Читать книгу Das Unikat - Thriller - Anders Alborg - Страница 8
Eibsee, Oberbayern
ОглавлениеSimon stellte die Rückenlehne noch ein Stück zurück, das Fußteil etwas nach oben und schob das Polster mehr in die Mitte der Rattanliege. Aus dem einen Badehandtuch rollte er sich ein Kopfkissen, mit dem anderen deckte er das Fußteil ab. Perfekt. Er stellte das Glas mit dem eisgekühlten Wasser auf das Holztischchen, packte sein Buch dazu und legte sich hin. Die wohlige Wärme des letzten Saunagangs hatte sich bis in die letzten Winkel seines Körpers ausgebreitet, alle Bastionen der Anspannung erobert und befriedet, ließ Muskeln sich lockern, die Haut angenehm kribbeln, als streichele ein Hauch von Seide darüber.
Endlich Ruhe. Er atmete tief durch. Spuren der ätherischen Saunaöle kitzelten in seiner Nase, es roch, als ginge er in einem Nadelwald spazieren. Sein Vortrag war gut gelaufen, alle Fragen aus dem Auditorium waren sicher beantwortet, auch die besonders boshaften der lieben Kollegen, die einem nichts mehr neiden als den Erfolg. Das Pflichtprogramm für heute war also erfüllt, jetzt kam die Zeit der Kür. Er hatte sich gleich nach seinem Auftritt abgesetzt, weitere Anwesenheit nicht erforderlich, die Themen nicht sonderlich interessant. Er genoss es, allein im Ruheraum zu sein. Die anderen, pflichtbewussteren Kongressteilnehmer lauschten wohl noch den Vorträgen, von sonstigen Hotelgästen keine Spur. Stille. Ruhe. Zeit. Endlich Zeit.
Simon sah an sich herab. Neununddreißig bin ich jetzt, dachte er. Kein Bauch wie manche der Kollegen, die Joggingrunden an der Alster machten sich bezahlt. Also noch ganz gut in Schuss, oder? An seiner rechten Wade sprangen ihm einige blaue Kringel ins Auge. Beginnende Krampfadern? Nagte da doch schon der Zahn der Zeit? Tja, eben die Vorboten der vierzig. Mitte des Lebens. Und wo bin ich? Gerne gesehener Vortragender, zumindest überall da, wo der Alte ihn hinschickte. In Fachkreisen geschätzter Forscher schon mit dem wenigen, was er selbst veröffentlichte – und was sich sein Chef nicht wie üblich gleich unter den Nagel riss, indem er den Namen Niemüller darübersetzte. Noch viel besser in dem, was er nicht veröffentlichte. Mit Ergebnissen, von denen keiner wissen durfte, zumindest solange er hier in Deutschland forschte, wo der Forschung an allen Ecken und Enden Hürden in den Weg gestellt waren. Ganz anders als etwa in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, selbst wenn dem wissenschaftlich Möglichen auch dort, zumindest offiziell, längst enge Grenzen gesetzt waren. Andere Wissenschaftler hatten buchstäblich Leichen im Keller. Und er? Künstliches Leben und Apparate, entwickelt, neue Schritte zu gehen, weiter als alle anderen.
Aber als die Nummer zwei am Institut? Für wie lange noch? Professor Niemüller hatte noch gut zehn Jahre bis zur Pensionierung. Genug Zeit, sich weiterhin überall mit Simons Forschungsergebnissen zu schmücken. Zehn Jahre würde er sich noch anhören müssen: »Lieber Kollege, kümmern Sie sich doch bitte um dies, stellen Sie doch das erst einmal zurück. Könnten Sie wohl diese Woche die Studenten übernehmen? Danke, wie nett, Sie wissen doch, meine Verpflichtungen in den Ausschüssen.«
Nein, so wie bisher konnte es nicht weitergehen. So kam er mit seiner Forschung nicht weiter, nicht auf seinem geheimen Spezialgebiet. Er brauchte mehr Zeit, mehr Geld, mehr Möglichkeiten.
Simon sah aus dem riesigen Panoramafenster, das den Raum wie eine gläserne Hülle umgab. Was für ein Blick. Der See lag ganz ruhig, zum Greifen nah. Die steile Bergkette entstieg der Uferlinie und spiegelte sich in der ebenmäßigen Oberfläche, als hätte man einen Zwillingsberg kopfüber hineingetaucht.
