Читать книгу Sammelband 4 Krimis: Amok-Wahn und andere Thriller - Alfred Bekker - Страница 43

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»Muss das denn gerade jetzt sein?«

Gereizt starrt Ganser zwischen dem grünlich schimmernden Bildschirm und dem jungen Mädchen in der geöffneten Tür hin und her. Während sie ärgerlich ihre Lippen schürzt, flackert auf der Computerbildfläche ein boshaftes ERROR, dem Kriminalhauptmeister auf Lehrgangsurlaub eine Fehlbedienung anzeigend.

»Ist doch so heiß heute, und du wolltest mit mir schon vor zwei Stunden Eis holen fahren, Alter!«

Immer noch zögernd, verharrt Gansers Zeigefinger über dem OFF-Schalter des Computers in der Schwebe. Ein genauerer Blick auf Stephanies finsteres Gesicht beschleunigt aber dann seine Entscheidungsfindung, und mit einem feinen Knistern verliert der grünliche Monitor seine Leuchtkraft. Seufzend klappt er das dicke Bedienungshandbuch seiner letzten Errungenschaft zu und legt es zur Seite.

Seit Beginn seines Urlaubs vom Kommissarlehrgang in Duisburg versucht er sich in die Geheimnisse der Computerei einzuarbeiten. Das hatte ihn immer schon fasziniert. Außerdem könnte ihm es ja bei seiner weiteren Karriere nützlich sein. Wo doch jetzt überall in der Polizei die Datenverarbeitung Einzug hielt. Aber der Mann von der Computerfirma in Düsseldorf hatte ihn gewarnt. Die Sache hatte zweifelsohne ihre Tücken. Das war kein Motorrad. Aber dass es ein so mühsames Geschäft sein würde, nein, das hatte er dann doch nicht erwartet. Um so mühsamer, wenn man zusätzlich dauernd von den Wünschen eines gelangweilten Mädchens nach Unterhaltung oder Eis unterbrochen wird.

»Also gut. Fahren wir. Hol dir schon mal den Helm!«

Blitzschnell verschwindet Stephanies blonde Haarpracht unter dem Motorradhelm, den sie hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte, und Ganser schiebt die schwere Maschine aus der Garage. Nachdem »sein« roter Spezialflitzer für ihn unerreichbar in der Tiefgarage des Polizeipräsidiums am Jürgensplatz steht, hat Angela von ihrem letzten Honorar als Modell diese gebrauchte BMW für ihn erstanden. Angenehm war ihm das nicht gewesen. So ein teures Geschenk von ihr anzunehmen. Natürlich verdiente sie mit einem Wochenendjob manchmal mehr als er im ganzen Monat. Trotzdem. Aber dafür hatte er seine eigenen Ersparnisse in die Anschaffung dieses Personalcomputers stecken können. Eine Anschaffung, die ihn mittlerweile derart in Beschlag nahm, dass das noch schwierige Zusammenleben mit Angela und ihrer Tochter aus der geschiedenen Ehe schon unter ihr zu leiden begann. Diese blöde Maschine! Warum hatte sie gerade wieder ERROR angezeigt?

Als Ganser das Motorrad auf der Straße anlässt, das leise Blubbern kündet vom regelmäßigen Lauf des Motors, ertönt plötzlich ein hartes Rattern in der samtigen Luft über ihm. Rotorblätter zersägen den tiefblauen Nachmittagshimmel. Die Silhouetten zweier Hubschrauber werfen schwarze Schatten über die weißen Bungalows und Einfamilienhäuser. Hunde geben erschrocken Laut. Über Gernot Gansers Nasenwurzel entsteht eine kleine Falte, und er legt beobachtend den Kopf weit zurück in den Nacken, die Hand als Schirm über die Augen legend. Das Geräusch der grünen Fluggeräte fällt als störender Lärmteppich über den verdösten Kleinstadtnachmittag her. An seinen Rändern zupft entfernt das auf- und abschwellende Heulen von Polizeisirenen.

Ganser schüttelt den Kopf und setzt dann auch seinen Schutzhelm auf. Mit Stephanie auf dem Rücksitz fährt er das sonnenhelle Sträßchen entlang. Jetzt wieder heißer Nachmittagsfriede. An leeren Vorgärten und staubgrünen Birken vorbei, blubbern sie gemütlich in Richtung der B 7. Ein junges Mädchen mit strähnig abstehenden Haaren lässt sich, auf einem Skateboard stehend, von einem Fahrradjungen ziehen. Sonst ist alles leer. Der Wasserstrahl eines falsch aufgestellten Rasensprengers spritzt Ganser im Vorbeifahren gegen das Visier seines Helms. Wie tot liegt das Villenviertel, in dem doch sonst um diese Zeit die Formel-1-Rasenmäher ihren Grand Prix austragen. Sitzen wahrscheinlich alle am überfüllten Unterbacher See und lassen sich braten. Nein! Natürlich, fällt ihm wieder ein, die hängen bestimmt alle vor dem Fernseher. Über seiner Computerei hätte fast vergessen, dass heute das Fußballspiel England gegen Holland im Düsseldorfer Rheinstadion läuft. Er könnte ihn würgen, diesen verdammten Computer. Dieses Spiel zu vergessen! Er, überzeugter Anhänger der leider immer glücklosen Fortuna Düsseldorf und selber im VfL Benrath aktiv kickend. Wenn sie von der Eisbude zurück sind, vielleicht könnte er dann noch ein bisschen ...

An der Abzweigung auf die breite Ausfallstraße nach Düsseldorf steht ein Motorradpolizist und stoppt den wenigen Verkehr. Ganser sieht, dass sich rechts, aus Richtung Landeshauptstadt, schon ein paar Autos stauen.

»Was ‘n los?«, ruft er zu dem Motorradbeamten hinüber.

Der scheint ihn aber nicht zu kennen. »Hier können Sie nicht abbiegen! Der Innenstadtbereich ist für den Verkehr gesperrt!«

»Bleib sitzen!«, sagt Ganser zu Stephanie auf dem Rücksitz, bockt die Maschine am Straßenrand hoch und geht zu dem in der Hitze schwitzenden Polizisten in die Straßenmitte.

»Hallo, Kollege!«, betont er nachdrücklich und wedelt ihm gleichzeitig mit seinem Dienstausweis vor der Nase herum.

