Читать книгу Handover - Alexander Nadler - Страница 13
Donnerstag, 24. April 1997, 13:04 Uhr
ОглавлениеPhilipps Beisetzung war in aller Stille verlaufen, so wie er es sich gewünscht hätte, dessen ist sich Claude sicher, der bei dieser Gelegenheit an den Gräbern seiner Eltern neue Kraft getankt hatte, derer er, dessen war er sich bewusst, im Zuge der Aufklärung des Mordfalles sicherlich noch bedürfen werde. Er hatte Thorwald das Resultat seines Besuches bei Krüger mitgeteilt, doch konnte auch dieser sich keinen Reim darauf machen, in welcher Beziehung die auf den Fotos Identifizierten zueinander stünden. Mit neu geschmiedeten Plänen hatte er sich sodann früh an diesem Morgen in den Zug gesetzt und war nach Frankfurt zurückgekehrt, wo er kurz nach dem Mittag eintraf.
In aller Eile sein kleines Reisegepäck wegstellend, sucht Claude die Rufnummer des Kommissariats heraus und ist erleichtert, als sich nach nur zweimaligem Klingeln Kommissar Mihailovic am anderen Ende meldet. Da er davon ausgeht, dass der Hauptkommissar mit seinem Assistenten über die Fotos gesprochen hat, wendet er sich direkt an ihn: „Guten Tag, hier ist Claude Duchamp. Ich komme soeben von der Beerdigung meines Bruders zurück und wollte mich erkundigen, ob Ihnen die Fotos, die ich Ihnen neulich dagelassen habe, bei Ihren Ermittlungen weitergeholfen haben?“
„Nicht so wahnsinnig viel, zumindest reicht es noch nicht zu konkreten Ergebnissen. Allerdings konnten wir dank des Zentralcomputers des BKA vier weitere Personen identifizieren, die allesamt dem gleichen Milieu zuzurechnen sind wie diejenigen, die ihnen mein Kollege Krüger bereits genannt hat.“ Mihailovics präzise, ohne Umschweife vorgetragene Auskünfte machen klar, dass die beiden Kriminalbeamten sorgfältigen Informationsaustausch pflegen, ihren Job ernst nehmen, was Claude in diesem Augenblick außerordentlich beruhigt. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Namen geben“, bietet Claudes Gesprächspartner an. „Vielleicht wissen Sie etwas damit anzufangen?“
„Ja, warum nicht, kann nicht schaden“, spielt Claude sein Interesse herunter, dabei ist er nur allzu froh, dass er Mihailovic nicht selbst darum bitten muss. „Ich hole mir nur rasch ein Stück Papier und einen Stift.“ Einen kleinen Notizblock und Kugelschreiber aus seiner über dem Sessel hängenden Jacke zu holen ist Sekundensache. „Ja, ich bin bereit“, signalisiert er dem am anderen Ende der Leitung Harrenden Schreibbereitschaft.
„Gut. Als erstes wäre da Paul Zaber...", Mihailovic lässt Claude ein paar Sekunden zum Schreiben Zeit, „...als nächstes hätten wir Rudolf Henschel...“, erneut eine kurze Pause, in der leises Papierrascheln durch die Leitung zu vernehmen ist, „...sodann Karl-Heinz Lüttgers, und zum Schluss noch Maximilian Großkopf. Im Gegensatz zu Kowalzik, Singer und Arnold gehören die vier nicht der hiesigen Szene an, sondern haben ihre Reviere in anderen Städten der Bundesrepublik. Sind allerdings ebenso wie die anderen drei keine unbeschriebenen Blätter, Zaber und Großkopf sind sogar wegen diverser Delikte vorbestraft, darunter Körperverletzung und Zuhälterei. In welcher Verbindung sie mit den anderen Personen auf den Fotos stehen und wer diese sind, konnten wir jedoch noch nicht herausfinden, insbesondere über die Identität der sechs mutmaßlichen Hauptpersonen ist uns bislang nichts bekannt.“
