Читать книгу Das Unikat - Thriller - Anders Alborg - Страница 18
Hamburg
ОглавлениеDer wie immer provokant bis penetrant gut gelaunte Moderator des Hamburger Lokalsenders erlöste die Hörer von seinem Marathon aus fröhlichen Sprüchen zum Wochenanfang, indem er den nächsten Oldie auflegte. Simon drehte das Radio auf seinem Schreibtisch lauter. It’s just another manic Monday, sangen die Bangles, I wish it was Sunday … my I don’t have to run day …
Stimmt, dachte er. Das Wochenende mit Katja war vergleichsweise angenehm gewesen, vom tickenden Ultimatum keine Rede; selbst die dunkelbraune Schönheit konnte er in Katjas Armen einigermaßen vergessen, und überhaupt: Hier war eben Hamburg und nicht die Karibik.
Er riss sich zusammen und scrollte weiter durch seine E-Mails. Noch einige versprengte Anfragen im Nachgang zu dem Kongress vor einer Woche, Infos von Kollegen an anderen Unis, Termine, Werbung und … jemand mit dem Kürzel No risk no fun schrieb ihm unter dem Stichwort »Wette«. Was sollte das denn? Nach dem verfrühten Aprilscherz nun ein verspäteter Fastnachtsscherz? Aber am Aschermittwoch ist alles vorbei.
Viruscheck okay, keinerlei Anhänge, also öffnen. »Hallo, Dr. Haydeck«, stand da, »schauen Sie mal in den Brutschrank Nummer drei.« Simon runzelte die Stirn. It’s just another manic Monday, tönte es aus dem Radio.
Er öffnete die stählerne Sicherheitstür zum Nachbarraum. Sein Allerheiligstes, das außer ihm niemand betreten durfte, nicht einmal die Putzfrau. Die Aggregate brummten leise vor sich hin, die klimatisierte Luft roch wie Gewächshaus ohne Blumen. Feucht, langweilig und aromalos. Die vier speziellen Brutschränke, sein ganzer Stolz, den er hütete wie ein Drache seinen Hort, standen auf dem stabilen Metalltisch, hinter den Glastüren lagen säuberlich wie Käsestücke im Supermarkt aufgereiht die rötlichen Petrischalen. Simon stutzte. Wie zum Teufel kam denn die blaue da hinein? Er riss die Tür auf, nahm die Schale heraus. Ein fremdartiger Nährboden, halbflüssig, mit einem ungeordneten Zellhaufen darauf. Unglaublich. Jemand war in sein allerheiligstes Labor gestiefelt, hatte die Stahltür geöffnet, ohne Spuren zu hinterlassen, und ihm das da hineingeschmuggelt.
Er rang mit sich. Kontamination? Sabotage? Weg damit in den Sondermüll? Aber wer hier so einfach hineinspaziert war, hätte auch gleich die ganze Bude in die Luft jagen können. Er nahm eine Probe, legte sie unter das Mikroskop. Was waren das für merkwürdige Zellen? Die Zellwände so unregelmäßig wie die Ziegelwand eines Maurers nach dem zweiten Kasten Bier, im Plasma elliptische Organellen mit einer Einschnürung in der Mitte wie eine Wespentaille, die er so noch nie gesehen hatte.
Pflanze oder Tier? Tierische Zellen besitzen in der Regel außer ihrer Zytoplasmamembran keine weitere abschließende Zellstruktur; Mikroorganismen wie Bakterien sowie Pflanzenzellen schützen sich zusätzlich durch eine äußere Zellwand. Aber das hier, wo zum Teufel kam das her? Wo sollte man das einordnen? Wie gut, dass das keine Prüfung war. Nur eine Wette.
Sein Handy piepste. Eine SMS. »Vergessen Sie die Fluoreszenz nicht!« Das wurde ja immer besser.