»Ach so«, murmelt der jetzt schon etwas freundlicher. »Da unten ist der Teufel los. Irgendjemand schießt da wie wild in der Gegend rum. Alles gesperrt. Drei Notarztwagen sind schon durch. Ich warte auf die Verstärkung aus Düsseldorf. Na, wenn du von der Kripo bist ... kannst dich bestimmt da unten nützlich machen ... die brauchen jeden Mann!«

Und mit einem besorgten Blick zu dem auf dem Sozius sitzenden Mädchen fügt er noch hinzu: »Aber deinen Jungen solltest du da besser nicht mit hinnehmen ... es muss ziemlich ...« Schnell wendet er seine Aufmerksamkeit wieder einem aufgebrachten Autofahrer zu, um ihn an der Weiterfahrt zu hindern.

Der Kriminalhauptmeister verzichtet darauf, dem uniformierten Kollegen mitzuteilen, dass es sich bei dem Jungen um ein Mädchen handelt. Er muss dem ja nicht seine ganze Familiengeschichte erzählen. Nachdenklich geht er wieder zur Maschine zurück.

»Pass mal auf, Stephanie ... also, das mit dem Eis ... ich verspreche dir wirklich, ich bringe dir nachher ein extra Großes mit Früchten und Sahne mit. Aber da ist irgendwas ganz Schlimmes passiert, und die lassen hier niemanden durch und ...«

»Ja, ja, ja! Ich weiß ... der große Sheriff Ganser wird jetzt das kleine Mädchen wieder zurück nach Hause bringen und sich dann heldenhaft als Retter der Mütter und Waisen in das Kampfgetümmel stürzen!«

Wo nehmen so kleine Mädchen heutzutage bloß diese Sprüche her, denkt er, sagt aber laut nur: »Du hast‘s erfasst! Genau so wird es laufen. Bin ja bald wieder zurück!«

»Kannst mir ja ‘nen süßen kleinen Gangster mitbringen. Und vergiss bloß mein Eis nicht!«, behält Stephanie maulend das letzte Wort, als er sie vor der Haustür wieder absetzt.

Am Rande der Absperrung aus rotweißen Plastikbändern stehen mehrere Notarztwagen und Ambulanzen. Blaulichter flackern. Uniformierte Kollegen halten heranhastenden Sanitätern den Weg frei. Mit der zunehmenden Zahl Schaulustiger wird der Ton der Beamten immer rüder. Auf Bahren liegen stöhnende Verletzte. Krankenwagen verlassen unter Sirenengeheul den Schauplatz. Schon rast der nächste grellrot lackierte Transporter heran. Die ganze Innenstadt befindet sich in Aufruhr. Barsche Kommandos. Schreie. Anordnungen der Notärzte. Über allem dieser Geruch von warmem Schweiß und ... Schlachthof.

»Mensch, pass doch auf!«

Über die ersten beiden Leichen wäre Ganser fast gestolpert. Sie liegen vor den zersplitterten Schaufensterscheiben eines Buchladens um die Ecke. Ein junges Pärchen, noch mit ineinander verschränkten Armen, musste es wohl gerade vor dem Überqueren der Straße an der Ampel erwischt haben. Einige blutverschmierte Bücher liegen auf den toten Körpern. Sie müssen aus der zerschossenen Auslage auf den Gehweg gefallen sein.

Er hat schon viele Tote gesehen während seiner Polizeikarriere. Aber das hier. Ein richtiges Gemetzel. Und, mein Gott, diese Fliegen. Überall Sommerfliegen in der Luft und in Schwärmen auf den Leichen.

Wenige Schritte weiter, vor dem Juwelierladen, liegt ein älterer Mann. Der Kopf wahrscheinlich im Fallen auf die Bordsteinkante aufgeschlagen. Graubraune Flüssigkeit verschmiert die Steine, von denen es süßlich hochdunstet.

Ganser hält sich ein Papiertaschentuch vor den Mund und versucht den Atem anzuhalten. Vorsichtig geht er weiter. Zählt auf seinem Weg durch die Fußgängerzone sieben Leichen und weiß nicht, ob das alle sind. Da muss ein ganzes Killerkommando gewütet haben. Was soll das? Hier in diesem friedlichen Nest. Er ringt nach Luft. Sucht nach einer Erklärung für dieses ... Watt von Blut und Tod.

Schreiend teilt ein uniformierter »Viersternegeneral« von der örtlichen Schutzpolizei die endlich anrückenden Verstärkungen zu den einzelnen Absperrposten ein. »Ortseingang B7! Ab! Ihr vier an die Düsseldorfer Straße, Ecke Goethestraße! Los! Dalli, dalli! Neanderstraße, Ecke Bismarckstraße! Beeilung!«

Erst als die erste Hundertschaft der Düsseldorfer Reserve aufgeteilt ist, wendet sich Ganser an den Mann mit der kräftigen Stimme, den er kennt: »Bist du hier Abschnittsleiter?«

»Ja, verdammter Mist!«, sieht der kurz von seinem Stadtplan auf. »Ach du bist das, Ganser. Muss ich Idiot auch gerade heute KvD sein! Was willst du?«

»Na, ich hab zwar Urlaub, aber ihr könnt hier doch bestimmt noch Hilfe gebrauchen ...«

»Können wir, Kollege! Bis eure Leute vom 1. K aus Düsseldorf kommen, pass du mal auf, dass hier nicht alles breitgelatscht wird. Und wenn die Düsseldorfer da sind ... melde dich wieder bei mir!«

Der Kriminalhauptmeister bemüht sich in der nächsten Viertelstunde, die jungen Bereitschaftspolizisten der Reservehundertschaft im Zaum zu halten. Schließlich soll die Spurensicherung auch noch was zum Sichern finden.

Nach und nach trudeln die Kollegen aus Düsseldorf ein. Um 15 Uhr 15 steht plötzlich eine brünette Frau mit Brille vor ihm.

»Hallo, Maria«, sagt Ganser und reicht der Kollegin vom 1. K die Hand. Auf dem immer etwas teigig wirkenden Gesicht der Oberkommissarin, die früher mal auf der Kölner Dienststelle war, zeigt sich Erstaunen. Erfreutes Erstaunen.

»Du bist gar nicht auf Lehrgang?« Blinzelnd kneift sie die Augen hinter der großen Hornbrille zusammen.

»Urlaub«, sagt der Angesprochene kurz.

»Hier?« Der Blick von Maria Leiden-Oster schweift über das hektische Durcheinander.