Die Offenheit des ermittelnden Beamten, mit der er Claude über den aktuellen Stand der Dinge in Kenntnis setzt, lässt in Claude, trotz der an und für sich mageren Ergebnisse, neue Motivation aufkeimen, die er auch unverzüglich in die Tat umzusetzen beabsichtigt: „Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft, falls ich irgendetwas erfahre oder auf etwas stoße, was Ihnen weiterhelfen kann, melde ich mich wieder bei Ihnen. Und grüßen Sie Herrn Krüger von mir.“ ‚Warum’, so grübelt er nach dem Auflegen des Hörers, ‚bin ich den beiden gegenüber nicht ganz ehrlich, warum enthalte ich ihnen noch immer gewisse Informationen vor? Eigentlich gibt es keinen Grund für Misstrauen oder Derartiges. Überlasse die Ermittlungen doch jenen, die dafür zuständig sind.’ Doch so sehr er sich selber auch zu überzeugen versucht, unterschwellig will jenes Maß an Skepsis einfach nicht weichen, das ihn daran hindert, alle Fakten offen darzulegen. Vermutlich sind es die schlechten Erfahrungen, die er persönlich durchgemacht hat, überwiegend wohl aber all die abschreckenden Negativschlagzeilen, die nahezu täglich die Gazetten füllen oder im Fernsehen publik werden, wo ein Skandal den anderen jagt, das Gros von ihnen letztendlich aber unter den Tisch gekehrt wird, insbesondere wenn es sich um eine Person des sogenannten ‚öffentlichen Lebens‘ handelt. Claudes Ansicht nach ein schrecklicher Terminus, als ob wir nicht alle dazu zählten. Besser müsste es seiner Meinung nach ‚Person der öffentlichen Sich-zur-Schau-Stellung und der öffentlichen Missgunst-Erzeugung‘ heißen, geht es dem allergrößten Teil der Politiker, Schauspieler, Sänger und anderer im Rampenlicht stehender Stars und Sternchen letztendlich doch um nichts anderes als im Glanze des Scheinwerferlichtes in die neiderfüllten, sie anhimmelnden Augen ihrer Anhänger und Fans zu blicken, die sie in ihrer Verblendung zu Idolen hochstilisieren, zu Überpersonen, die unantastbar zu sein scheinen, denen von der für dumm verkauften Masse praktisch jegliches Fehlverhalten nachgesehen wird, wenn man es nicht von vornherein mit dem Deckmäntelchen des Schweigens zudeckt.
Obwohl sein Entschluss schon vor dem Anruf feststand, fühlt er sich durch ihn zusätzlich motiviert. Lange hatte er zusammen mit Thorwald am Vortag Vor- und Nachteile eigener Recherchen abgewogen, mit dem Ergebnis, dass bedacht geführte Nachforschungen seinerseits nicht schaden könnten, er jedoch unbedingt die Polizei einschalten müsse, wenn die Sache außer Kontrolle zu geraten drohe.
Und genau damit wollte er nun beginnen. Am sinnvollsten war es sicherlich, sich mit dem Milieu vertraut zu machen, in dem die Aufnahmen höchstwahrscheinlich gemacht worden waren. Dass er dabei Neuland betritt, flößt ihm auf der einen Seite zwar Unbehagen ein, andererseits lockt ihn diese Herausforderung, die für ihn einem schwarzen Tunnel gleicht, von dem er zwar weiß, dass er einen Ausgang hat, allerdings nicht, wohin dieser führt.
Während die Straßenbahn durch die von einem kurzen Schauer genässten Straßen gleitet, versucht sich Claude über seine Vorgehensweise klar zu werden, ringt sich angesichts seiner Unkenntnis bezüglich des zu erforschenden Terrains aber schließlich zu dem Entschluss durch, sich zunächst einmal treiben zu lassen, wobei er auf seinen Instinkt und seine Sensibilität vertraut, die ihm in kritischen Situationen meist weitergeholfen, einen Ausweg gezeigt haben.