…’cause that’s my funday, quarrte es vom Schreibtisch herüber. Er schlug die mächtige Stahltür zu, schob die Schale in den großen Apparat und schaute hinein. War das so, wenn man zu viele Designerdrogen nahm? Aber so etwas hatten selbst seine »Sex, Drugs and Rock’n’Roll«-Freunde mit Sicherheit noch nie erlebt. Die Zellen gerieten unter der Beleuchtung in Bewegung, wimmelten hin und her. Dann ordneten sie sich nach einem Muster. Simon war fassungslos. Sie formten einen Schriftzug:
»Wette gewonnen?«
Ganz Hamburg schien sich auf den Weg gemacht zu haben, um den Einzug des Frühlings am Wasser zu genießen. Die Fronten der herrschaftlichen Bauten an der Binnenalster glänzten in der Sonne, spiegelten sich in dem fast schwarzen Wasser, das die Enten mit lautem Geschnatter als ihr Revier reklamierten.
»Lass uns ein Stück an der Außenalster entlangbummeln«, schlug Simon vor. Katja goss sich noch einen Schluck Glühwein aus der Thermoskanne ein. »Prost! Ist doch noch ganz schön kalt im Schatten der Bäume.« Die Röte ihrer Wangen hatte über ihr dezentes Make-up den Sieg davongetragen, neue Lebendigkeit in ihr so oft etwas steif und leer wirkendes Gesicht getragen. Hübsch sieht sie aus, dachte Simon. Warum immer von der Karibik träumen? Der kühle Norden hat schon auch was zu bieten.
Ein frischer Wind schaukelte hie und da noch die traurigen Reste kleiner Eisschollen auf dem Wasser, die sich für ihre letzten Stunden unter die herabhängenden Äste der Weiden gerettet hatten. Winter ade. Noch vor drei Wochen waren sie nicht an, sondern auf der Alster spazieren gegangen. Kompakt zugefroren. Das erste Alstereisvergnügen seit fünfzehn Jahren, ein Getrampel wie bei der Loveparade. Aber das Eis hatte gehalten. Und nun war die Macht des Winters endgültig gebrochen.
»Zum Wohl!«, sagte Simon und versuchte, möglichst nirgendwo hinzugucken. Zweieinhalb Jahre waren sie jetzt zusammen und nun waren Antworten gefordert, eine klare Position. Eine Pause bildete sich, drängte sich zwischen sie, machte sich breit und schien sie immer weiter auseinanderzutreiben. Wie die sterbenden Eisschollen auf der Alster.
Bring es hinter dich. Simon räusperte sich. »Also, weißt du Katja, so wie du dir das vorstellst, geht das nicht.«
»Wie ich mir was vorstelle?« Katjas Stirn bildete Falten, groß und tief genug, um unter dem kurzen schwarzen Pony deutlich sichtbar zu sein. Dunkle Gebirgsschluchten, unüberwindlich.
Es wurde heikel. »Ich meine, weniger Arbeit im Institut, mehr Zeit für dich und die Familienplanung. Ultimatum hin oder her.«
»Und warum nicht? Du weißt, mein Vater hat dir einen Job in seiner Firma angeboten, gut bezahlt und deutlich weniger Arbeitszeit.«
Simons Schleichen um den heißen Brei hatte sich unwillkürlich in eine Klettertour auf dem Kraterrand des Ätna gewandelt. Statt des heißen Breis brodelnde Gesteinssuppe. Einen goldenen Käfig hätte ich auch in meiner Familie haben können, dachte er. Betriebswirtschaft studieren und rein zu Vater in die Geschäftsleitung, dahin, wo jetzt sein jüngerer Bruder saß und verächtlich auf ihn herabschaute. Biologie? Wer studiert schon Biologie? Was kann man damit schon reißen? Sie interessierten sich nicht mehr für ihn und er sich nicht für sie. Aus den Augen, aus dem Sinn.
»Ich bin noch nicht so weit«, eierte Simon weiter und wartete auf die Eingebung, das richtige Wort zur Deeskalation. Vergeblich. Unten im Vulkankessel begann es unheilvoll zu rumoren, zuerst nur als kaum wahrnehmbare Vibration, die die Luft elektrisch auflud wie vor einem Gewitter.
