchen bekannt, größerenteils bis dato allerdings ungehört, ungelesen. Was Claude auffällt, ist die Häufigkeit, mit der in Eva-Maries Akten Maximilian Großkopf, Lorenz Kowalzik und ein ihm bisher unbekannter Mann namens Paul Bertram auftauchen, sie alle drei praktisch mit jeder Art illegaler und krimineller Geschäfte in Verbindung gebracht werden, vom Glücksspiel über Hehlerei und Zuhälterei bis hin zu Menschenhandel, letzterer in Form von Zwangsprostitution illegal eingeschleuster Ausländerinnen, und nicht zu vergessen der Drogenhandel, in dem die drei gleichfalls kräftig mitzumischen scheinen, auch wenn die engagierte Journalistin dafür keine eindeutigen Beweise finden konnte.

Doch selbst nach zweimaliger gründlicher Lektüre kristallisiert sich aus der Fülle der zusammengetragenen Informationen und den daraus gefolgerten Schlüssen und Vermutungen für Claude kein konkreter Anhaltspunkt heraus, der ihn im Falle seines Bruders weiterbringen könnte. Dass die genannten Herren, und all die Mit-Aufgeführten vermutlich ebenfalls, keine Unschuldslämmer sind, wusste er schon vorher, nur in welchem Umfang sie im Clinch mit der Legalität liegen, dies ist im neu, wobei vor allem die zahlreichen Querverbindungen auffallen, die - trotz des Kleinkrieges innerhalb des Milieus - vermuten lassen, dass sich letztendlich nur wenige, drei, maximal vier Organisationen das Revier teilen, die bei der Absteckung der Territorien notfalls nicht gerade zimperlich umgehen, weder untereinander, geschweige denn gegenüber Außenstehenden, falls diese ins Schussfeld geraten.

Wie ein Peitschenhieb schneidet das schrille Schellen des Telefons durch Claudes Gedanken. Wie von einer Feder hochkatapultiert springt er zum Schreibtisch, um sich des Hörers zu bemächtigen. „Ja, Claude Duchamp“, meldet er sich.

„Schönen guten Morgen, Herr Duchamp“, tönt es ihm durch die Leitung entgegen, „hier Krüger. Schön dass ich Sie erreiche. Ich möchte Sie bitten aufs Kommissariat zu kommen, sobald Sie Zeit haben.“

„Gibt es etwas Neues?“ Claude spürt, wie die wenigen vom Hauptkommissar ausgesprochenen Worte seine Sinne erwartungsvoll anspannen.

„Darüber möchte ich nicht am Telefon mit Ihnen sprechen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Claudes geweckte Neugier treibt ihm den Puls hoch, lässt ihn mit gepresster Stimme in die Sprechmuschel hauchen: „In Ordnung, ich komme so schnell wie möglich. Sagen wir in zwanzig Minuten.“

„Gut, ich warte auf Sie. Bis gleich also“, beendet der Kriminalbeamte das Gespräch, das in Claude Hoffnung und Furcht zugleich hervorgerufen hat, Hoffnung dahingehend, nun endlich dem Rätsel um Philipps Tod ein Stückchen näherzukommen, Furcht deswegen, weil damit möglicherweise der Mord an seinem Bruder sich als noch sinnloser herausstellen könnte als er ihm ohnehin schon erscheint.

Ein Taxi bestellen, sich umziehen und die Schuhe anziehen, alles eine Sache von wenigen Minuten, die gedanklich gefüllt sind mit Grübeleien darüber, was ihn denn erwarte. Und als wüssten unsichtbare Mächte um seine Nervenanspannung, die jede Zeitverzögerung nur unwillig mit Gereiztheit quittieren würde, fährt das herbeigerufene Taxi just in dem Moment vor, als er aus der Hotellobby ins Freie tritt, erlaubt der erstaunlich spärlich dahinfließende Verkehr zügiges Vorankommen, scheinen alle Ampeln extra für ihn auf Grün geschaltet zu sein, so dass er sogar früher als versprochen bei Krügers Wirkungsstätte anlangt.

Mittlerweile bestens mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut, durcheilt er im Laufschritt die Flure und reißt, ohne eine Antwort auf sein Klopfen abzuwarten, fast ein wenig unwirsch die Tür zum Zimmer des Hauptkommissars auf, den er, den Telefonhörer in der Hand, an seinem Schreibtisch sitzend vorfindet. Dieser scheint, vertieft in sein Gespräch, das nicht ganz gebührliche Verhalten Claudes gar nicht registriert zu haben, winkt diesen mit seiner Rechten herein, ihn mit dieser wortlos auch zum Platz-Nehmen auffordernd.