Sachte gleitet die Trambahn in die Haltestelle, an der gut zwanzig Personen warten, wovon rund die Hälfte Schüler sind, wie an den Schultaschen leicht auszumachen ist. In Pulk-Formation drängen sie, kaum hat sich die Tür geöffnet, in den Wagen, Claude erhebliche Mühe beim Aussteigen bereitend. Schüchtern spitzen erste sanfte Sonnenstrahlen durch die sich ganz allmählich auftuenden Wolkenlücken, tauchen die Häuserzeilen ringsum in ein derart knackig scharfes Licht, dass es Claude in diesem Augenblick bedauert, keine Kamera dabei zu haben, um die überaus photogenen Licht-Schatten-Spiele in den Gebäudefronten einzufangen, auf denen sich vereinzelt der Schatten eines Baumes abzeichnet. Zum ersten Mal seit jener schrecklichen Entdeckung, die nunmehr bereits zwei Wochen zurückliegt, vermisst er sein Arbeitsgerät, für ihn ein deutliches Signal dafür, dass er sich mit dem Unfassbaren insoweit arrangiert zu haben scheint, dass er sein Leben allmählich neu zu ordnen imstande ist, wobei ihm ganz wesentlich die Tatsache zugutekommt, dass er, wie er bei Durchsicht all der persönlichen Unterlagen und Dokumente seines Bruders festgestellt hat, Alleinerbe ist und Philipp ihm nicht ganz unbeträchtliche Vermögenswerte hinterlassen hat, die es ihm ermöglichen werden, sich - wie er sich vorgenommen hat - zunächst ganz und gar der Aufklärung des Verbrechens zu widmen. Die von ihnen gemeinsam initiierten humanitären Projekte fortzusetzen, ist für ihn Ehrensache, und auch diesbezüglich hat sein Bruder finanziell vorgesorgt. Doch nun gilt es erst einmal, das nach wie vor mysteriöse Verbrechen aufzudecken, das sein Leben von Grund auf umgekrempelt hat.
Was er eigentlich erwartet, was ihn erwartet, darüber ist sich Claude nicht so ganz im Klaren, als er sich Frankfurts sündiger Meile nähert. Um Milieus wie dieses hat er bis dato nach Möglichkeit einen großen Bogen gemacht, da ihn Typen anekeln, die andere Menschen zu ihrem eigenen Vorteil oder Vergnügen ge- oder gar missbrauchen, sich gar allzu oft mit Gewalt und illegalen Machenschaften Rechte über andere zu verschaffen versuchen, die ihnen nicht zustehen. So sehr ihm dieses demütigende, verachtenswerte Vorgehen zuwider war, so sehr interessierten sein Bruder und er sich schon seit geraumer Zeit für das Schicksal der davon Betroffenen, bei denen es sich in den allermeisten Fällen um Frauen handelte, von solchen Perversitäten wie Kinderprostitution ganz abgesehen. Ganz genau erinnert er sich in diesem Moment an jene Wochen vor fünf Jahren, als er zusammen mit Philipp durch Thailands Hauptstadt gezogen war, deren Rotlichtviertel für derlei Exzesse berühmt-berüchtigt war und ist. Ihr Anliegen war es damals gewesen, junge, vielfach in die Prostitution gezwungene Mädchen aus den Fängen ihrer Peiniger zu befreien, sie notfalls freizukaufen und ihnen eine anständige Ausbildung zu finanzieren, sie zu resozialisieren, ein Vorhaben, zu dessen Zweck sie mit ein paar thailändischen Freunden eine kleine private Einrichtung gegründet hatten, die sich um die Mädchen kümmerte, ihnen eine neue Lebensperspektive aufzeigte. Es war eines jener Projekte, das ihnen von Anbeginn an sehr am Herzen gelegen war und sich, nach mühsamem Start, im Laufe der Jahre recht erfreulich entwickelte, so dass es für Claude auch weiterhin auf der Prioritätenliste ganz mit oben stehen würde, im Angedenken an seinen Bruder und im Interesse der geschundenen Mädchen und Frauen. Trauer und Hass, Scham und Mitleid, Ekel und blanke Wut, dies waren die Elemente, aus denen sich damals seine Gefühlswelt zusammensetzte, als er durch Patpong gezogen war, sich der zahllosen dubiosen, mitunter schweinischen Angebote der Zuhälter hatte erwehren müssen, die ihm vom ‚very nice girl‘ über die ‚sexy and experienced lady‘ bis hin zum ‚fresh virgin girl‘ so ziemlich alles anboten, was perversen und mit krankhafter Sexualität behafteten Männerphantasien entspringen kann. Da sie, um die Mädchen, denen sie helfen wollten, überhaupt ausfindig machen zu können, nicht von vornherein all diese Offerten abwimmeln konnten, hatten sie immer wieder vorgeben müssen, potentielle Interessenten zu sein, was oftmals einem Drahtseilakt gleichkam, da es in der Regel nicht ganz einfach war, im letzten Augenblick, wenn sie genügend Informationen gesammelt hatten, unbehelligt und ohne Verdacht zu erwecken den Rückzug anzutreten. Das dreiste, gewissenlose Grinsen der Typen, die ihnen ‚die