»Na, ich wohne hier ... bei einer Bekannten.«

Das angespannte Gesicht der Kommissarin überzieht sich schnell mit hektisch-roten Flecken, als sie ruckartig den Kopf wegdreht. Während des Falles mit dem psychopathischen Sexgangster hatten Ganser und die MLO, wie man sie mittlerweile liebevoll abkürzt, ein sehr intensives Niveau der Zusammenarbeit erreicht. Jetzt aber entgeht ihm die Veränderung ihrer Gesichtshaut. Innerlich ist er zu sehr damit beschäftigt, den Anblick blutverschmierter Leichen und schmerzverzerrter Verwundeter zu verdauen.

»Es sieht schlimm aus. Wer von euch kommt noch?«

»Die Neumänner und Doemges. Noch ein paar neue Kollegen.«

»Und der Chef?«

»Ich bin hier der Chef! Benedict ist in England zu einer Interpol-Konferenz!«

Ganser beißt sich auf die Lippen. Sein Blick wird mitfühlend.

»Meinst du, dass ihr mich hier brauchen könnt?«

Maria Leiden-Oster nestelt an ihrer Jeanshose herum und sieht ihn zweifelnd an. »Wenn du Urlaub hast ...«, murmelt sie.

»Ganser, kommst du mal her!?«, wird sie von der Stimme des uniformierten Abschnittsleiters unterbrochen. Der Kriminalhauptmeister zuckt entschuldigend mit den Achseln und dreht sich von der Kollegin weg.

Als die Leitstelle der Kleinstadt um 14 Uhr 39 den ersten Kontakt zur Leitstelle des Polizeipräsidiums Düsseldorf aufnimmt, sitzt der Leitende Kriminaldirektor der Kripo im 3. Stock bei seinem Nachmittagskaffee.

»BODO ruft DÜSSEL, BODO ruft DÜSSEL!«

»DÜSSEL für BODO!?«

Unter normalen Umständen säße der Leitende jetzt zu Hause im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Immerhin ist er nicht nur begeisterter Segler, auch ein spannendes Fußballspiel weiß er zu schätzen. Angesichts der angespannten Lage sitzt er aber auf Präsidiumsbereitschaft, während sein Pendant von der Schutzpolizei die Einsatzleitung im Rheinstadion hat.

Knapp zehn Minuten später hat er eine erste Übersicht über das Kapitalverbrechen vor den Toren Düsseldorfs. Während die Zuschauer im Rheinstadion eine Abwehrleistung des englischen Torwartes Shilton beklatschen, fällt die Einsatzleitung automatisch an die Hauptstelle in Düsseldorf, übernommen durch den Leitenden Kriminaldirektor. Er begibt sich dazu in einen Nebenraum der Einsatzleitstelle, der in Ausnahmesituationen den Krisenstab der Polizei Düsseldorf beherbergt. Aus den knappen Informationen durch BODO filtert er das Wichtigste heraus und trifft seine Entscheidungen.

Nach ersten Zeugenaussagen hat ein oder haben mehrere unbekannte Täter im Bereich der Fußgängerzone mit Handfeuerwaffen eine bislang noch unbekannte Anzahl von Passanten getötet und verletzt. Es ergeht Befehl an den Schutzpolizeileiter der Kreisstadt, mit Sofortmaßnahmen am Tatort zu beginnen. Weiterhin ersucht der Kriminaldirektor den Leiter der Schutzpolizei Düsseldorf um Entsendung von zwei Reservehundertschaften aus dem Stadionbereich in die Kreisstadt. Er informiert die Leitstelle MARTHA über die entstandene Lage. MARTHA befindet sich im Regierungspräsidium und hat in allen jenen Fällen Koordinierungsfunktionen, wo mit Hinzuziehung fremder Kräfte gerechnet werden muss oder wo eine Zusammenarbeit mit anderen Dienststellen und Länderpolizeien zu gewährleisten ist.

Über MARTHA fordert der Leitende Kriminaldirektor weitere Polizeiverstärkungen aus den Bereichen Wuppertal, Essen und Duisburg an. Alle verfügbaren Beamten des 1. K, zuständig für Tötungsdelikte, werden in die Kreisstadt in Marsch gesetzt. In Abwesenheit des Leiters 1. K übergibt er der Oberkommissarin Leiden-Oster die Führung der Ermittlungen am Tatort. Die Oberkommissarin erreicht er über Funk im Rheinstadion.

Da der (oder die) Täter in dem verhängnisvollen Chaos fliehen konnte und der jetzige Aufenthaltsort unbekannt ist, ordnet MARTHA auf Ersuchen des Leitenden die Verlegung von Hummel 6, eines weiteren Hubschraubers vom Typ BO 105 der Polizei-Flugstaffel Rheinland, in das Einsatzgebiet an.

Gegen viertel nach drei scheint die Lage einigermaßen im Griff.

»Fahr mal nach Metzkausen rauf! Wir wissen wahrscheinlich jetzt, wo der Typ steckt. Aber pass auf!«

Ganser lässt sich vom KvD der Schutzpolizei erklären, was Sache ist. Der Täter hat sich anscheinend in diesen etwas außerhalb liegenden Ortsteil abgesetzt und ballert da weiter wild um sich. Soll schon ein paar Autos zu Klump geschossen haben.

Da, wo die Berliner Straße links abbiegt, wird er von jungen Bereitschaftspolizisten gestoppt und aufgeregt eingewiesen. Es scheint ihr erster großer Einsatz zu sein.

»Da weiter unten geht die Straße in eine Senke mit einer Fußgängerampel. Dann wieder bergauf aus einer Kurve raus. Und da, da schießt der von irgendwoher rein. Liegen schon zwei oder drei Autowracks da. Vorsicht, also!«

Der Kriminalhauptmeister kennt sich zum Glück hier aus. Dennoch fragt er sich im Stillen, ob den angehenden Beamten heutzutage nicht mehr beigebracht wird, wie wichtig präzise Ortsbeschreibungen sind.

»Habt ihr denn die Straße wenigstens von der andern Seite sperren lassen?!«, faucht er den stotternden Jüngling in Grün an.