„Entschuldigen Sie bitte“, wendet sich ihm Krüger, den Hörer schließlich auflegend und auf ihn zutretend, keine dreißig Sekunden später zu, „dass ich Sie hierher gebeten habe, doch scheint es mir wichtig zu sein.“

„Keine Ursache, Herr Kommissar, wenn Sie nur vorankommen ... und ich Ihnen möglicherweise dabei helfen kann.“

Krüger ist an seinen Tisch zurückgetreten, greift nach der auf dem Stapel zuoberst liegenden Akte am linken Ende der Platte und öffnet ihren Deckel. „Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?“, erkundigt er sich gleichzeitig mit prüfendem Blick bei Claude. „Nein, ich hatte noch keine Zeit dazu. Warum?“

„Samstagnacht gab es auf der Autobahn von Darmstadt nach Frankfurt einen schweren Verkehrsunfall, bei dem ein Mann ums Leben kam“, reagiert der Kriminalbeamte auf die Verneinung, Claude dabei einen Zeitungsausschnitt vorlegend, den er der Aktenmappe entnommen hat. „Hier, sehen Sie, über den Unfall wird in der heutigen Ausgabe groß berichtet.“

‚Mit 180 in den Tod’, springt Claude die in übergroßen, fetten Lettern auf dem Papier prangende Überschrift in die Augen, unter der ein Foto die aufgrund der starken Deformationen kaum noch als solche zu erkennenden Umrisse eines Autos zeigt, umstanden von einigen Personen, unter denen unter anderem Sanitäter und Feuerwehrleute zu erkennen sind. Noch ehe er sich jedoch dem Begleittext selbst zuwenden kann, fordert der Kommissar wieder seine Aufmerksamkeit.

„Sparen Sie sich das Durchlesen“, beginnt dieser seine Ausführungen, „was da drinnen steht, ist nicht alles, was Sie wissen sollten.“ Claude ist ganz Ohr. „Zunächst einmal zu den Fakten. Wie schon gesagt, der Unfall ereignete sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag, so gegen 22.40 Uhr. Unfallzeugen haben meinem Kollegen, der den Fall zunächst bearbeitete, berichtet, dass der Fahrer des Wagens, ein Porsche 911, möglicherweise bei einem Wettrennen mit einem anderen Auto wegen zu hoher Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug verloren habe. Zumindest wollen sie ein zweites Fahrzeug mit gleich hoher Geschwindigkeit in unmittelbarer Nähe des Porsches gesehen haben. Solche nächtlichen Wettrennen sind bedauerlicherweise keine Seltenheit, besonders am Wochenende. Oft sind dann noch Alkohol oder Drogen im Spiel. Ein Spiel, das leider immer wieder tödlich endet. Wie die Zeugen meinem Kollegen berichteten, soll der Porsche, der auf der rechten Spur fuhr, plötzlich ins Schleudern geraten und von der Fahrbahn abgekommen sein, woraufhin er sich anschließend mehrfach überschlagen hat und schließlich gegen einen Baum geprallt und völlig ausgebrannt ist. Was übrig geblieben ist, sehen Sie auf dem Foto. Das wäre in Kurzversion das, was die Augenzeugen meinem Kollegen berichteten und was Sie in der Zeitung lesen könnten.“ Krüger legt eine kleine Pause ein, so als wolle er Claude Zeit zum Verarbeiten und die Gelegenheit zum Einhaken geben, was dieser aber nicht tut, weswegen jener seinen Gesprächsfaden wieder aufgreift: „Vielleicht fragen Sie sich, warum ich mich, das heißt die Mordkommission, nun mit der Angelegenheit beschäftige. Diesbezüglich müssen Sie wissen, was die Untersuchungen bezüglich der Unfallursache bislang ergeben haben … und eben dies steht nicht in dem Zeitungsartikel, kann es auch nicht. Also, wie die Untersuchung des Wracks ergeben hat, dürfte nicht überhöhte Geschwindigkeit die Ursache des Unfalls gewesen sein, sondern höchstwahrscheinlich die Tatsache, dass auf das Fahrzeug geschossen worden ist, und zwar mehrfach, wie Einschüsse im Bereich des Tanks und des hinteren linken Kotflügels eindeutig beweisen. Zudem haben wir noch drei der Projektile in den entsprechenden Wrackteilen gefunden. Schrammspuren auf der linken hinteren Radnabe sprechen dafür, dass auch auf den hinteren Reifen geschossen wurde, doch lässt sich dies aufgrund des Brandes nicht mehr eindeutig beweisen. Und was passiert, wenn bei 180 Stundenkilometern ein Reifen platzt, können Sie sich, glaube ich, gut selber ausmalen. Und dass es sich dabei um keine alten Einschüsse handeln dürfte, sondern diese wirklich erst kurz vor dem tragischen Unfall auf den Porsche abgefeuert wurden, davon hat mich, eben als Sie hereinkamen, mein Kollege unterrichtet, der heute Morgen mit einigen Beamten unweit der Unfallstelle einige Patronenhülsen gefunden hat. Zwar sind noch keine ballistischen Untersuchungen durchgeführt worden, da derartige Dinge normalerweise aber nicht auf und entlang bundesdeutschen Autobahnen herumliegen, dürfte schon davon auszugehen sein, dass es sich bei dem Ereignis Samstagnacht nicht um einen Unfall, sondern um einen Anschlag, einen Mord gehandelt hat.“