Ware‘ - wie jene es respektlos menschenverachtend nannten - wie bei der Fleischbeschau vorführten, hatte in ihnen jedes Mal das Gelüst aufsteigen lassen, jenen die geballte Faust in die Visage zu schlagen. Was sie aber ebenso entsetzt hatte wie der rohe, gefühllose, demütigende Umgang der Zuhälter mit den von ihnen Geknechteten und Ausgebeuteten, war das nicht minder beschämende und verachtenswerte Verhalten der vielen ausländischen Kunden, die in der Anonymität des fremden Landes ihre Abartigkeiten auslebten. Philipp und er hatten nicht gegen Prostitution an sich etwas, hatten bezüglich dieser Ansicht auch des Öfteren mit ihren Eltern Meinungsverschiedenheiten gehabt; was sie störte, waren die zumeist damit einhergehenden Zwänge, denen die Frauen und Mädchen ausgesetzt waren sowie jene abartigen Ausuferungen, die in ihren Augen teilweise jegliche Menschenwürde vermissen ließen. So viel Vernunft und Fähigkeit zur Achtung der Gefühle anderer, auch und gerade seines Ehe- oder Lebenspartners, zu verlangen, dass die Institution Prostitution hinfällig würde, mochte vielleicht der Papst fordern, an der Realität ging dieser Wunschtraum jedoch gründlich vorbei, darüber waren sich Claude und sein Bruder völlig im Klaren, und aus eben diesem Grunde sahen sie dieses Gewerbe an sich als das möglicherweise kleinere Übel an, denn ebenso war ihnen klar, dass nicht wenige der sexuell Verklemmten oder triebhaft Veranlagten sich sonst anderweitig Befriedigung suchen würden. Nur war es ihnen eben darum gegangen, sich für eine saubere, will meinen entkriminalisierte und von geschmacklosen Auswüchsen gesäuberte Prostitution einzusetzen, falls so etwas jemals möglich sein sollte. In zahlreichen Gesprächen hatten sie, in jüngeren Jahren mit ihren Eltern, später mit Freunden und Bekannten, immer wieder darüber gesprochen, warum Männer Frauen oft als reine Sexobjekte ansähen, die jederzeit verfügbar zu sein hätten, auf deren Gefühlswelt kaum Rücksicht nehmend, und dabei womöglich sogar von Liebe sprechend. Das pure Ausleben der Triebe hatten sie stets als primitiv animalisches Verhalten gewertet, und wenn dabei noch die Anwendung roher männlicher Kraft dazukam, ging ihnen auch noch das restliche bisschen Verständnis verloren.
Zu dieser Tageszeit, am frühen Nachmittag, lässt das Amüsierviertel rings um Taunusstraße und Kaiserstraße kaum etwas von dem regen Treiben erahnen, das allabendlich einsetzt, sobald die Zeiger der Uhren über die Neun hinweg gerückt sind, und das erst mit dem Anbrechen des neuen Tages seinen Höhepunkt erreicht. Von den dann auf der Suche nach Freiern oder gleichgeschlechtlichen Lovers in schrillem Outfit daherkommenden Paradiesvögeln, den teilweise schon etwas abgetakelt wirkenden älteren Semestern dieses Gewerbes, den düster dreinblickenden, jederzeit zur gewaltsamen Lösung eines Zwistes oder einer Meinungsverschiedenheit bereiten Zuhältern, den schmierigen, in funkelnagelneuen, elendig teuren vierrädrigen Untersätzen durch die Straßen kurvenden Dandys, den schüchternen, von Scham geplagten Herren, die mit hochgezogenen Mantelkrägen möglichst unerkannt in eines der Etablissements verschwinden, in denen sie Befriedigung für ihre ihren Mitmenschen verschwiegenen Neigungen und Begehren zu finden hoffen, den sich zwischen all diesen tummelnden Fixern und Junkies, Dealern und Spielern, Betrügern und anderweitigen Ganoven bekommt Claude zunächst so gut wie nichts zu sehen. Das Licht des Tages scheuend, haben sich alle von diesem Treiben Profitierenden in das Dunkel der Trutzburgen zurückgezogen, deren Pforten sich erst beim Einbruch der Nacht öffnen und dann gierig ihre Krallen und Tentakel nach all jenen ausstrecken, die auf der Suche nach ein bisschen vermeintlichem Glück, purer sexueller Befriedigung oder aus Kurzweil vorbeikommen. Hinter der ein oder anderen Tür dringen gedämpft Musikfetzen hervor, in den Schaufenstern des ein oder anderen Pornoshops werden all jene Utensilien feilgeboten, die all jenen bei der Suche nach Glück und Befriedigung helfen sollen, die entweder glauben, sie von anderen nicht erhalten zu können, oder nicht imstande sind, sich auf die Gefühlswelt eines Sexualpartners einzustellen. Daneben versuchen die Fotos zum größten Teil entblößter Weiblichkeiten Passanten anzulocken, wobei die allzu grelle Schminke und lasziven Posen unschwer auf die Billigkeit des vorgetäuschten, sogenannten Vergnügens schließen lassen.