»Hältst du uns für Blinde!«, erwidert der mit überkippender Stimme und klopft mit der flachen Hand auf den leeren Rücksitz der BMW. Gernot Ganser klappt kopfschüttelnd das Visier seines Helms runter und fährt im Schritttempo die Nordstraße weiter in Richtung Metzkausen. Wieder Gärten und Einfamilienhäuser. Am Straßenrand haben sich die ersten Neugierigen, angelockt von Schüssen und Polizeiaufmarsch, in kleinen Grüppchen versammelt. Nur unwillig gehorchen sie den Anweisungen der Bereitschaftspolizisten, sich zu trollen. Aus einer der kleinen Seitenstraßen wehen Teile einer Lautsprecherdurchsage herüber: »Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Bitte räumen Sie unverzüglich ...«

Kurz vor der nach rechts abzweigenden Straße Am Krumbach sperren erneut mehrere Uniformierte die Straße in ihrer ganzen Breite ab.

»Du bist der Kollege von der Kripo Düsseldorf?«, fragt ihn ein junger Polizeihauptmeister und sagt etwas in sein Funkgerät.

»Du steigst jetzt besser von deiner Maschine und lässt sie hier stehen. Du musst dich vorsichtig in die Kurve reinschleichen, weil der die genau von seiner Position aus bestreichen kann. Im Moment ist es zwar ruhig, aber ... da liegen schon drei Autowracks, die die Kurve blockieren. Pass wirklich auf! Wir wissen nicht, ob der vielleicht mit Zielfernrohr arbeitet!«

»Na, ist doch eine prima Gelegenheit, um das rauszufinden!«, versucht sich Ganser in humoriger Gleichmütigkeit. »Gebt ihr mir eins von euren Funkgeräten mit?«

Einer der Kollegen reicht ihm seins.

»Habt ihr die Leute da unten denn schon aus den Wracks rausgeholt?«

Der Truppführer schüttelt ärgerlich den Kopf. »Wie denn? Sobald wir da was versuchen, knallt der uns auf die Rübe. Sitzt da oben in so einer Art Scheune und hat völlig freies Schussfeld. Uns muss da bald was einfallen, sonst ... müssen wir warten, bis es dunkel ist!«

Das gefällt Ganser ganz und gar nicht.

Auf der linken Straßenseite arbeitet er sich dann in halbgebückter Haltung bis an den tiefsten Punkt der Senke vor. Da, wo die Ausfallstraße nach Metzkausen in einer Rechtskurve bergan zu steigen beginnt, kann er auf einem mehrere hundert Meter entfernten Hügel die flachen Dächer moderner, dreistöckiger Terrassenhäuser auftauchen sehen. Dann, kurz vor der Ampel, auf die ihn der hektische Jungbulle eben hingewiesen hat, erkennt er auch das graue Schieferdach eines scheunenähnlichen Gebäudes. Tiefer gebückt schleicht er nun weiter. Hält sich links an einem Metallgeländer fest. Hinter der Ampel wird es wohl gefährlich werden, denn da kommt er in das Sichtfeld des unsichtbaren Schützen da oben in der Scheune. Vorne sieht er schon die drei ineinander verkeilten Autos auf der Straße. Öliger Qualm steigt zum Himmel. Noch näher müsste er ran, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen.

An der Ampel führt ein kleiner Weg nach links. Da steht ein grauer, metallischer Kasten. Vielleicht ein Trafo. Wenn er dahin käme, da hätte er einerseits ausreichende Deckung vor dem Schützen und könnte andererseits das Gelände ziemlich genau einsehen. Kurzentschlossen sprintet er mit mehreren Sätzen zu dem Kasten hin, wo er sich stolpernd zu Boden fallen lässt. Hart schlägt er auf einer Betonplatte auf. Wieder auf dieses verdammte Knie, stöhnt er leise in sich hinein. Versucht seinen stoßweisen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Rechts neben sich hört er einen Gully gurgeln. Es stinkt gottserbärmlich. Doch kein Trafo. So riecht kein Strom. Muss irgendwas mit Kanalisation zu tun haben. Von oben wehen wieder die abgerissenen Klänge des Polizeilautsprechers herüber. »Achtung ... behindern einen Einsatz der Polizei ... lassen wir unverzüglich räumen ... Achtung ...«

Links vor sich hat er ein kleines Birkenwäldchen. Knapp dreißig Meter tief, wie er schätzt. Dahinter zieht sich ein mit gelbblühendem Raps bewachsener Hügel rauf, auf dessen Höhe sich die Scheune befindet. Sie zeigt ihre brüchige Breitseite. Langgestreckt mit schadhaftem Ziegeldach. Auf der linken und rechten Seite verandaähnliche Anbauten.

Auch diese dem Verfall nahe. Blinde Fensterhöhlen, ein paar Büsche. Niemand zu sehen. Vorsichtig schiebt Ganser den Kopf weiter aus seiner Deckung heraus. Formt dann mit seinen Händen einen Trichter und ruft zu den qualmenden Autowracks in der Straßenkurve hinüber: »Hallo! Hallo! Hier spricht die Polizei, hört mich da jemand?«

Bis auf das leise Rauschen des Funkgeräts rührt sich erst mal nichts, aber dann meldet sich doch gepresst eine zaghafte männliche Stimme. »Hier! Hallo! Können Sie meine Frau nicht rausholen? Sie ist eingeklemmt!«

»Wir kommen da nicht ran!«, ruft Ganser dem Mann zu. »Sie liegen direkt im Schussfeld. Ich weiß nicht, ob der uns von da oben beobachtet. Können Sie versuchen, am Boden zu mir zu kriechen?«

Statt einer Antwort hört er das Knirschen einer Autotür und sieht, wie sich eine Gestalt aus einem der Wagen auf den Boden fallen lässt. Langsam bewegt sie sich auf Gansers Deckung zu. Als er das blutüberströmte Gesicht des Mannes schon erkennen kann, peitschen aus Richtung der Scheune Schüsse. Kurz vor dem Kopf des Kriechenden schlagen mehrere Projektile in den Boden.

»Laufen Sie, Mensch!«, schreit Ganser den zusammengekauerten Mann an. »Springen Sie hierher!« Schnell wirft er sich hinter dem Metallkasten wieder zu Boden, denn eine Geschosssalve schlägt mit blechernem Knall in seine Deckung ein.