Oben und unten mit einer klaren Trennungslinie. Genau wie im Institut. Und dabei ist alles nur eine Frage der Perspektive.
Simon seufzte. So ein schöner Fleck Erde mitten in Deutschland – oder vielmehr direkt an der Grenze, ganz unten im Süden. Besser als die Häuserschluchten der Großstadt, der Verkehr, der Gestank, der Lärm. Vielleicht sollte er einfach mal länger ausspannen. Einfach mal raus aus dem Trott. Welchen Sinn hatte seine Tätigkeit unter der Knute von Niemüller überhaupt noch? Im rückständigen, innovationsfeindlichen, überregulierten Deutschland? Warum hatte kürzlich sogar der größte Chemiekonzern des Landes verkündet, seine Gentechnikforschung in Deutschland aufzugeben und die ganze Sparte in die USA zu verlagern? Ginge Simon mit seinen geheimen Forschungsergebnissen hier an die Öffentlichkeit, würde ihm statt des verdienten Lobes wahrscheinlich ein Aufschrei der Entrüstung entgegenhallen. Und das wäre noch nicht alles. Nein, sie würden ihn drankriegen wegen irgendwelcher Verstöße gegen die den Bürokraten heiligen Richtlinien, Vorschriften und Paragraphen. Wie er das hasste, das Eingezwängtsein in dieses immer enger werdende Korsett der Regelungsfetischisten mit ihren Folterwerkzeugen: die Gentechnik-Sicherheitsverordnung, das Gesetz zur Regelung der Gentechnik und, und, und. Er würde seinen Job verlieren. Woanders der Nobelpreis, hier mit einem Zwischenstopp im Gerichtssaal auf die Straße gesetzt. War es das alles wert? Sollte er nicht viel lieber den ganzen Krempel hinwerfen, ein Sabbatjahr einlegen und sich dann an einer Universität in den Staaten bewerben? Oder doch endlich tun, was Katja von ihm verlangte, der Forschung abschwören und im Betrieb ihres Vaters eine ruhige Nummer schieben? Vater von plärrenden Kindern werden statt von stummen, seltsamen Zellkulturen, die sich nur unter dem Mikroskop betrachten ließen?
Simon erschrak. Was sollte das denn nun werden? Der Ausbruch einer vorgezogenen Midlife-Crisis? Jetzt nur nicht resignieren und in Depressionen versauern. Alles hinzuwerfen war genauso unsinnig, wie mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Sich erst mal gedulden, weiterarbeiten, nach Kompromissen suchen. Dann würde sich schon etwas ergeben. Vielleicht. Man kann nie wissen.
In diesem Augenblick öffnete sich ruckartig die Tür und ein großgewachsener Mann so um die fünfzig betrat mit quietschenden Badelatschen den Raum. Graumeliertes Haar, eine hohe Stirn mit einem Ansatz von Geheimratsecken, schmale Lippen und eine kühn geschwungene Nase. Der Mann blickte sich um, nickte Simon mit übertriebener Freundlichkeit zu und fläzte sich auf den Liegestuhl direkt neben ihm. Musste das jetzt sein? Alle anderen Liegen waren doch frei. Entschlusskraft und Selbstbewusstsein sprach aus seinen Zügen. Und eine ausgeprägte Kontaktfreudigkeit aus seiner Stimme. Simon stöhnte innerlich auf.
»Ist das nicht ein großartiger Ort hier?«, sagte der Mann mit einem unüberhörbar amerikanischen Akzent und sah Simon neugierig an.
Irgendwo aus den Südstaaten, dachte Simon und erinnerte sich an seine Studiensemester in den Staaten. Wäre er nur dortgeblieben.
»Fast wie bei uns in den Rocky Mountains«, strahlte der Ami ihn an. »Und da machen Sie so ein Gesicht?«
Simon, von dem jovialen Neuankömmling jäh aus seinen Gedanken gerissen, versuchte, etwas Passendes zu antworten. »Ein Gesicht? Ich bin nur ein wenig müde.«
»Müde? Warum denn?«, erkundigte sich der Ami mitfühlend. »Ich bin niemals müde. Müde ist was für impotente Männer ohne Visionen. Nun, es wird Ihnen gleich viel besser gehen. Also, ich fühle mich blendend nach der Sauna.« Er streckte Simon die Hand entgegen. »Greyson, Fred Greyson.«
»Haydeck, Simon Haydeck«, brummte Simon, der sich möglichst rasch wieder ungestört in seiner Gedankenwelt einigeln wollte.
