Читать книгу Sammelband 4 Krimis: Amok-Wahn und andere Thriller - Alfred Bekker - Страница 37
ОглавлениеProlog
»Shit!«
Benedict flucht belustigt vor sich hin, als er beim ersten Anlauf die Auffahrt zur M 4 verpasst. Nochmals lässt er also den schweren Wagen eine Runde durch den Kreisverkehr drehen. Passiert nochmals den grauen Kastenquader des riesigen Post-House-Hotels auf der linken Seite. Dann, das blaue Schild mit der Aufschrift The West taucht zum zweiten Mal vor ihm auf, lenkt er den Jaguar elegant nach links auf den Motorway 4 Richtung Bristol und Cardiff und ordnet sich zügig in den aus Londons City herausfließenden Verkehr ein.
Hauptkommissar Vitus H. Benedict bereitet es nie große Schwierigkeiten, sich auf den Linksverkehr einzustellen. Schließlich hatte er eine geraume Zeit seiner vorpolizeilichen Laufbahn in diesem Land verbracht, und manchmal fühlte sich der Deutsche sogar der Mentalität und Denkweise der Inselbewohner verbundener als der seiner kontinentalen Landsleute.
Natürlich, anfangs ist der Blick in Seiten- und Rückspiegel noch etwas häufiger, aber dann sitzt der große, dunkelblonde Mann, der trotz seiner 47 Jahre noch gut für Ende Dreißig durchgehen könnte, entspannt in dem bequemen Ledersitz des anthrazitgrauen Luxusgefährts aus Coventry. Die eingeschaltete Klimaanlage sorgt für erträgliche Innentemperatur, während draußen diese ungewöhnlich starke Junisonne auf die rollenden Blechdächer knallt.
So eine ähnliche Hitze hatte er schon mal in England erlebt. Ja, das muss so um 1960 rum gewesen sein, als er 15-jährig die Sommerferien an der kiesigen Südküste verbracht hatte. Damals war er an solch einem heißen Wochenende von Brighton nach London gefahren. Da fuhren auf dieser Strecke noch die roten Pulman-Züge mit viel Plüsch, Zugkellnern in weißen Jacken und mit Silbertabletts, auf denen dreieckiger Toast und Tee gereicht wurden. Im halbleeren Sommer-London war er dann von der in den Steinkästen gespeicherten und reflektierten Sonnenglut fast gegrillt worden. Mit Chris Barbers »Petit fleur« auf den gespitzten Lippen hatte er verzweifelt in Sohos damals noch geheimnisumwitterten Sträßchen nach dem Les Enfants Terribles, einem Aufreißer-Geheimtipp, gesucht.
Der kühle Klimahauch der summenden Automatik streicht über sein erhitztes Gesicht. Er schüttelt sich leise fröstelnd. Sitze hier wie ein Fisch im Aquarium, denkt der Düsseldorfer Polizeibeamte, als er die rotgesichtigen Insassen in den Fahrzeugen auf dem grauen Band des Motorways Richtung Wales sieht. Selbst das Grün der englischen Landschaft links und rechts des M 4 scheint von einem stumpfsilbernen Bleischimmer überstäubt zu sein. Der Aufreißer-Geheimtipp hatte sich damals als ziemlich normales Café mit verruchtem Franco-Touch entpuppt, und an die rumsitzenden Mädels war wie überall nur schwer ranzukommen gewesen. Jedenfalls für ihn. Ziemlich frustrierende Angelegenheit für einen pubertierenden Jüngling.
Als er rechts auf die Überholspur wechselt, bemerkt er, dass auf seinem Brillengesicht im großflächigen Rückspiegel des Wagens ein Ausdruck fröhlicher Verschmitztheit liegt.
War natürlich eine Schnapsidee gewesen.
Wie am Tag seines ersten Dienstantritts vor zehn Jahren in Düsseldorf, als er mit Kittys Hochzeitsgeschenk, dem 12-Zylinder-Jaguar, in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums gerauscht kam. Von diesem Tag erzählt man sich noch heute die sensationellsten Geschichten auf den dunklen Fluren des alten Gemäuers am Jürgensplatz, und er hatte lange hart arbeiten müssen, um den damals so leichtfertig erworbenen Ruf halbwegs wieder loszuwerden.