Mit einer letzten, keuchenden Kraftanstrengung lässt sich der Mann neben dem Polizisten auf den Steinboden fallen und ringt nach Luft. »Meine Frau! Um Gottes willen, holen Sie meine Frau raus! Sie ist schwer herzkrank! So holen Sie sie doch!«

»Halten Sie den Mund!«, schreit Ganser den hysterischen Menschen an und schüttelte ihn heftig mit beiden Fäusten am Hemdkragen. »Ganz ruhig. Versuchen Sie ruhig durchzuatmen! Ganz ruhig! Haben Sie Schmerzen? Sind Sie irgendwo verletzt?«

»Nein«, sagt der Mann, dessen Blick immer wieder nach hinten irrt, »nur im Gesicht von den Splittern, aber meine ...«

»Ja, ich weiß«, unterbricht ihn Ganser, »wir werden alles versuchen. Ist außer Ihrer Frau noch jemand in den anderen Wagen? Haben Sie da was erkennen können?«

»Nein, es ging ja alles so schnell. Plötzlich nur noch diese Glassplitter und das Geknalle und ... doch, doch ... da ist jemand über die Felder weggelaufen ... in diese Richtung!« Der Mann mit den Blutkrusten am Hemdkragen zeigt auf die andere Seite der Straße.

»Wie ist Ihr Name?«

»Rüdinghausen, Bernd Rüdinghausen.«

»Wohnen Sie hier im Ort?«

»Ja, in der Haydnstraße.«

Über Funk gibt der Kriminalhauptmeister die Personalien des Mannes an die Postenkette weiter und fordert einen Krankenwagen an. Dann umklammert sein Griff den willenlosen Arm des Opfers und führt es weg. Er geht aus Vorsicht nicht die gleiche Strecke zurück, sondern wählt einen kleinen Weg an der Schule vorbei, wo er von hinten dann wieder auf die Berliner Straße stößt.

Als er mit seinem Mann oben an der Ecke eintrifft, steht die Ambulanz schon da. »Meine Frau! Meine Frau!«, jammert der Mann unablässig, als er ihn dem Sanitäter übergibt.

»Wir machen das schon!«, versucht er Herrn Rüdinghausen und sich selber Mut zuzusprechen, aber der ist schon in dem Mercedes Kombi verschwunden. Erleichtert geht er zur BP-Tankstelle rüber und holt sich die letzte gekühlte Cola aus dem Eisschrank.

Fast in einem Zug trinkt er sie aus. Er stellt die leere Flasche auf die Zahltheke zurück und merkt, wie seine Hand zittert.

»Wir machen das schon ...«, murmelt er noch mal vor sich hin.

Um 16 Uhr 15 hat sich der große Sitzungsraum neben der Operationszentrale im 3. Stock des Polizeipräsidiums Düsseldorf weiter gefüllt. Neben dem Leitenden sitzen auch noch der Leiter der Kriminalgruppe I, Kriminaldirektor Opthoven, und der Stellvertreter des Leiters der Schutzpolizei an dem viereckigen Tischkarree. Ergänzt wird das hohe Duo von den Leuten der LKA-Beratergruppe, Experten der Fernmeldedienste und Angehörigen der Verhandlungsgruppe. Über MARTHA wurden ein Befehlskommando-Bus von der Direktion der Bereitschaftspolizei im westfälischen Selm und vorsorglich mehrere Ausleuchtmasten angefordert. Dieser intern BefKw genannte Bus soll als mobile Einsatzzentrale vor Ort installiert werden. Nah genug, um Verbindung zum Operationsraum zu haben, und weit genug, um nicht in unmittelbare Aktionen verwickelt zu werden. Im Luisenhof, einem angrenzenden Hotel, kann ein Pressezentrum für die zu erwartenden Journalistenscharen eingerichtet werden.

Der Einsatzleiter in Metzkausen hat äußere und innere Absperrmaßnahmen veranlasst, damit die polizeilichen Aktionen nicht durch Verkehr oder Neugierige behindert werden. Der Innenbereich der Kreisstadt und der Ortsteil Metzkausen sind fast lückenlos abgeriegelt. An die Scheune in der Straße Am Altenbruch kommt niemand ran. Der Todesschütze ist an seinem Standort isoliert. Während die Mitarbeiter der psychologischen Verhandlungsgruppe ihre Aktionen vorbereiten, werden alle Einsatzmittel für einen schnellen Zugriff nach Metzkausen verlegt. Die Planung der Operation läuft ab. Wie hundertfach geübt.

Da trifft um 16 Uhr 20 eine neue Hiobsbotschaft ein. Leitstelle BODO informiert die Zentrale in Düsseldorf darüber, dass der Todesschütze wahrscheinlich im Besitz einer weiblichen Geisel ist. Eine Mutter hat das Verschwinden ihrer 14-jährigen Tochter gemeldet. Ein Augenzeuge will beobachtet haben, wie der Fahrer eines Jeeps auf der Nordstraße ein dort an der Bushaltestelle stehendes Mädchen mit vorgehaltener Waffe in das Fahrzeug zwang und dann in Richtung Metzkausen davonfuhr. Die Beschreibung des Mädchens passt auf die Vermisste.

Die Sache spitzt sich zu. Dennoch kann man behaupten, dass die Polizei die Lage um 16 Uhr 30 weitgehend im Griff hat. Der Abschnitt »Kriminalpolizeiliche Ermittlung« in der Innenstadt liegt in den Händen der Kriminaloberkommissarin Leiden-Oster. Der Kommissar vom Dienst ist für den Abschnitt »Verkehrssperrung« zuständig. Der Abschnitt »Scheune« obliegt dem Leiter der Schutzpolizei der Kreisstadt, und der Bereich »Täterverfolgung« wird von einem Hauptkommissar der Kripo Düsseldorf geführt. Der Abschnittsleiter »Scheune« ordnet die sofortige Evakuierung der in unmittelbarer Nähe des Objektes liegenden Häuser und Wohnungen an.

»Halten Sie ausreichend Kräfte für einen Notzugriff in Reserve!« Die vorerst letzte Anweisung des Leitenden in der Düsseldorfer Einsatzzentrale geht fast in einem plötzlichen Hustenanfall unter.

Schon die Zufahrt in das friedliche Wohngebiet von der großen Düsseldorfer Straße aus war von mehreren Beamten mit Motorrädern abgesperrt gewesen. Als Kriminalhauptmeister Gernot Ganser mit seiner schweren BMW von der Peckhauser Straße dann wieder nach rechts in die Florastraße einbiegen will, ist erneut sein Dienstausweis gefordert. Quer über der von gartenumrandeten Bungalows gesäumten Verbindungsstraße steht ein grüner Mannschaftsbus, der die Zufahrt von Privatfahrzeugen in das Einsatzgebiet verhindern soll.

