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Sonntag, 27. April 1997, 20:38 Uhr

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„Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich verspätet habe, aber ich musste noch einen Artikel für die morgige Ausgabe fertig schreiben, und dies hat etwas länger gedauert als ursprünglich angenommen. Ich hoffe, Sie warten noch nicht allzu lange.“

Eva-Marie Schönes Auftauchen setzt Claudes ungeduldigem Warten endlich ein Ende. Fast hat er schon nicht mehr an ihr Kommen, das eigentlich für acht Uhr abgesprochen war, geglaubt, und mit jeder Minute, die der kleine Zeiger der Uhr über die besagte Stundenanzeige hinausrückte, wuchs die zermürbende Ungewissheit, schwand die Hoffnung, die Zuversicht, die er mit dem von ihr versprochenen Informationsmaterial verbindet, das für ihn, obgleich er es noch nicht zu Gesicht bekommen hat, so etwas wie einen magischen Sesam-Öffne-Dich darstellt, der ihm den Weg für seine weiteren Recherchen ebnen, ihm zumindest dabei entscheidend behilflich sein soll. Worauf er diese doch enorm hohe Zuversicht gründet, ist ihm nicht klar, und daher wunderte er sich auch nicht über die in immer kürzeren Phasen wiederkehrenden Perioden des Zweifels, in denen er sich selbst vor übertriebenen Erwartungen warnte. Davon will er Eva-Marie allerdings nichts sagen, sie nichts von seiner inneren Anspannung und Nervosität wissen und spüren lassen. „Aaah ... schönen guten Abend, schön dass Sie kommen konnten. Machen Sie sich keine Gedanken, ich bin erst vor ein paar Minuten gekommen.“ Schwer zu sagen, ob sie ihm glaubt, ihre Augen jedenfalls geben darüber keine Auskunft, ebenso wenig ihre Reaktion.

„Da bin ich ja froh, ich hatte schon Angst, Sie wären vielleicht schon gegangen.“

„Wo denken Sie hin! Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?“

„Ein Wodka-Martini wäre jetzt nicht schlecht“, akzeptiert sie seine Offerte mit gesenktem Blick, den sie auf die Mappe gerichtet hält, in der sie für einige Augenblicke herumsucht, ehe sie einen prall gefüllten Schnellhefter daraus hervorzieht, in den sie noch rasch einen Blick wirft, um sich zu versichern, den richtigen erwischt zu haben. „Hier bitte, die versprochenen Unterlagen. Ich habe gestern alles zusammengesucht. Hoffentlich hilft es Ihnen weiter.“

Beinahe gierig, wie ein Verdurstender zum rettenden Labsal greift, nimmt er ihr den dargereichten Hefter aus der Hand, vermeidet es jedoch aus Höflichkeit tunlichst, sofort mit der Lektüre zu beginnen, obwohl er seine lodernde Neugier kaum zu beherrschen imstande ist, die ihn seit dem Erwachen am Morgen in zunehmendem Maße heimgesucht hat, mit ausgelöst wohl durch den ergebnislos verlaufenen Samstagabend, der ihn kein Stückchen weitergebracht hat, ihm wiederrum einige lärmerfüllte, verräucherte Bars und schmierige Hintertürpuffs auf für ihn beschämende und erschreckende Weise zugleich deutlich vor Augen führten, auf welch primitive Art und Weise ein Gutteil der Menschheit zu befriedigen ist, wobei ihn die in vielen Fällen abstoßend wirkende Zurschaustellung weiblichen Fleisches schockierte, ja ekelte, weswegen er sich mitunter nicht des Eindrucks erwehren konnte, in einer Fleischhandlung zu sein, die mit Sonderangeboten - oder sollte man besser sagen: Restposten? - um Kundschaft buhlt. Wieder einmal musste er an die alten Römer denken, daran, auf welch einfache, ja geradezu primitive Art und Weise der Mensch zufriedenzustellen und zu begeistern ist. Erschreckend, aber wahr! Ernüchtert von all den betrüblichen und so wenig Hoffnung und Zuversicht ausstrahlenden Momenten, fiel er nach langem Hin-und-Her-Wälzen in einen ermattenden Schlaf, ohne den angehäuften Trübsinn dadurch abstreifen zu können, im Gegenteil, wie gemartert war er aufgewacht, emotional ausgelaugt, desillusioniert, mit einem einzigen kleinen Hoffnungsschimmer am fernen Horizont, nämlich eben dem Treffen mit Eva-Marie, in das er so große, möglicherweise übergroße Erwartungen setzte. „Wir werden sehen. Wann brauchen Sie es denn zurück?“

„Wenn Sie wollen, können Sie es gerne behalten. Es ist nur eine Kopie. Allerdings unter der Voraussetzung, es nicht journalistisch zu verwerten.“

„Wo denken Sie hin, das käme mir nie in den Sinn, ich weiß, welch harte Arbeit dahintersteckt“, zerstreut er mögliche Bedenken ihrerseits. „Das ist wirklich sehr großzügig, vielen herzlichen Dank. Gibt es eine Chance, dies wieder gutzumachen?“ Seine den ganzen Tag über bis jetzt anhaltende Niedergeschlagenheit ist durch die unerwartet erfahrene Generosität beinahe vollständig hinweggewischt, Zuversicht und Heiterkeit Platz machend.