Schon beim Abflug in Düsseldorf vorhin war das so komisch gewesen. Als er die blaugraue British-Airways-Boeing nach London bestieg, hatte er außer seinem Gepäck auch dieses entspannte Urlaubsgefühl mit sich herumgetragen. Ein Gefühl von Leichtigkeit, welches sich mit jeder Flugmeile mehr und mehr verstärkt hatte. Und als er dann, nachdem er sich für 5 Pfund ein Busticket nach Reading gekauft hatte, die schützende Klimakammer des wimmligen Ankunftterminals in Heathrow verließ, da war es ihm plötzlich völlig unsinnig erschienen, sich bei dieser unenglischen Affenhitze in die schweißtreibenden Velourssessel eines überfüllten Reisebusses zu setzen.
Statt sich also, inmitten fadenscheinig gekleideter Engländer und kurzhosiger Rucksacktouristen, in den grauen Bahnbus nach Reading zu drängeln, hatte er kurzentschlossen einen der gerade eintreffenden schwarzgelben Zubringerbusse eines Autovermieters angehalten und sich von dessen indischem Fahrer zur Hertz-Station fahren lassen.
Selbstverständlich wollte er sich keinen Jaguar mieten. Es hatte etwas für Beamte des mittleren Dienstes sein sollen. Der Mietvertrag über den Audi 80 war ja auch schon ausgefüllt gewesen. Ein Fahrzeug, welches er problemlos hätte über die Reisekosten abrechnen können. Dann aber ... das Hertz-Mädchen war wohl wegen seiner goldenen Eurocard oder seinem flott sitzenden, italienischen Sommeranzug auf die Idee verfallen, ihm unbedingt doch noch das Jaguar-Weekend-Sonderangebot schmackhaft machen zu wollen. Vielleicht hatte er aber auch diese entspannte, widerstandslose Urlaubsträgheit zu offensichtlich mit sich herumgetragen. Sie hatte jedenfalls ihr Spiel begonnen. Und sie hatte so ein angenehm frisches Parfüm gehabt ... und ihre Bluse war wohl wegen der Hitze recht weit geöffnet gewesen ... und dann diese intensivblauen Verkaufskontaktaugen ... jedenfalls stand Benedict plötzlich mit den Jaguar-Schlüsseln in der gleißenden Sonne des Carparks.
Jetzt würde er die Kosten natürlich selber tragen müssen. Klar, würde er schon hinkriegen. Schließlich hatte ihn seine bei einem Bergunfall ums Leben gekommene Frau Kitty reichlich versorgt zurückgelassen. Er müsste versuchen, das völlig unangemessene Fahrzeug möglichst abseits vom Tagungshotel in Reading abzustellen. Sonst erginge es ihm mit den ausländischen Polizeikollegen wohl ähnlich wie seinerzeit mit der neidischen Bande im Düsseldorfer Präsidium, und Ganser hätte nach seiner Rückkehr vom Lehrgang genügend Stoff zum Lästern.
Der Kripomann betätigt den Regler der Klimaanlage am hölzernen Armaturenbrett. Das kühle Rauschen wird leiser. Links vom Hügel schauen die trutzigen Sandsteine Schloss Windsors herüber, während der Wagen an den protzigen Geschäftsneubauten der gleichnamigen Ortschaft rechts vorbeigleitet. Leicht tippt Benedict mit der Fingerspitze auf den Radioschalter, und der edel duftende Innenraum füllt sich mit Stereoklassik.
Nein, er ist keineswegs unzufrieden mit seiner Lage. Und irgendwie ist das ja auch wirklich keine richtige Dienstreise, diese Interpol-Tagung in Düsseldorfs Schwesterstadt Reading. Selbst das »Karo«, der wegen seiner Vorliebe für buntkarierte Jacketts kanadischer Herkunft so bespitznamte Chef des Düsseldorfer Polizeipräsidiums, hatte ihm gestern zum freitäglichen Abschied nach dem obligatorischen »Glück auf!« noch ein brummig-freundliches »Schönen Urlaub, und blamieren Sie die Innung nicht« mit auf den Weg gegeben.