Ganser schlängelt sich auf seiner Maschine über den Fußgängerweg in die gesperrte Straße und fährt an einer Reihe am Straßenrand geparkter Polizeifahrzeuge die 800 Meter bis zum rechts abzweigenden Altenbruch. Hier wimmelt es nur so von Uniformen. Aber auch die ersten Fotografen und Kameraleute zielen mit ihren Kanonen auf medienerregende Szenen. Laute Anweisungen, abgehackte Kommandos, schlagende Wagentüren und das Trampeln von Nagelstiefeln auf Asphalt bilden die gewohnte Geräuschkulisse eines größeren Polizeieinsatzes. Die nun schon milder scheinende Spätnachmittagssonne fällt schräg auf blauschwarze Waffenläufe und blank schimmerndes Lederzeug. In der trägen Luft hängt der ungewohnte Geruch von Waffenfett und schweren Dieselmotoren.

Der Kriminalhauptmeister lehnt sein Motorrad gegen einen niedrigen Jägerzaun, der unter dem großen Gewicht fast abzuknicken droht, und geht mit in der rechten Hand erhobenem Dienstausweis hinüber zu dem die abfallende Straße überspannenden Absperrband.

»Wo ist denn hier die Einsatzleitung, Kollege?«, fragt er einen der Kontrollbeamten hinter dem schlaff herunterhängenden Plastikband.

»Irgendwo da drüben im Hotel!«, weist der Uniformierte mit ausgestrecktem Arm zu einem modernweißen Kastenbau hinüber, der zweistöckig die umliegenden Gartengrundstücke überragt. Der Mann mit dem erhobenen Arm bewegt zwar noch weiter die Lippen, aber was er sagt, geht im schockartigen Lärm eines tieffliegenden Polizeihubschraubers unter. Als der dunkle Schatten des Polizeifliegers sich in Richtung Scheune entfernt hat, brüllt Ganser seinem Gegenüber nochmals ein überlautes »Was?« ins Gesicht.

»Die haben die Einsatzzentrale da drüben provisorisch eingerichtet! Wir warten aber noch auf den mobilen Kommandobus!«, wiederholt der Absperrbeamte diesmal verständlich und lässt Ganser passieren.

Auch der dunkelverglaste Eingang des Hotels Luisenhof, üblicherweise Ausweichquartier für Messeaussteller, die im überfüllten Düsseldorf keine Bleibe mehr gefunden haben, wird streng bewacht. Hier ist es eine uniformierte Kollegin, die ihn, an einer unglücklich herumstehenden Hotelangestellten vorbei, eine schmale Treppe hinunterweist.

Der etwa zwei Wohnzimmer große Raum im Souterrain des Hotels dient wohl normalerweise als Frühstücksraum. An der schmaleren Kopfwand neben dem Eingang stehen noch weiß eingedeckte Buffettische mit Abgepacktem. Die holzgetäfelte Wand gegenüber haben sie mit einem großen Messtischblatt beklebt und stecken darauf eifrig bunte Nadeln. Die Stühle stehen aufgereiht an den längeren Seitenwänden. Fast wie in der Tanzstunde. Die kleinen, viereckigen Frühstückstischchen sind in der Mitte des Raums zu einem großen Tagungstisch zusammengeschoben. Kleine Blumenvasen liegen umgekippt auf dem Teppichboden herum. Der Fernmeldetechnische Dienst zieht Strippen und installiert Telefonapparate. Handfunkgeräte quäken und rauschen. Die wenigen Hotelaschenbecher quellen jetzt schon über.

Ganser arbeitet sich durch graublasse Tabaknebelschwaden zu dem leicht dicklichen Uniformträger neben der Landkarte an der Schmalseite des Raumes vor. Der Leiter der kreisstädtischen Schutzpolizei erklärt einem jungen Mann mit Schulterhalfter gerade irgendeine Position auf der Kartenübersicht, als Ganser dazutritt. Abrupt bricht er ab, ungeduldig formt sich auf seiner Stirn eine steile Fragefalte. Ein langes Holzlineal, soeben noch einen grünen Fleck auf der Karte von Metzkausen umkreisend, schwenkt in einem kurzen Bogen herum und bleibt scharfkantig zitternd vor Gansers Brustbein in der Luft schweben.

»Ja! Was wollen Sie?«

»Kriminalhauptmeister Ganser von der Kripo Düsseldorf. Zur Zeit auf KD-Lehrgang Fachhochschule Duisburg ...«

»Ja, und ...«

Die Schmalkante des Linealdegens tupft drohend an den Stoff von Gansers blauem Sporthemd.

»Ich meine ... ich habe zur Zeit Urlaub ... wohne aber hier in Metzkausen ... hab gedacht ... vielleicht kann ich mich nützlich machen!«

Nervös fasst der angehende Kriminalkommissar in die Gesäßtasche der Hose, um seinen Kamm herauszuziehen. Während er fahrig durch seine dunklen Haare kämmt, beißt er sich verärgert auf die Lippe. So was ist er nicht mehr gewohnt. Schon lange nicht mehr. Aber schließlich ... die meisten Leute kennen ihn hier ja nicht.

Das Lineal in der fleischigen Hand hat einen ruckartigen Knick nach unten vollführt und klatscht jetzt mit der Flachseite gegen ein uniformes Hosenbein.

Endlich vertreibt der Anflug eines Lächelns die wulstige Falte auf der Stirn des Einsatzleiters. »Gut ... in Ordnung! Ganser, ja? Ausgezeichnet! Sie wohnen also hier, mmh!?«

Patsch ... patsch, patsch ... macht das flache Messbrett.

»Gehen Sie dann mal gleich rüber zu den Leuten vom SEK! Helfen Sie denen bei der Geländeeinweisung! Abmarsch!«

Fast hätte der Kripobeamte auf Urlaub die Hände an die Hosennaht gelegt und die Hacken zusammengeknallt, aber dann nickt der 32-jährige nur bestätigend mit dem Kopf und macht sich auf die Suche nach dem Sondereinsatzkommando, denn fragen wollte er diesen ollen Kommisskopp von der Schutzpolizei nicht auch noch. Er ist froh, der Reichweite der hölzernen Zeigewaffe entronnen zu sein.

Als er gerade wieder die kleine Treppe zur Hotelhalle hochgehen will, trifft er glücklicherweise auf ein bekanntes Gesicht.

