Читать книгу Das Unikat - Thriller - Anders Alborg - Страница 13
Rocky Mountains bei Whistler
ОглавлениеEr schaute die steile Piste hinunter und machte sich bereit, die letzte Kontrollfahrt zu beginnen. Schneefall hatte eingesetzt, die Spuren der letzten Skifahrer verwischten, lösten sich auf. Sein Walkie-Talkie meldete sich. »Komm doch bitte mal rüber«, hörte er Susans Stimme, »hier bei der Hütte stehen noch ein halbes Dutzend Skier und ein schwarzer Motorschlitten. Ich geh rein und check das ab.« Er stopfte den Apparat wieder in die Tasche seiner roten Pistenscoutjacke und fuhr los. Eine knappe Minute und er wäre bei Neds Ice Tiger Hut.
Merkwürdig, dreißig Minuten nach Schließung der Lifte war hier oben normalerweise niemand mehr unterwegs. Ein ungutes Gefühl packte ihn. Eigentlich hätte jetzt er statt Susan bei Neds Ice Tiger Hut sein müssen. Und dort schon vor einer Stunde das Material von seinem Kontaktmann übernehmen sollen. Aber der Anruf war nicht gekommen. Er schwang über die nächste Kuppe und sah am Ende des Hangs das dick verschneite Dach der Hütte. Jemand rannte heraus. Die rote Jacke … das konnte nur Susan sein. Sie sprang in ihre am Boden liegenden Skier und stieß sich hektisch mit den Stöcken ab. Noch jemand stürzte aus der Hütte. Susan erreichte den Rand der Piste. Die Gestalt hob den Arm und zielte. Zwei Schüsse peitschten durch die Stille. Susan schwankte kurz, fiel nach vorn und blieb schließlich kopfüber im Schnee liegen.
Es war, als gefröre sein Rücken zu einem festen Block. Jetzt war es Gewissheit. Das Treffen war aufgeflogen und jetzt hatten sie es auf ihn abgesehen. Und außerdem lastete nun Susan auf seinem Gewissen, die von alledem nichts wissen konnte. Eine Kälte, die nichts mit den schneidenden Minusgraden des kanadischen Februarabends zu tun hatte, durchdrang seinen Bauch, ließ sein Blut stocken, schickte flüssiges Eis in seine Beine, die Arme, den Kopf, ließ seine klammen Hände zittern. Der Killer drehte sich, sah herüber und hob die Waffe. Die Jagd war eröffnet. Da rammte er die Kanten seiner Skier in die harte Piste, donnerte den steilen Hang hinab, Eisbröckchen und Schnee stoben auf, er warf sich in die Kurve. Ein Schuss knallte. Er stieß sich von einem kleinen Buckel ab, hechtete nach vorne, machte eine Rolle schräg zur Seite, kam wieder auf die Füße und sprang über die nächste Kuppe. Weitere Schüsse, der Schnee neben ihm spritzte auf. Ihr Schweine! Aber so leicht bekommt ihr mich nicht! Laute Kommandos in einer fremden Sprache hallten durch die Stille, er konnte sich denken, welche Sprache es war. Das Geräusch eines startenden Motorschlittens. Noch einige Sekunden, dann würden sie ihm folgen. Seine Skier flatterten und sprangen hin und her, als er über einige Bodenwellen raste, waren kaum zu halten, rissen an seinen Muskeln.
Ein hastiger Blick über die Schulter. Sie waren zu dritt auf Skiern, und dann noch irgendwo der Motorschlitten. Gleich das Steilstück. Er schoss über die nächste Kante und flog über das eisige Gelände. Krachend setzten die Skier auf, er bekam Rücklage, schlug mit dem Rücken auf der betonharten Piste auf, kam wieder hoch, warf alles Gewicht nach vorn. Wenn du jetzt stürzt, brich dir lieber gleich den Hals. Die Buckelpiste. In wildem Stakkato tanzte er durch die eisigen Hindernisse, in den Oberschenkeln zog es, seine Muskeln drohten zu zerreißen. Schrägfahrt, Luft holen, Blick zur Seite. Die Verfolger setzten über die Kante. Der Erste landete schlecht, überschlug sich mehrfach, Skier flogen durch die Luft, noch eine Rolle und er blieb regungslos liegen. Die beiden anderen landeten sicher, steuerten auf die Buckel zu.
