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Wir rekonstruierten anhand von Roswitha Delgados Kalender und gesammelten Zahlungsbelegen für Flugtickets und dergleichen fast ein Dutzend Treffen. Jochen Delgado hatte in Wien unter wechselnden Adressen gelebt, zuletzt in der Langen Gasse. „Die Pension hieß Wildbolz und wurde im Internet als 'gay friendly' angepriesen“, berichtete Roswitha Delgado. „Das bedeutete wohl in erster Linie, dass die Sauna nur für Männer war...“

„War ihr Bruder homosexuell?“

„Nein. Ich glaube für Jochen war das eine Art zusätzlicher Tarnung.“

„Die ihm aber offenbar nichts genützt hat.“

„Richtig.“

„Können Sie sich vorstellen, dass irgendjemand in dieser Pension über seine wahre Identität Bescheid wusste und ihn an Gruschenko verraten hat?“

„Nein. Ich meine, ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der es starke Vorurteile gegen Homosexuelle gab und ich muss sagen, als ich sah, wo Jochen lebte, war das für mich schon zunächst etwas eigenartig. Aber die Leute dort waren sehr herzlich und nach meinem Eindruck völlig ahnungslos, was Jochens wahre Identität anging. Und zu wem er sonst noch Kontakt hatte, entzieht sich ehrlich gesagt meiner Kenntnis. Wenn ich mich ihm getroffen habe, waren wir immer allein.“

Etwa später trafen unsere Kollegen Fred Düpree und Josy Oldendorp ein. Wir hatten inzwischen mit Kriminaldirektor Bock gesprochen und dieser hatte ein paar Gespräche mit der Staatsanwaltschaft sowie seinen Vorgesetzten geführt. Es lag auf der Hand, dass Roswitha Delgado nicht in ihrem Bungalow bleiben konnte. Unsere Kollegen Fred und Josy bekamen die Aufgabe, sie in eine der vom BKA unter konspirativen Rahmenbedingungen angemieteten Wohnungen zu bringen, die unter anderem dazu dienen, gefährdete Zeugen für eine Weile zu beherbergen.

Diese Wohnung würde rund um die Uhr unter Bewachung stehen, sodass für ihre Sicherheit garantiert werden konnte, so weit das nach menschlichem Ermessen möglich war.

Rudi und ich blieben derweil noch am Tatort, um die Ermittlungsergebnisse abzuwarten. Zu den wichtigsten Spuren gehörten natürlich die sichergestellten Projektile. Dazu fanden sich auch zwischen den Sträuchern die passenden Patronenhülsen. Der Täter hatte keine Zeit mehr gehabt, sie einzusammeln.

Nach dem Van war sofort, nachdem ich die Nummer durchgegeben hatte, eine Großfahndung eingeleitet worden.

Es stellte sich zwar heraus, dass Kennzeichen und Fahrzeugtyp übereinstimmten. Aber der Halter hatte vor zwei Tagen den Diebstahl seines Nummernschildes gemeldet.

In wie fern das eine Schutzbehauptung war, würde man klären müssen - aber wenn der Attentäter wie angenommen ein Profikiller war, dann sprach vieles dafür, dass tatsächlich falsche Kennzeichen benutzt worden waren. Kennzeichen, die allerdings so sorgfältig ausgesucht worden waren, dass sie bei einer gewöhnlichen Überprüfung durch die Autobahnpolizei gar nicht als solche aufgefallen wären.

„Es könnte gut sein, dass im Van ein zweiter Mann gewartet und den Killer abgeholt hat“, sagte ich.

Wir erkundigten uns in der Nachbarschaft des leerstehenden Hauses und fragten nach, ob sich jemand in den letzten Tagen für das Anwesen interessiert hätte.

Genau gegenüber wohnte eine ältere Frau, die den Großteil ihrer Zeit am Fenster und hinter den Gardinen verbrachte. Als wir sie besuchten, hatten wir durch die anderen Nachbarn bereits von ihr gehört. Sie hatte offenbar das Hobby, Falschparker aufzuschreiben und bei jeder hörbaren Lebensäußerung gleich die Polizei zu rufen, um eine Anzeige wegen Ruhestörung aufzugeben. Dementsprechend unbeliebt war sie.