Krüger unterbricht seine Darlegungen, lässt dem ihm Gegenübersitzenden Zeit, diese zu verdauen, zu verarbeiten, um zu sehen, welche Wirkung, Reaktion sie bei jenem auslösen. Und wie von ihm erwartet, stellt Claude die entscheidende Frage: „Schön und gut, aber was hat das mit mir, oder besser gesagt, mit Philipp zu tun?“

„Richtig! Das werde ich Ihnen gleich sagen, doch zunächst noch ein paar Fakten. Sie haben ja das Foto gesehen. Wer in dem Wagen saß, hatte kein Chance. Zum Glück, zumindest für uns, ist der Fahrer jedoch zumindest nicht verbrannt, sondern wurde, während sich das Fahrzeug überschlug, aus diesem herausgeschleudert. Es mag ein wenig zynisch klingen, wenn ich sage, dass er sich nur das Genick gebrochen hat, unsere Ermittlungen erleichtert dies hingegen doch sehr, konnten wir ihn so anhand von Ausweispapieren rasch identifizieren. Es handelt sich um einen Chinesen namens Wang Bing. Soweit wir bisher wissen, stammt er aus Shanghai und hält sich ... hielt sich zwecks Studiums in der Bundesrepublik auf, und zwar in Erlangen, wie wir seinem Studentenausweis, den wir bei ihm gefunden haben, entnehmen konnten. Viel mehr über seine Person wissen wir bislang noch nicht, doch werden sich die Kollegen in Erlangen weiter darum kümmern.“ Krüger spürt Claudes Ungeduld, die diesen immer wieder dazu veranlasst, neue Versuche zu starten, dem Kriminalbeamten ins Wort zu fallen: „Moment, Moment, Sie werden gleich sehen, warum ich Ihnen dies alles erzähle. Was den Ums-Leben-Gekommenen für uns, besonders für mich so interessant macht, sind folgende zwei Umstände: Erstens trug er eine Pistole samt Schalldämpfer bei sich, die nicht registriert ist, zudem besaß er keinen Waffenschein, und zweitens haben wir in seiner Brieftasche ein Foto gefunden, eben dessentwegen mein Kollege Neumüller, der den Fall eigentlich übernehmen sollte, zu mir kam und die Akte mir übergab.“ Kaum ist das letzte Wort Krügers Mund entwichen, zieht er das angesprochene Bild aus der vor ihm liegenden Mappe und legt es vor Claude auf den Tisch, dessen Blick sich ungläubig in das dreizehn mal neun Zentimeter große Bild frisst, so als wolle er es damit tilgen.