Keine dreißig Sekunden, dann käme die flache Passage durch das lange Waldstück. Der Ziehweg. Kein Tempo. Gelegenheit für den Motorschlitten aufzuholen und für die Schützen, zu den Waffen zu greifen. Sein sicherer Tod. Der Wald, seine einzige Chance. Er musste es riskieren. Dort würde zumindest der Schlitten nicht mehr folgen können. Er flog in die nächste Kurve, hier musste er kurzzeitig außer Sicht sein. Er taxierte die Bäume, ihren Abstand. Die Sicht wurde immer schlechter, der Schneefall dichter. Jetzt. Er stieß sich ab, fuhr über den Schneewall am Pistenrand und sprang in den steilen Hang. Der Schnee umfing ihn bis zum Bauch und bremste ihn ab. Er umkurvte die großen Bäume, so knapp es ging, schlängelte sich unter den tief hängenden Ästen hindurch. Schneebrocken klatschten in sein Gesicht, die Lungen schrien nach mehr von der eisigen Luft, die im Hals trotzdem wie Feuer brannte.
Das Jaulen eines Motors. Stimmen. Sie hatten ihn entdeckt, eine Salve Schüsse krachte durch das stille Tal, Holz splitterte neben ihm. Maschinenpistolen. Die Kerle auf dem Schlitten hatten Maschinenpistolen. Er flog um die nächsten dicken Baumstämme, wedelte noch um einige dünne, musste dann schlagartig abbremsen. Eine Wand jüngerer Tannen, wie ein Palisadenzaun, keine Chance, hier weiterzukommen. Er drehte sich um. Oben folgten die beiden Skifahrer über den Pistenwall. Was er dann sah, versetzte ihn in Panik. Die Schlittenfahrer schoben das Gerät ebenfalls über den Wall und fuhren in den Wald hinein. Sie riskierten es tatsächlich.
Aus. Alles aus. Er zitterte am ganzen Körper. Jetzt hast du es doch schon bis hierher geschafft. Er rang die aufkommende Übelkeit nieder. Das hier ist dein Terrain, hier bist du zu Hause. Kämpfe! Das war er Susan, die es statt seiner erwischt hatte, schuldig. Er stieß sich kräftig ab und fuhr mit Tempo auf die verschneite Mauer aus Tannen zu. Äste schlugen ihm gegen Skibrille und Helm, zerrten an Jacke und Hose, versuchten, ihn zu packen. Holz knackte und brach, ein stechender Schmerz explodierte an seiner Hüfte. Ein Sturm aus Eis und Tannennadeln peitschte aus allen Richtungen auf ihn ein, die Brille riss vom Helm, ein Ratscher am linken Oberschenkel, einige heftige Schläge … dann war er durch.
Aber wo? Das Schneetreiben wurde noch dichter. Ein Stückchen Schneefläche und dahinter … scheinbar nichts. Ja, natürlich, knapp unterhalb würde die Schlucht anfangen zu klaffen, Devil’s Gorge, hier ging es hinab. Wo er war? Dem Tod jedenfalls ganz nahe. Wenn er nicht von hinten kam, lauerte er im Gelände vor ihm. Überall versteckte Felsspalten, ehe es in die tief verschneite Rinne der Schlucht hineinging. Da, vor ihm eine Spalte, vielleicht zwei, drei Meter breit, führte nach rechts den Berg wieder etwas hinauf. Dahinter einige Meter weiße Fläche und eine Kante. Der Abfall in die Schlucht. Er schaute nach rechts. Über der Mulde hing ein riesiges Schneebrett, viel zu gefährlich, sich dort hineinzuwagen. Ein Motor jaulte auf. Sie waren jetzt auf der anderen Seite.
Ein Hurrikan aus Angst wirbelte durch seinen Kopf, nahm ihm die Luft, von wegen im Auge des Hurrikans ist es ganz ruhig. Sein Herz flatterte wie die Doublebass eines Heavy-Metal-Schlagzeugers. Denk nach, verdammt nochmal, denk dir was aus! Aus dem Chaos in seinem Hirn löste sich ein klarer Gedanke. Ziemlich verrückt und gewagt, aber … es könnte funktionieren. Und es war die einzige Möglichkeit, die er sah.