»Eh, der Schicki Ganser aus Düsseldorf! Hier gibt‘s aber keine Modeschau! Was verschafft uns denn die Ehre auf dem Lande?«

Der Kurzhaarige auf der Treppe, dessen einstmals vorhandene Haarpracht irgendwann einmal beschlossen haben musste, fürderhin als Bartumrahmung des breiten Gesichtes zu dienen, verhält überrascht auf der Stufe.

Ganser, dessen intime Kontakte zur Düsseldorfer Modeszene sich schon immer in einem gepflegten Outfit niederschlugen, grinst erleichtert, da er sich mit seinem vertrauten Spitznamen angesprochen hört.

»Mensch, Rudi! Weißt du, wo die SEK-Kollegen ihre Einsatzbesprechung haben?«, fragt er den Mann von der Kreisstadt-Kripo.

»Ja klar, die tummeln sich draußen beim BefKw!«

»O. k.«, bedankt sich der Kriminalhauptmeister und drängelt sich auf der engen Treppe eilig an dem Mann mit der Latzhose vorbei. Der zieht zwar demonstrativ schnuppernd die Nase hoch, murmelt aber nur leise etwas vom Duft der großen weiten Welt, um sich dann weiter zum Tisch der Einsatzleitung vorzuschieben.

Als Ganser das geschäftige Hotel verlässt, hat sich draußen die Situation verändert. Die Sonne ist noch tiefer gesunken, und links vom Hoteleingang steht ein zwölfeinhalb Meter langer, grüner Mercedes-Bus schräg über der ziemlich steil abfallenden Straße. Bis auf einen drei Meter breiten Durchlass für Dienstfahrzeuge ist das engere Einsatzgebiet jetzt von der Florastraße her nicht mehr zugänglich. Zwei riesige Teleskop-Pneumatik-Masten recken sich vom Dach des Busses in den immer dunkler werdenden Himmel. Die daran befestigten Leuchtstrahler werden später für ausreichende Lichtverhältnisse sorgen. Am Heck des Befehlskraftwagens rüttelt ein Anhängeraggregat und sorgt für Strom. Vor dem hinteren Eingang des grünen Monsters steht eine schweigende Gruppe soldatisch behelmter Polizisten in Kampfdrillich und Schutzwesten. Bis auf zwei halten sich alle an ihren Heckler & Koch-Maschinenpistolen fest. Die Zielfernrohre auf den längeren Waffen der beiden anderen Beamten kennzeichnen sie als Präzisionsschützen. Ganser weiß, dass er hier an der richtigen Adresse ist.

Skeptisch mustert ihn dann auch der SEK-Führer im Wageninneren. Für einen Moment ist nur das Summen des Ventilators zu hören. Aus dem Nebenraum des Kommandowagens dringt das Klappern eines Funkfernschreibers. Das Gesicht des Mannes mit dem energischen Kinn spiegelt misstrauische Zurückhaltung. Ein Schweißgerinsel folgt dem dünnen Faltenbett zum Mundwinkel runter. So was hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein parfümierter Kripo-Beamter im Freizeitlook bei einem so schwierigen Einsatz.

»Und Sie kennen sich hier aus?«

»Ja, ich wohne hier!«, bemüht sich der Kriminalhauptmeister um Festigkeit in der Stimme. Langsam hatte er es satt. Er muss diesem Pseudo-Rambo ja schließlich nicht auf die Nase binden, dass Metzkausen an sich aus drei Teilen besteht und er mit seiner Angela in einem der feineren, von der eigentlichen Kreisstadt entferntesten Teil lebt. Hier aber befinden sie sich im von kleinen Handwerks- und Gewerbebetrieben durchsetzten weniger vornehmen Teil. Mischbauweise. Diesen Teil von Metzkausen kennt er nur deshalb etwas näher, weil Angela hier in einer kleinen Autowerkstatt oft an ihrem Rallyecross-Rennwagen herumbastelt. Und weil er in dem EDEKA-Laden gleich um die Ecke neben dem Hotel lieber einkauft als in einem der großen Supermärkte der Kreisstadt. Aber es gibt überhaupt keinen Grund, all dieses dem immer noch reichlich finster dreinblickenden SEK-Mann mitzuteilen.

»Na gut«, meint der Hartgesichtige mit dem dunklen Barrett endlich und wendet sich wieder der Ausschnittkarte an der Pinnwand zu. »Da unten im Loch«, sagt er und zeigt mit einem silbernen Drehbleistift auf eine Stelle, wo die Straße Am Altenbruch eine scharfe Linkskurve macht, »ist wohl so was wie ein kleines Wäldchen. Die Gruppe HEINER hat den Auftrag, ungesehen in dieses Waldstück einzusickern und sich unter Deckung der Bäume möglichst nahe an den Wendehammer heranzuarbeiten. Hier«, zeigt er auf eine Stelle oberhalb des Waldstückchens, »befindet sich das Objekt, wo sich der Täter verschanzt hat. Gruppe HEINER hält sich am Waldrand bereit, bis Einsatzleitung HABICHT den Befehl zum Zugriff erteilt. Sie«, und damit wendet sich der SEK-Anführer auch wieder Ganser zu, »führen Gruppe HEINER als Scout in den Einsatzraum und melden sich anschließend wieder bei HABICHT! Klar?«

An der Spitze des Sondereinsatzkommandos kommt sich Ganser wie beim Räuber-und-Gendarm-Spiel vor ... oder wie früher, als sie halbstark mit den Flinger Boys noch Straßenkampf in Düsseldorf gespielt hatten.

In der lauen Juniabenddämmerung schleicht sich die dreizehnköpfige Gruppe dicht entlang an feucht duftenden Vorgärten und frisch gemähten Rasenflächen. Nach 250 Metern haben sie den tiefsten Punkt der Straße erreicht. Schwer hängt der süße Duft blühenden Rapses in der Luft. Hier, wo die Straße ihren Verlauf nach links ändert, hat die Einsatzleitung einen Polizeilastwagen als Sichtblende quer gestellt. Ganser schüttelt verwundert den Kopf. Diese Stelle kann der Typ in der Scheune doch gar nicht einsehen. Na ja. Weiter schleicht die SEK-Einheit an dem LKW vorbei, über die Straße mit dem runden Betonkübel in der Mitte, und dringt dann vorsichtig nach links in das zu dieser Jahreszeit ziemlich dichte Wäldchen ein.