Ein Schmunzeln füllt ihr Gesicht, in dem ein Schuss Koketterie geschrieben steht - oder ist es doch mehr Spitzbübigkeit? Ihre Antwort bleibt jedenfalls diplomatisch vage: „Machen Sie sich darüber im Moment keine Gedanken, schauen Sie erst einmal, was Sie damit anfangen können, dann schauen wir weiter. Doch jetzt: Cheers!“ Den soeben gebrachten Drink ergreifend prostet Eva-Marie Claude zu, wobei ihr Gesichtsausdruck zu sagen scheint: „Nunmehr sind wir Verbündete, auf Gedeih und Verderb!“

„Auch wenn man nicht mit Wasser anstoßen soll, trotzdem: Auf Ihr Wohl!“, erwidert Claude, sein Glas mit Mineralwasser an das ihre führend, bis sie sich in der Tischmitte sanft nachklingend treffen, quasi die Besiegelung ihres Bündnisses akustisch unterstreichend.

„Haben Sie seit unserem letzten Treffen noch etwas herausgefunden?“, erkundigt sie sich, das halb geleerte Glas absetzend, während ihre Linke durch das dichte, leicht gewellte Haar fährt, um so eine widerspenstige, in die Augen gefallene Locke zu bändigen.

„Nein.“ Die ernüchternde Erinnerung an den Vorabend blitzt wieder auf, lässt seine Stimme, begleitet von einem Seufzer, hohl und resigniert klingen. Sein Blick richtet sich an ihr vorbei in die Ferne, so als stünden dort auf einer imaginären Tafel die Antworten auf all seine Fragen geschrieben.

„Na, nun lassen Sie mal nicht gleich den Kopf hängen“, muntert Eva-Marie, die seine von Resignation getragene Niedergeschlagenheit spürt, ihn auf, „lesen Sie sich in Ruhe das Material durch, das ich Ihnen gegeben habe, vielleicht sehen Sie dann schon etwas klarer. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich auch nicht mehr genau weiß, was alles darin ist, denn manches davon ist schon Jahre alt. Eigentlich wollte ich es noch einmal kurz überfliegen, hatte aber keine Zeit dazu, da mich einer meiner Redakteure heute Morgen anrief und mir den Auftrag für den Artikel gab, dessentwegen ich zu spät gekommen bin. Daher hatte ich keine Zeit mehr zum Durchlesen des Materials.“

Claude ist es peinlich, von ihr durchschaut worden zu sein: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich...“ Er weiß nicht so recht, was er ihr sagen, wofür er sich entschuldigen soll. „Ich bin momentan einfach etwas durcheinander. Die Sache mit meinem Bruder hat mich doch mehr mitgenommen als ich dachte“, bringt er seine Gefühle zum Ausdruck, „dazu kommt noch die bisherige Erfolglosigkeit bei der Suche nach dem oder den Tätern. Das Ganze ist für mich so sinnlos, so unverständlich.“ Die Verzweiflung droht erneut Oberhand zu gewinnen, so dass es seine Gesprächspartnerin als dringend angebracht erachtet, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

„Trübsal blasen gilt nicht“, fordert sie ihn mit einem zwar nicht unbedingt echten, aber doch sehr gekonnten Lächeln auf, „versuchen Sie das Geschehene für ein paar Stunden zu vergessen, lassen Sie uns irgendwohin gepflegt essen gehen. Ich hatte einen anstrengenden Tag, da habe ich mir das verdient, und Ihnen tut dies auch ganz gut.“

„Ich ... äh...“

„Nein, nein, keine Ausrede“, ermuntert sie ihn, indem sie ihm einen auffordernden Stups gibt, wie er zwischen guten alten Freunden üblich ist, „morgen ist auch noch ein Tag. Es tut Ihnen einmal ganz gut abzuschalten. Kommen Sie schon, geben Sie sich einen Ruck!“

Instinktiv spürt Claude, dass sie recht hat, er tatsächlich, wenn auch nur für ein paar Stunden, Abwechslung benötigt - und warum nicht in angenehmer weiblicher Begleitung. „Okay“, willigt er ein, „unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Sie wählen das Lokal aus und ich übernehme die Rechnung.“

„Akzeptiert. Aber auch ich habe eine Bedingung.“

„Nämlich?“

„Heute Abend wird nicht mehr über das gesprochen, was Ihrem Bruder widerfahren ist oder über etwas, was damit im Zusammenhang steht.“

Ihr Blick, der um einen gemütlichen, unbeschwerten Abend bittet, macht ihm die Entscheidung leicht: „Abgemacht. Also lassen Sie uns gehen“, rückt er ohne weiteres Zögern seinen Stuhl im Sitzen nach hinten, erhebt sich, den Schnellhefter zusammengerollt in seine zum Glück weit genug geschnittene Jackeninnentasche stopfend, um ihr Augenblicke später, nachdem sie ihr Glas geleert hat, galant beim Aufstehen behilflich zu sein. „Sie sagen, wohin!“

„Essen Sie gerne scharf?“

„Kein Problem.“

„Gut, dann fahren wir zum Nam Thanh. Meiner Meinung nach der beste Vietnamese in der Stadt.“

„Hört sich gut an.“ Mit jedem Schritt, den sie sich ihrem unweit entfernt geparkten Wagen nähern, lässt er ein wenig von jenem Bedrückt-Sein zurück, das ihm diesen Tag vermiest hat und das er so gar nicht von sich gewohnt ist. ‚Ja, sie hatte recht, ich muss einmal auf andere Gedanken kommen’, bestärkt er sich in der Richtigkeit seines Entschlusses, diesen Abend nicht weiteren Nachforschungen zu widmen.

Handover

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