„Das haben Sie in der Brieftasche des toten Fahrers gefunden?“

„Ja. Sie können sich vorstellen, dass mein Kollege und ich nicht weniger erstaunt waren als Sie es jetzt sind. Und dies war auch der Grund, warum mir Kollege Neumüller den Fall übergeben hat.“

Verwirrt, ratlos, sprachlos starrt Claude abwechselnd den Kommissar und jenes Stückchen Fotopapier an, das die Kriminalbeamten verständlicherweise nicht weniger in Erstaunen gesetzt haben muss wie dies bei ihm in diesen Sekunden selbst der Fall ist, schließlich wird man nicht jeden Tag mit der Tatsache konfrontiert, dass in der Tasche einer einem bis dato völlig unbekannten Person ein Bild von einem selbst steckte, nach dazu bei einer Person, die unter so mysteriösen Umständen ums Leben kam. Scharf und eindeutig zeichnet sich sein Gesicht im Halbprofil auf dem Foto ab, wobei es sich offensichtlich um eine ganz neue Aufnahme handelt, wie er an Frisur und Kleidung feststellt.

„Kennen Sie diesen Mann?“, unterbricht Krüger Claudes Gedankenspiele, indem er ihm ein weiteres Bild vorlegt, das einen jungen Chinesen zeigt, offensichtlich den Toten, wie der Angesprochene mutmaßt.

Ein kurzer Blick genügt: „Nein.“

„Sind Sie sich ganz sicher?“

„Ja. ... Ist das der Verunglückte?“

„Ja. Wenn Sie ihn nicht kennen, bleibt die Frage, warum er ein Bild von Ihnen bei sich trug ... und woher er es hatte.“

Darauf hätte auch Claude nur zu gerne eine Antwort, vermag jedoch keine zu finden, so sehr er sich auch bemüht, seine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken, allerdings nur mit begrenztem Erfolg.

„Das Bild scheint recht neuen Datums zu sein“, mutmaßt Krüger, damit der zuvor stumm angestellten Analyse des Abgebildeten folgend. „Wie Sie mir sagten, haben Sie sich jedoch bis vor Kurzem längere Zeit im Ausland aufgehalten. Dies dürfte somit höchstwahrscheinlich bedeuten, dass das Bild wahrscheinlich erst vor wenigen Tagen, nach Ihrer Ankunft aus den Vereinigten Staaten gemacht wurde.“

Ein Kopfnicken von Seiten des Befragten bestätigt die Feststellung des Kommissars, ohne ihm weiteren Aufschluss über das Woher der Aufnahme zu geben, geben zu können.

„Ist Ihnen irgendjemand aufgefallen, der Sie in der Zeit, seit Sie hier sind, fotografiert hat?“

„Nein.“ Aufgrund der wenig Raumtiefe aufweisenden Abbildung seines Antlitzes auf dem Foto und des völlig unscharfen Hintergrundes vermutet Claude, dass das Bild aus größerer Entfernung mit einem Teleobjektiv langer Brennweite gemacht wurde, eine Beobachtung, die er dem ihn Befragenden mitteilt. Dieser Umstand ist es auch, der es unmöglich macht herauszufinden, wo die Aufnahme geschossen wurde. Nur so viel scheint sie preiszugeben: Der Fotografierte sollte nach Möglichkeit nicht wissen, dass er abgelichtet wurde.

„Tja, leider haben wir bislang noch keine weiteren Informationen über den Herrn", resümiert Krüger mit Hinweis auf das noch immer vor Claude liegende Foto des Verunglückten, der ihnen, dies spüren beide instinktiv, noch so manches Kopfzerbrechen bereiten dürfte, „doch hoffe ich, dass mir die Kollegen in Erlangen weiterhelfen können. Bei dem Kerl passt ganz offensichtlich so einiges nicht zusammen, aber vielleicht können wir bald etwas Licht ins Dunkel bringen.“

„Was halten Sie von der ganzen Sache?“, versucht sich Claude Anhaltspunkte dafür zu verschaffen, wie er sich fürderhin verhalten soll.

„Aufgrund der bisherigen Ermittlungen leider schwer zu sagen. Bislang wissen wir an und für sich nur, dass es sich mit allerhöchster, ja mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um einen Unfall, sondern um Mord handelt. Dies allein und die Tatsache, dass der Getötete eine nicht registrierte Waffe bei sich trug, an der zudem die Seriennummer entfernt wurde, lassen vermuten, dass womöglich mehr dahintersteckt als zunächst zu vermuten war, doch möchte ich nicht voreilig irgendwelche Schlüsse ziehen, sondern erst einmal abwarten, was meine Kollegen in Erlangen herausfinden. Ihnen persönlich würde ich allerdings raten, zukünftig vorsichtiger zu sein und die Ermittlungen uns zu überlassen. Sie wissen, was ich meine.“