Der hat es gerade nötig, grinst Vitus H. Benedict vor sich hin und versucht schnell vor einem von hinten heransausenden Motorrad auf die mittlere Spur zu entkommen, schließlich habe ich ihm diese zweifelhafte Ehre ja zu verdanken.
Hätte ja auch ablehnen können, als das BKA um Benedicts Abstellung zum Symposium Internationaler Terrorismus in Reading ersuchte. Was hatte er schließlich mit Interpol zu tun?! Er, ein stinknormaler Hauptkommissar von der Kripo Düsseldorf. Dort zwar Leiter des 1. Kommissariats, zuständig für Todesermittlungen und Brandsachen, aber doch nicht in der Kripo-Bundesliga, dem BKA!
Gerd Neuner, Benedicts alter Kollege und einstiger Zimmerkamerad auf der Polizeischule, hatte ihn dann telefonisch darüber aufgeklärt, dass es eine neue Richtlinie des Innenministeriums gab, wonach ausgewählte Beamte auf Länderebene ergänzende Spezialkenntnisse erwerben sollten. »Hat irgendwas mit der Umsetzung föderaler Inhalte auf Polizeiebene zu tun«, meinte BKA-Neuner mokant am anderen Ende der Dienstleitung in Wiesbaden, und Vitus H. Benedict hatte sich ausmalen können, dass sich Neuners Lippen unter dem himmelwärts gezwirbelten Schnurrbart zu einem sarkastischen Grinsen verzogen.
Dann hatte der ihm aber doch noch ausführlicher dargelegt, dass die Wahl auf den Düsseldorfer gefallen war, weil dieser sich ja in Sachen Terrorismusbekämpfung so seine Meriten erworben habe. Beiläufig wies er noch auf die Sache mit dem IRA-Kommando anlässlich des Besuchs des englischen Thronfolgerpaares in Düsseldorf hin. Schließlich sei er ja auch, was die internationale Zusammenarbeit anginge, nicht ohne Erfahrung, und außerdem spräche er doch noch ein ganz passables Englisch.
»Im Übrigen«, hatte er abschließend gemurmelt, »wirst du bestimmt gerne fahren, wenn du erst die Liste der anderen Konferenzteilnehmer gelesen hast!«, und hatte dann einfach aufgehängt.
Hastig bremst Benedict das schwere Fahrzeug wieder auf die zulässige Geschwindigkeit herunter, nachdem sich der Meilenanzeiger gerade schon bei der Zahl 120 einzupendeln droht. Unmerklich war der Wagen auf der breiten, dreispurigen Straße schneller und schneller geworden. Ob ich mir eine der im Duty Free Shop gekauften Partagas-Zigarren anstecken soll, überlegt er kurz, verwirft aber den verlockenden Gedanken an kubanische Handarbeit schnell wieder angesichts der Kürze der noch ausstehenden Fahrstrecke bis nach Reading. Das würde vielleicht gerade noch für eine kleine Woodbine reichen, lacht er in sich hinein. Ob es die überhaupt noch gibt? Damals, er war ja noch jugendlich leidenschaftlicher Zigarettenraucher gewesen, waren die dünnen Schmalspurzigaretten namens Woodbine der letzte Ausweg vor drohender Enthaltsamkeit gewesen. Mühsam hatten sie die Pennies für die grünen Kleinpackungen zusammengekratzt. Fast 14,- DM kostete zu jener Zeit das Pfund Sterling, und es war noch durch zwölf teilbar gewesen, und in manchen feineren Läden rechnete man noch mit Guinees.
Dann muss der groß gewachsene Mann hinter dem Steuer schon wieder hart auf die Bremse treten. Die breiten Reifen kreischen, und die Wagenfedern quietschen gepeinigt auf, als Benedict die Ausfahrt Nummer 11 gerade noch erwischt.
Wokingham. Bracknell ... Reading. Fast hätte er‘s verpasst.