Rasch schnallte er die Skier ab, kletterte in die Spalte hinein. Nicht sehr tief war sie, etwa eineinhalb Meter. Schnell setzte er die Skier auf der anderen Seite in den Schnee, nahm das Seil aus dem Rucksack, legte diesen als Gewicht oben auf die Bindung, klemmte die Stopper damit hoch und gab den Skiern einen Schubs in Richtung der Schlucht. Schön parallel zogen sie davon und verschwanden im Nirgendwo. Los jetzt, Tempo! Er hetzte geduckt in der Felsspalte den Berg hinauf, als er das Kreischen des Motors und das Splittern der Äste hörte. Er hatte das Schneebrett fast erreicht und spähte von oben über die Kante. Seine Verfolger durchbrachen gerade den Tannenwall und folgten seiner Spur. Sie näherten sich der Spalte. Der erste Skifahrer schien seine Skispur auf der anderen Seite gesehen zu haben, winkte mit dem Arm und gab Stoff. Er sprang über die Felsspalte, landete und stürzte sich den steilen Hang in das gähnende Maul der Schlucht hinunter. Der zweite folgte. Die Motorschlittenfahrer gaben Gas, übersprangen den Spalt, setzten zu hart auf, schlingerten, steuerten nur noch auf einer der vorderen Kufen quer in die Kurve. Der Schlitten stellte sich auf und riss seine Besatzung mit in den Abgrund.
Stille. Dann Stimmen. Von der Schlucht her. Verdammt, die Teufel hatten sich gerettet, die Falle erkannt, kamen den Hang hochgeklettert. Bald würden sie hier sein.
Er blickte hinauf zu dem Schneebrett. Das war Wahnsinn. Aber seine einzige Chance, den Killern zu entkommen. Rasch band er sich das Seil um den Bauch und wickelte das andere Ende um einen Felsvorsprung. Vorsichtig setzte er die klobigen Skistiefel an die vereisten Wände der Spalte und kletterte nach oben. Er erreichte die Mitte der Schneewehe, holte tief Luft, schloss die Augen und sprang hinein. Unter seinem Gewicht lösten sich einige Tonnen Schnee und rauschten in die Schlucht hinab. Das Seil spannte sich und er schleuderte zurück, prallte gegen die Felswand. Rippen knackten, wie auf Pfeilen ritt der Schmerz durch seinen Brustkorb. Er bekam den Rand des Felsens zu fassen und zog sich mit schwindenden Kräften hoch.
Er öffnete die Augen. Mit dumpfem Dröhnen riss das losgetretene Schneebrett weiteren Schnee mit sich, bildete eine wild brodelnde weiße Masse und raste in den Abgrund der Schlucht. Kleine Felsbrocken, überhängende Bäume, alles nahm die Lawine mit sich. Mit Donnergrollen fegte die wie Gischt schäumende tonnenschwere Walze die Schlucht hinunter, saugte alles auf, was sich ihr in den Weg stellte. Ein entfesselter Albtraum. Für einen kurzen Moment entrang sich ein irres Lachen der Erleichterung seiner Kehle. Dann stockte er und sank keuchend in sich zusammen.
Mühsam setzte er sich auf. Aus allen Teilen seines Körpers flossen die Schmerzen zusammen, versammelten sich in seiner Brust. Wut und Verzweiflung füllten die Leere in seinem Kopf. Die da unten hatten Susan umgebracht. Und wahrscheinlich den Mann, auf den er vergeblich gewartet hatte, der die versprochenen Informationen über die Manipulationen bei den Wahlen in Russland wohl mit ins Jenseits genommen hatte.
Er sah dem tobenden Inferno hinterher. Avalanche, Lawine, bis zu dreihundert Stundenkilometern schnell. Das müsste reichen, dachte er, während er mit zittrigen Fingern nach seinem Walkie-Talkie griff. Sie mussten kommen und ihn hier herausholen.
Im Winter sind es der Schnee und das Eis, die unsicher sind, tödliche Abgründe verbergen können. Auf Stein und Fels dagegen ist Verlass. Meistens jedenfalls.
Als sich der Fels plötzlich absenkte, unter ihm ins Rutschen geriet, mit ihm hinabstürzte in den Schlund des Teufels, hörten seine Gedanken nicht auf in Fassungslosigkeit umherzurasen, bis er weit unten aufschlug und für immer zu denken aufhörte.