Offensichtlich hat Krüger Wind von seinen Recherchen bekommen, die er jedoch nie als contra Polizei ausgerichtet verstanden hat, sondern eher als die offiziellen Gesetzeshüter unterstützende Begleitmaßnahme, deren Resultate er diesen gegenüber auch nicht geheim zu halten versucht hatte, zumindest im Wesentlichen, auch wenn er den unausgesprochen gebliebenen Vorwurf des Hauptkommissars nicht gänzlich von der Hand weisen kann angesichts des insgeheimen Misstrauens, das er den Kriminalbeamten bei seinen Besuchen während der vergangenen Wochen unterschwellig entgegengebracht hat. Um seinem Gegenüber nicht zusätzlich Angriffsfläche zu bieten, hütet sich Claude, auf dessen Anspielung direkt einzugehen, stattdessen lotet er vielmehr aus, wie weit ihm dieser Spielraum für eigene Nachforschungen zugesteht: „Ob es wohl Sinn macht, wenn ich selbst nach Erlangen fahre? Vielleicht kann ich Ihren Kollegen ja irgendwie behilflich sein.“

„Wenn Sie dies möchten ... verbieten kann ich es Ihnen nicht, doch sollten Sie mir zuvor Bescheid sagen, damit ich meine Kollegen über Ihr Kommen unterrichten kann.“ Auch wenn ihm Claudes Tatendrang nicht unbedingt gefällt, sucht er angesichts der Tatsache, dass es keine Rechtsgrundlage gibt, ihn an eigenen Recherchen zu hindern, den Weg für eine auf beiderseitigem Vertrauen basierende Kooperation zu bahnen, außerdem nötigt ihm das Engagement, mit dem sich jener für die Aufklärung des Mordes an seinem Bruder einsetzt, insgeheim hohen Respekt ab. „Um eines möchte ich Sie allerdings bitten: Unterlassen Sie gefährliche Alleingänge! Ich möchte nicht, dass Sie genauso enden wie Ihr Bruder!“ Der Ton des Kommissars verrät, dass dies mehr als eine Bitte ist, eher einem von ernst gemeinter Besorgnis getragenem Befehl gleichkommt.

„Versprochen. Wenn möglich, fahre ich noch heute Abend, ansonsten morgen früh. Ich rufe Sie aber vorher in jedem Fall an.“

„Gut, ich werde meine Kollegen entsprechend informieren.“

Schon fast zur Tür hinaus, dreht sich Claude noch einmal auf dem Absatz um: „Ob Sie mir wohl einen Abzug von dem Bild des Chinesen geben könnten?“

Für Sekunden überlegt Krüger: „Dürfte zu machen sein. Wollen Sie es abholen oder soll ich es Ihnen ins Hotel bringen lassen?“

„Oh, wenn Sie es mir in mein Hotel bringen lassen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar“, ist Claude über die unerwartet weitgehende Hilfsbereitschaft des Kommissars erstaunt. „Spätestens nach meiner Rückkehr melde ich mich wieder bei Ihnen", bemüht er sich für das Entgegenkommen des anderen zu revanchieren, „hoffentlich mit ein paar positiven Ergebnissen und Erkenntnissen.“ Schon fast zur Tür hinaus, fällt es Claude siedend heiß ein: „Ach übrigens, haben Sie schon irgendetwas über die Verlobte meines Bruders herausgefunden? Über ihren Verbleib oder so.“

„Nein, leider nicht. Sie scheint wie vom Erdboden verschwunden zu sein“, vermag Krüger lediglich mit einem diesbezüglich bis dato negativ verlaufenen Rechercheergebnis aufzuwarten. „Wir haben ihre uns bekannten Daten an alle bundesdeutschen Behörden rausgeschickt, allerdings noch keinerlei positive Rückmeldung erhalten. Tut mir leid.“

Sicherlich hätte ihm der Kriminalbeamte jedwede positive Entwicklung in dieser Richtung von sich aus mitgeteilt, mutmaßt Claude, dennoch drückt dessen wenig Hoffnung machende Aussage zusätzlich auf sein Gemüt. „Schade. Aber vielen Dank für Ihre Bemühungen.“ Die Tür sachte hinter sich schließend, wird Claude augenblicklich von dem lauthallenden Getrampel und Stimmengewirr umfangen, die die Korridore füllen, durch die er zielstrebig dem Freien entgegen strebt, das ihn mit mittäglicher Frühlingsluft empfängt.

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