Читать книгу Handover - Alexander Nadler - Страница 11
Sonntag, 20. April 1997, 20:15 Uhr
ОглавлениеSpäter als gewollt ist es geworden, doch Thorwald bestand darauf, dass Claude vor seiner Abfahrt noch in aller Gemütlichkeit mit ihm zu Mittag essen müsse. Und da die nachmittägliche Verbindung nicht die allerbeste war, kehrt er erst jetzt in Philipps Wohnung zurück, die ihn mit der gleichen - da schicksalsbehafteten - abweisenden Trostlosigkeit empfängt, wie er sie bei seinen vorausgegangenen Besuchen kennengelernt hat, trotz ihrer an und für sich behaglichen Einrichtung, für die Claude angesichts der Umstände indes kein Auge hat, ihm ganz einfach die nötige Sensibilität dafür abgeht.
Noch in voller Montur, orientiert er sich sofort in Richtung Labor, in dem er sich rasch einen Überblick über die Vorräte an Entwickler, Stoppbad und Fixierer verschafft, ehe er seine Jacke ablegt und seinem Pilotenkoffer die drei Umschläge mit den Fotos entnimmt. Umschlagweise die Negative auf dem großen Arbeitstisch sortierend, schaltet er, nachdem er alle notwendigen Vorbereitungen abgeschlossen hat, das Rotlicht ein und die übrige Zimmerbeleuchtung aus. Obwohl er seit Längerem nicht mehr selbst im Labor gearbeitet hat, führt er alle Handgriffe mit der Routine eines Fachmannes durch, so als ob er seit Jahren nichts anderes tun würde. Da es in diesem Fall nicht um Fine Prints geht, ist er auch nicht darum bemüht, das Allerletzte aus den Bildern herauszuholen, lediglich Schärfe und soweit als möglich klare Erkennbarkeit der abgebildeten Personen spielen eine Rolle. Mit der Präzision eines Uhrwerkes hantiert er mit Vergrößerer, Fotopapier, Chemikalienbädern und Trockenmaschine, der er die fertigen Prints nach jeweils wenigen Minuten entnimmt und sie auf dem zweiten Arbeitstisch ablegt.
Nach Anfertigung zweier kompletter Bildersätze pickt er sich ein halbes Dutzend Negative heraus, auf denen jene Personen besonders deutlich zu erkennen sind, die jenes sich am Vortag herauskristallisiert habende rätselhafte Sextett bilden, dessen Vertreter - gemeinsam, einzeln oder gruppenweise in verschiedenen Konstellationen - auf nahezu jeder der Aufnahmen auszumachen sind. Da es sich bei ihnen offensichtlich um Schlüsselfiguren handelt, fertigt Claude von ihnen zusätzlich noch extra vergrößerte Porträtausschnitte an.
Als er das letzte Blatt Fotopapier aus dem Fixierbad zieht, verrät ihm der Blick auf die Uhr, dass es bereits halb zwei geworden ist. Da er trotz der fortgeschrittenen Stunde noch keine Müdigkeit verspürt, sein Geist im Gegenteil viel zu aufgedreht ist, rafft er die Fotos zusammen und nimmt sie, zusammen mit seinem Koffer und seiner Jacke ins Wohnzimmer mit, wo er sie auf dem Fußboden ausbreitet, um sie dort einer weiteren Inspektion zu unterziehen, in der stillen Hoffnung, unter Umständen doch noch ein Detail auf den nunmehr großformatigen Abzügen auszumachen, das Thorwald und ihm zuvor entgangen ist, obgleich sie die Originalabzüge am Samstag und Sonntag noch mehrere Male gemeinsam einer gründlichen Prüfung unterzogen haben, wobei er sich nunmehr zunächst die sechs vergrößerten Einzelporträts einprägt, ehe er sich daranmacht, die übrigen Aufnahmen Stück für Stück unter die Lupe zu nehmen. Zu wirklich neuen Erkenntnissen vermag er allerdings auch nach sorgfältigster Prüfung nicht zu gelangen, dazu ist es offensichtlich unumgänglich, so seine abschließende Erkenntnis, irgendwie mehr über die Identität der abgelichteten Personen in Erfahrung zu bringen.
Da er nun zu wissen glaubt, wonach er in etwa zu suchen hat, stöbert er, in der vagen Hoffnung, möglicherweise doch noch den ein oder anderen Hinweis beziehungsweise weiteres in dieser Angelegenheit brauchbares Material zu finden, noch einmal Philipps Archiv durch - zu seiner Enttäuschung allerdings ergebnislos. ‚Andererseits war indes auch nicht viel anderes zu erwarten gewesen‘, muss er sich stillschweigend eingestehen. ‚Noch besteht ja die Möglichkeit, dass die Polizei mit den Aufnahmen etwas anzufangen weiß’, beschwichtigt er sich selber, um die sich aufs neue ausbreitende Verzweiflung einzudämmen, die ihm, kaum dass er im Hotel zurück und in sein Bett gefallen ist, eine weitere von Alpträumen geplagte Nacht beschert, in denen er seinen Bruder mal hämisch lachend als Drahtzieher dubioser Geschäfte, mal als blutüberströmten Zombie durch nächtliche Straßen hetzen sieht, auf der Flucht vor sich nicht zeigenden Gestalten, die ihm selbst auch des Öfteren an die Gurgel wollen und ihn so mehrmals im Laufe der restlichen Nachtstunden panikerfüllt aus den Wirrungen seiner allzu regen Traumwelt reißen.