Читать книгу Tempelritter und Nachtgeschöpfe: 20 Mystery Thriller um Liebe und Geheimnis: Krimi Koffer - Alfred Bekker - Страница 89
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Wir verließen den Salon und ich folgte John Jennings durch einen langen, kahlen Flur bis zu einem Aufzug.
"Mein Atelier liegt ganz oben", sagte der Künstler dazu, während wir den Aufzug betraten. "Ich brauche das Licht, verstehen Sie..." Er lächelte und schüttelte dann den Kopf.
"Nein, Sie verstehen es nicht, Patricia. Nicht wirklich jedenfalls. Aber es macht mir dennoch Spaß, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten!"
Bei jedem anderen hätte eine derartige Arroganz mich auf die Palme gebracht, aber Jennings trug sie mit einer so verblüffenden Selbstverständlichkeit zur Schau, dass ich einfach nichts erwidern konnte.
Der Aufzug trug uns hinauf.
Die Schiebetür öffnete sich und Jennings führte mich in sein ausgesprochen weiträumiges, lichtdurchflutetes Atelier. Es schien die gesamte obere Etage zu umfassen. Der besondere Reiz bestand in den Fenstern, die diesen Raum von den Seiten her umgaben. Selbst die Decke war immer wieder durch Glas unterbrochen.
"Hier oben verbringe ich den größten Teil meines Lebens", erklärte er mir.
Mein Blick glitt über die Regale, in denen er Werkzeuge und rohe Steinbrocken untergebracht hatte. Stein, das schien das Material zu sein, mit dem er sich im Moment vorwiegend beschäftigte.
Wir erreichten seinen Arbeitsplatz.
Auf einem stabilen Tisch befand sich ein roh bearbeitetes Steingebilde, das entfernt an eine Büste erinnerte. Die Oberfläche war noch uneben und wies harte Abbrüche auf. Gesichtskonturen waren nur zu erahnen. Jene Stelle, an der vielleicht einmal die Nase sein sollte, stand etwas deutlicher hervor.
"Daran arbeiten Sie also, John...", murmelte ich etwas abwesend.
"Ja."
"Ist es nicht sehr schwer, wenn man..." Ich sprach nicht weiter. Jennings vollendete für mich den Satz.
"...wenn man gezwungen ist, im Sitzen zu arbeiten, meinen Sie? Das ist schwer, Patricia. Aber ich habe meine Methode entwickelt und komme ganz gut zurecht." Er deutete auf den vagen Umriss eines Kopfes und fuhr dann fort: "Da können Sie noch nicht viel sehen. Dort drüben, sehen Sie mal dorthin..." Ich folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Finger und erschrak.
In einem Regal stand eine Serie von vier Steinbüsten. Die Köpfe waren von unglaublicher Ausdruckskraft. Die Darstellungen wirkten derart lebendig, dass man leicht vergessen konnte, dass sie aus nichts weiter als kaltem Stein waren - und nicht aus Fleisch und Blut.
Doch etwas anderes jagte mir den eisigen Schauer über den Rücken.
Jede dieser Büsten trug eine rohe Metallkette um den Hals geschlungen...
Ich trat langsam auf die Reihe dieser Kunstwerke zu und fühlte dabei Jennings Blick auf mir ruhen, der jede Bewegung genau registrierte.
Als ich mir die Büsten ansah, hatte ich unwillkürlich den Gedanken an Erdrosselungen und fühlte auf einmal eine seltsame Beklemmung in der Halsgegend.
Auf jeden Fall wusste ich nun, dass ich die Träume, in denen ähnliche Bilder eine Rolle spielten, ernst nehmen musste.
"Was schockiert Sie so, Patricia?", hörte ich Jennings Stimme hinter mir.
"Sie haben früher sehr abstrakte, moderne Kunst gemacht. Aber diese Büsten sind derart realistisch, dass man sich fragt, ob..." Ich stockte.