»Am nächsten Wochenende bei seiner Geburtstagsfeier kannst du ja nochmal mit ihm darüber reden«, schlug Katja vor. »So lange gebe ich dir noch.« Es klang fast beiläufig. Aber so wie sie in ihrem Nerzmantel vor ihm stand, angespannt wie ein Panter vor dem Sprung, war das kein Vorschlag, sondern ein Befehl.
Simon hörte das Magma im Krater blubbern und kochen, bereit hervorzuschießen und die umliegende Welt zu verschlingen. So ähnlich musste sich der römische Naturforscher Plinius der Ältere gefühlt haben, als er im Jahre 79 eigens nach Pompeji fuhr, um sich der tödlichen Macht des Vesuvs am eigenen Leib zu vergewissern.
Aber Forscher müssen eben etwas wagen. Jetzt oder nie. »Katja, es gibt da ein Problem. Ich habe eine Einladung zu einem sehr interessanten Meeting bei Berlin erhalten und …«
Katja ließ die Tasse mit dem Glühwein sinken und schaute Simon an, als habe er ihr gerade das Angebot gemacht, sie für ein paar alte Kamele in einen orientalischen Harem zu verkaufen. »Wie bitte? Ein Meeting? Gerade an diesem Wochenende?« Die Luft vor der Entladung knisterte, als sei sie aus zusammengeknüllter Alufolie. Schwefeldämpfe stiegen auf. »Du weißt seit Monaten, dass mein Vater seinen Sechzigsten mit einer Riesenparty feiert, und du hast ein Meeting?«
Katjas Gesicht zeigte wandelnde Nuancen von Dunkelrot, als versuche ein Chamäleon, die Farbe der rasch untergehenden Sonne zu treffen. Ihre Stimme schoss in gefährliche Höhen auf.
»Das ist wissenschaftlich hochinteressant«, stotterte Simon. »Ich kann einfach nicht …«
»Simon! Sag mir, dass du am Wochenende mit zur Feier meines Vaters kommst! Also?«
»Nein. Ich fahre nach Berlin.«
Das Chamäleon spielte jetzt die Violetttöne durch.
Katja holte tief Luft und blies sie durch die Nase aus. Kein Chamäleon mehr. Ein feuerspeiender Drache vor dem Angriff. Der tosende Vesuv.
Also los, komm, mach mich rund, schrei herum, lass es über die Alster donnern! Gib mir die verwöhnte Ziege, die kenne ich ja schon. Zur Genüge kenne ich die. Ich werde dir geduldig zuhören, ein betroffenes Gesicht machen, und dann suchen wir nach einem Ausweg. Kennen wir ja alles.
Das, was jetzt kam, kannte Simon noch nicht. Katja blieb ganz ruhig. Ein Vulkan in der Arktis. Begraben unter Tonnen des ewigen Eises. Ein kalter, fischiger Drache, der tief unten im Polarmeer haust. Sie nahm ihr Handy aus der Handtasche und rief den Nummernspeicher auf. »Ist das dein letztes Wort, Simon?«
Aus violett wurde weiß. Das Eischamäleon. Wo blieb der Ausbruch? Begraben unter Tonnen ewigen Eises.
Katja scrollte durch das Display. Obwohl das Bild für Simon auf dem Kopf stand, wusste er sofort, dass es um den Buchstaben H ging. »Haydeck, Simon«, sah er es aufleuchten. Katja ging auf »Bearbeiten«. Das würde sie doch nicht tun? Das war in keinem Szenario vorgesehen. Der Katastrophenschutz hatte versagt.
Sie tat es. Wollen Sie den Eintrag wirklich löschen? Ein Fingerdruck. Bestätigen. Katja sah ihn an, als sehe sie durch ihn hindurch. Jetzt wusste er, dass sie ihn soeben auch aus ihrem Leben gelöscht hatte.
»Gute Reise, Simon!« hauchte sie und rauschte davon.