An der Tür öffnete sie bereitwillig, nachdem ich meinen Dienstausweis vor die Kameralinse gehalten hatte, mit der der Bereich vor der Eingangstür überwacht wurde.

„Das BKA! Welche Ehre“, sagte sie.

„Können wir einen Augenblick hereinkommen?“

„Sicher. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Tee?“

„Nein danke.“

„Was war denn da drüben eigentlich los? Man hat ja Dutzende von Sirenen gehört...“

„Das Haus gegenüber...“, versuchte ich einen Satz zu beginnen, aber sie ließ mich gar nicht erst ausreden.

„...soll verkauft werden. Die Besitzer heißen Danniger. Eric und Raquel Danniger. Er ist irgendwie in der Computerbranche. Was sie macht weiß ich nicht, aber sie fuhren immer teure Wagen. Angeblich wollen sie das Haus verkaufen, weil die Dannigers in den Westen gezogen sind, aber ich habe jetzt gehört, dass seine Firma pleite sein soll und...“

Ich versuchte, den Redefluss der alten Dame auf eine Weise zu stoppen, die möglichst höflich und trotzdem wirkungsvoll war.

„Hat sich in den letzten Tagen auf dem Grundstück jemand herumgetrieben? Sie haben doch eine ziemlich gute Sicht dorthin...“

„Ja, da war gestern jemand. Ein Rothaariger.“

Rudi und ich sahen uns an und ich nahm einen vergrößerten Ausschnitt des Screenshots hervor und zeigte ihn der alten Dame. „War das zufällig dieser Mann hier?“

„Ja! Er fuhr einen Sportwagen. Ich kenne mich so schlecht mit Autotypen aus. Jedenfalls hielt er kurz vor dem Haus, stieg aus und sah sich alles an. Ich habe nur gedacht, interessiert sich doch endlich mal wieder jemand für das Haus, nur hätte ich so einen Angeber nicht gerne als Nachbarn. Ich meine, wer schon so einen Wagen fährt, das sagt doch alles, würde ich sagen!“

„Sie haben eine Kamera vor der Tür“, stellte Rudi fest. „Vielleicht hat die ja etwas aufgezeichnet.“

„Sie können die Aufzeichnungen gerne benutzen, wenn ich Ihnen damit irgendwie helfen kann. Allerdings kenne ich mich überhaupt nicht mit der Technik aus und kann Ihnen da leider auch kein bisschen helfen. Alle zwei Wochen kommt jemand, der alles wartet.“ Sie seufzte . „Ja, das war früher anders. Wisse Sie ich, ich stamme aus einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, da hat niemand die Türen abgeschlossen – aber heutzutage, ist man ja seines Lebens schon in den eigenen vier Wänden seines Lebens nicht mehr sicher.“

Ich fragte noch nach dem Van mit den getönten Scheiben. Der war ihr auch aufgefallen – aber den Mann mit Kapuze hatte sie nicht gesehen. „Tut mir leid, da habe ich gerade telefoniert. Meine Schwester aus München hat angerufen und wenn wir erstmal an zu reden fangen, dann vergessen wir öfter mal die Zeit.“

Wir sahen uns die Aufzeichnungen ihrer Überwachungsanlage im Schnelldurchlauf an. Der Ausschnitt war so gewählt, dass natürlich in erster Linie der Eingangsbereich zu sehen war. Den dunklen Van sah man nur kurz vorbeifahren.

Den Sportwagen sah man überhaupt nicht, obwohl die alte Dame sich ziemlich genau an die Uhrzeit erinnern konnte und auch noch wusste, wo das Fahrzeug geparkt hatte. Offenbar war das einfach außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera gewesen.

Aber den Rothaarigen sah man kurz durch Bild huschen. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, aber für einen Moment war sein Gesicht erkennbar.

„Ich will unseren Telemetrie-Experten ja nicht vorgreifen, aber ich denke, das ist der Mann den wir suchen“, meinte Rudi.

Ich war derselben Ansicht.

Das große Buch der Berlin-Krimis 2017 - Romane und Erzählungen auf 1000 Seiten

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