"Ob es reale Vorbilder gibt?", vollendete Jennings. Ich drehte mich zu ihm herum. Er sah mich noch immer aufmerksam an. In seinen Augen blitzte es.
Ich nickte.
"Ja, genau."
"Stellen Sie mir eine andere Frage."
Er weicht aus, dachte ich. Ein fast satanisches Lächeln umspielte seine dünnen Lippen und ich fragte mich, was für ein Spiel er mit mir trieb. Weshalb hatte er mich hier her geführt?
Alles war genau kalkuliert, da war ich mir sicher. Und es schien exakt so abzulaufen, wie er wollte.
Ich atmete tief durch.
Dann deutete ich auf die Büsten.
"Diese Köpfe sehen wie erdrosselt aus", stellte ich fest. "Wen wollten Sie töten?"
Einen Augenblick lang schien er erstaunt, vielleicht sogar ein wenig verblüfft. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und erwiderte: "Sie meinen, im übertragenen Sinne..."
"Sicher."
Er zeigte auf seine Stirn. "Die Dämonen in meinem Kopf, Patricia! Jene Dämonen, die mich seit dem Tag meines Unfalls verfolgen und nicht mehr losgelassen haben! Ich töte sie einen nach dem anderen, um mich von ihnen zu befreien." Er lächelte. "Es sind keine übernatürlichen Dämonen, Patricia! Es sind die Bilder und Gedanken, die diesen Tag betreffen. Verstehen Sie mich?"
"Versuchen Sie es mir zu erklären!", forderte ich. Er schwieg eine Weile. Der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich derweil in die meinen. Ich fühlte mich unwohl hier. Eine Gänsehaut hatte meine Unterarme überzogen, obwohl es recht warm in diesem Atelier war. Ich hatte einen Menschen vor mir, der offensichtlich sein Schicksal nur schwer ertragen konnte und versuchte, sich mit dem Herstellen solcher Büsten vor dem Wahnsinn zu retten.
Er schüttelte schließlich den Kopf und wandte sich ab. Den Rollstuhl drehte er halb herum. In sich gekehrt blickte er ins Nichts.
"Sehen Sie, dies ist eine Art Selbst-Therapie für mich. Und ich möchte, dass Sie begreifen, dass diese Büsten zu persönlich sind, als dass ich sie in der Öffentlichkeit sehen möchte."
"Das verstehe ich", erklärte ich leise. Er drehte schnell den Kopf in meine Richtung, so dass eine Haarsträhne zur Nase hinunterfiel. Mit den Händen klopfte er sich auf die Oberschenkel und flüsterte: "Warum ich?" Er atmete tief ein und fuhr dann fort: "Was glauben Sie, wie oft ich mir diese Frage in den letzten Jahren gestellt habe, Patricia. Wissen Sie eine Erklärung? Ich hatte keine Schuld an dem Unfall damals. Ich hatte nicht einmal die Chance auszuweichen, als ein entgegenkommender Wagen auf die falsche Seite geriet... Wissen Sie, wohin einen das führt? Man möchte wissen, welche Mächte die Welt regieren, welche Kräfte hinter der Fassade wirksam sind, die wir alle für die einzige Wirklichkeit halten..."
"Daher Ihr Interesse an Magie", schloss ich.
"So ist es."
Eine Pause folgte, in der wir beide schwiegen. Es war eine unangenehme Stille.
Schließlich sagte ich: "Warum vertrauen Sie mir so?" Er hob die Augenbrauen.
"Vertrauen?", echote er. Jennings schien nicht zu verstehen, worauf ich hinauswollte.
"Was sollte mich daran hindern, dass ich über das, was ich hier gesehen und gehört habe, auch schreibe?" Er sah mich etwas verblüfft an. Dann sagte er: "Das können Sie ruhig tun, Patricia. Ich möchte nur nicht, dass Bilder von diesen Büsten gemacht werden. Das ist die einzige Einschränkung!"