Aber schon als sie hinter dem schützenden Lastwagen vorbeigeschlichen waren, hatte sich bei Kriminalhauptmeister Ganser die bevorstehende Gefahr in Form herabrinnender Schweißbäche bemerkbar gemacht. Jetzt, im halbdunklen Dickicht, da das aufgeregte Lärmen der Vögel nur noch von einem fett quakenden Frosch übertönt wird und die ihm fremde Gruppe sich vorsichtig Meter um Meter zum anderen Rand des Wäldchens vorarbeitet, scheinen seine Poren bei jedem knackenden Ast ganze Wasserfälle der Furcht abzusondern. Und noch ehe sie ihr Ziel erreicht haben, eben lässt er sich vorsichtig auf den dicht bewachsenen Boden gleiten, fällt ihm ein, dass er ja überhaupt keine Waffe dabei hat.

Wie gelähmt liegt er auf dem halbdunklen Waldboden und beobachtet das schattengleiche Vordringen der Männer mit den geschwärzten Gesichtern. Er selbst kann sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen. Fühlt hart den Druck eines spitzen Astes unter seiner linken Brust. Nach einer Weile dann, mit tiefen Atemzügen hat er die Ruhe des warmen Untergrundes in sich aufgenommen, gewinnt das antrainierte Denken endlich wieder die Oberhand. Erstens hat er ja eine schwerstbewaffnete Kampfeskorte bei sich, und zweitens ist sein Auftrag längst erledigt. Er könnte sich unverzüglich wieder nach hinten absetzen. Zum HABICHT-Horst im Hotel Luisenhof. Außer Reichweite irgendwelcher Gefahr. Eine Cola trinken.

Dann geht es plötzlich wieder. Die Verkrampfung löst sich, und er arbeitet sich durch dürres Unterholz bis zum Rand des kleinen Waldes. Leise Geräusche von der Seite verraten ihm, dass auch die SEK-Leute es sich in ihren Endpositionen bequem machen.

Er erkennt die gegenüberliegende Scheune wieder. Während sie ihm aber am frühen Nachmittag noch sonnenbeschienen ihre brüchige Breitseite zugewandt hatte, kann er jetzt die gleichfalls zerfallene Schmalseite einsehen. Aber auch vor dieser Seite des Gemäuers, es steht auf dem höchsten Punkt einer kleinen Anhöhe, liegen etwa 100 Meter freies Schussfeld. Ein Wiesenhang voller Unkraut bietet keinerlei Deckung bei einem eventuell geplanten Zugriff von dieser Seite. Wäre ein Himmelfahrtskommando.

Man müsste wahrscheinlich sowieso völlige Dunkelheit abwarten, überlegt der zwischen den Bäumen hockende Ganser. Und dann ein Ablenkungsmanöver. Von der anderen Straßenseite aus. Oder von dem Dach dieses dreistöckigen Neubaus daneben. Blendgranaten von oben runter und dann ...

Brummend nähert sich wieder einer der Hubschrauber der Scheune. Fliegt an einem hohen Kamin auf der anderen Straßenseite vorbei und kreist dann in vorsichtigem Abstand um das Objekt herum. Das Gesicht des Piloten ist sogar von hier unten deutlich zu erkennen. Ganser schüttelt unwillig den Kopf. Ob das als Ablenkung ausreichen würde? Dann sieht er endlich den Bus. Fast ist er versucht, seinen Kopf gegen einen Baumstamm zu schlagen. Wie hatte er den nur übersehen können? In knapp dreißig Meter Entfernung steht doch diese wunderschöne Deckung. Zumindest für einen Teil der Strecke. Da, wo die asphaltierte Straße einen sinnlosen Wendehammer in freiem Feld bildet, steht ein großer, blauer Reisebus. Ohne besondere Anstrengung kann er selbst im abendlichen Zwielicht die breitbalkige Aufschrift an der Seitenwand lesen: MANDLIK-Reisen – Metzkausen. Natürlich. Bis dahin konnte sich das Kommando erst mal ziemlich geschützt Vorarbeiten. Im Schutz des langen Busses würden sie sich ungesehen sammeln können. Wäre dann zwar immer noch ein ganz schönes Stück bis zur Scheune, aber etwas hätten sie gewonnen.

Ich mach mir vielleicht ‘nen Kopf, denkt der Beamte im Schutze der Bäume. Soll sich ja wohl die Einsatzleitung drum kümmern. Mach ich doch besser jetzt mal ‘ne Flatter, sonst ... Holzsplitter ratschen an seinem Gesicht vorbei. Abgerissene Zweige fallen auf seine Haare. Unangenehm hell peitscht eine Schnellfeuergewehrsalve aus Richtung der Scheune heran. Der verdammte Hund hat was gemerkt! Ganser bemüht sich heftig, sich in den weichen Waldboden zu pressen. Querschläger fetzen Borke von den Baumstämmen. Es riecht eklig nach verbranntem Holz. Na, jetzt hat die Schleicherei ein Ende. Fluchend wechseln die SEK-Beamten ihre Stellungen. Ziehen sich tiefer ins Waldinnere zurück. Auch Gernot Ganser macht sich in geduckter Haltung aus dem Staub. Eine neue Salve kracht in das kleine Waldversteck in der Senke. Von irgendwo kommt ein halblauter Schrei. Ein Vogel?

Plötzliche Stille.

Ganser versucht seinen Körper aus der verkrampften Schutzhaltung zu lösen. Ist es vorbei? Er richtet sich gerade auf, da geht es wieder los. Klack, klack, klack! Zwoinnnng! Klack! Diesmal schlagen die schnellen Projektile nicht in weichen Waldboden. Die Kugeln sägen scharf in dröhnendes Blech. Drrrrääng! Drrrääng! Eine Handvoll Murmeln. Krachend zwei oder drei kurze Explosionen. Dann eine riesige Stichflamme und eine ohrenbetäubende Detonation. Ganser hält sich erschrocken die Hände an die Ohren. Eine Salve musste den Benzintank voll getroffen haben. Über dem Feuerball steigt ein schwarzer Qualmpilz auf. Das trockene Holz der Bäume beginnt zu knistern. Mit weitaufgerissenen Augen starrt Ganser auf die Gluthölle. Schon scheinen Hitzezungen an ihm zu lecken. Sein Gesicht fühlt sich an wie bei einem Sonnenbrand. Heiße Windstöße schicken beißenden Rauch bis an den Waldrand. Mit schnellen Sätzen zieht sich der Polizist zurück. Dieser Bus würde keinen Schutz mehr gewähren.

Sammelband 4 Krimis: Amok-Wahn und andere Thriller

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