Nur ganz vereinzelt huschen anonyme Gestalten männlichen Geschlechts an ihm vorbei, an dem einen oder anderen Schaufenster versuchen sich Unerkannt-Bleiben-Wollende darüber klar zu werden, ob die angekündigten Verheißungen wohl das halten werden, was sie suggerieren. Lässig an die Eingangstür zu einem der Nachtklubs gelehnt, unterhalten sich zwei auf den ersten Blick als Durchschnittstypen weggehende Mittdreißiger angeregt über irgendwelche finanziellen Ausstände, wie Claude im Vorbeigehen mitbekommt. Seinem photographisch geschulten Blick, der auf das Heraus-Selektieren von Nuancen und Feinheiten getrimmt ist, entgehen die schweren, mit dicken Steinen besetzten Ringe und die edlen Uhren nicht, die die beiden in ihr Gespräch Vertieften tragen, beides mindestens eine Nummer zu groß für den Art von Typ, den sie mit ihrer Kleidung und ihren eher gutbürgerlich wirkenden Frisuren vorzugeben beabsichtigen. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite verschwinden zwei von der Ferne recht hübsch aussehende jungen Damen in einem weiteren Nachtklub, vermutlich um sich für ihre Proben oder ihren Auftritt vorzubereiten. Immer wieder bleibt Claude stehen, lässt seine Blicke - einem Radar gleich - die Straßen auf und ab gleiten, so als wolle er jedes Detail der Szenerie speichern, wenn möglich die Fassaden durchdringen. Stets neue Blickwinkel ausprobierend, hofft er so eines jener Szenenbilder ausfindig zu machen, die den Hintergrund der wenigen Außenaufnahmen bilden, die sich in dem von Philipp hinterlassenen rätselhaften Fotosortiment finden. Da es sich bei diesen jedoch samt und sonders um Nachtaufnahmen handelt, vermag Claudes Abstraktionsvermögen trotz aller Bemühungen nicht, die fast menschenleere Tages- in eine von mitunter zahlreichen Personen belebte Nachtszene umzusetzen. Ob seines Misserfolges, seiner Unfähigkeit ein wenig enttäuscht, beschwichtigt er sich mit dem Vorhaben, es am Abend noch einmal zu versuchen, wenn die Lichter angehen, die grellbunten Leuchtreklamen marktschreierisch um Kundschaften buhlen werden. So begnügt er sich für den Moment mit weiteren einfachen Milieustudien, die ihm dabei helfen sollen, sich in diese Welt hineinzudenken, hineinzufühlen, zwei Faktoren, die ihm für die Lösung des Falles äußerst wichtig erscheinen.
Ein leichtes Zwicken und Grummeln in der Magengegend macht ihn nach nochmaligem Durchstromern des Viertels darauf aufmerksam, dass er seit dem Morgen nichts gegessen hat. Da es noch mindestens zwei Stunden sein dürften, bis sich die Gegend mit Leben erfüllt, beschließt Claude in einem nahegelegenen Lokal einzukehren, um sich bei einem leichten Imbiss die zuvor gekaufte Zeitung zu Gemüte zu führen, hat er den Geschehnissen der aktuellen Weltpolitik in den letzten Tagen doch allzu wenig Beachtung geschenkt, wo er sich diesbezüglich doch an und für sich stets auf dem Laufenden zu halten bemüht. Das zum Nachtisch bestellte Stück Kuchen schmeckt für die Gegend erstaunlich gut, ebenso wie der Kaffee, der ihn aufputschen, die ganz allmählich seine Glieder und seine Gedanken lähmende Mattigkeit vertreiben soll.