»Sehr erfreut, Herr Haydeck. Schauen Sie mal dort drüben! Die Sonne beleuchtet genau die beiden kleinen Inseln da hinten. Oh wie wundervoll, dieses türkisfarbene Wasser. Ich habe mir erst kürzlich eine Insel in der Karibik gekauft, es ist so schön dort! Nächste Woche werde ich wieder dort vorbeischauen. Kleine Geschäftsreise, wissen Sie. Man muss das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«
Eine eigene Insel! Kaum zu fassen, dachte Simon, so ein Aufschneider. Bestimmt ein reicher Geschäftsmann, der vor Geld kaum laufen kann. Seine Gedanken kamen ins Trudeln, entglitten seinem Griff wie glitschige Fische im Wasser. Draußen kräuselte ein Windstoß die Oberfläche des Sees und ließ das Spiegelbild der Berge in viele kleine Teile zerspringen. Real war eben doch nur der Teil oberhalb der Trennungslinie. Was oben war, zählte.
»Sie sind bestimmt einer der Forscher vom Kongress, oder?« Greysons Stimme zwang Simon wieder in die Realität zurück. »Immer konzentriert, immer nur ein Leben für die Wissenschaft. Relax, Dr. Simon! Enjoy!« Greyson grinste breit, nestelte ein Handy aus der Tasche seines Bademantels und brabbelte etwas Unverständliches hinein.
In Simons Kehle bildete sich ein dickes Knäuel Ärger. Er war im Ruheraum eines gediegenen Hotels, hatte sich gerade in tiefschürfende Gedanken über sein Leben und Streben versenkt und zögerlich begonnen, sich endlich einmal all den schwierigen offenen Fragen zu stellen, die er im normalen Arbeitsalltag allzu gerne verdrängte, und jetzt sägte dieser aufdringliche Ami an seinen Nerven. Es wurde immer enger in seinem Hals, das Knäuel ließ sich nicht herunterschlucken, schien eher noch weiter zu wachsen, wollte ihm die Luft nehmen.
»Träumen Sie auch manchmal von Inseln in der Karibik, Herr Haydeck? Machen, was man wirklich möchte? Vielleicht in netter Begleitung?« Greyson blinzelte ihm verschwörerisch zu.
Karibik. Das war zu viel. Zeit, die Notbremse zu ziehen. Simon setzte sich auf und griff nach seinem Buch. »Vielen Dank für Ihre netten Worte, Mr. Greyson, aber ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.«
»Nur einen Moment noch, Herr Doktor!«
Die Tür sprang auf und ein junger Ober trug mit wichtigem Blick ein Tablett herein. Zwei bunte Cocktails leuchteten aus ihren Gläsern, mit Früchten auf dem Rand und kleinen Glitzerpalmen obendrauf.
Simon konnte es nicht fassen. Zwei Männer in Bademänteln nachmittags im Ruheraum, und der Ami startet eine Party.
Greyson steckte dem Ober einen 50-Euro-Schein zu, drückte Simon eines der Gläser in die Hand und prostete ihm zu. »Cheers, Herr Dr. Haydeck!«
»Also, Mr. Greyson, ich weiß nicht …«
»Natürlich wissen Sie! Cheers! Auf das Leben!«
Simon zog an dem Strohhalm. Mmh. Etwas Karibisches. Er schmeckte Kokosnuss, Ananassaft, andere Früchte und das Spritige des Alkohols. Kräftig geladen, der Cocktail. Angenehme Wärme wanderte seinen Hals hinunter, die Speiseröhre entlang Richtung Magen, machte sich daran, das Knäuel aufzulösen. Er nahm noch einen tiefen Zug und ließ sich wieder auf die Liege gleiten. Greyson war zwar eine Nervensäge, aber immerhin von ganz anderem Kaliber als Niemüller und die Hildebrand, und vielleicht hatte er ja sogar recht. Entspannen, relaxen, genießen. War das so verkehrt? Vielleicht sollte er wirklich öfters mal fünfe gerade sein lassen. Noch ein Schuss Karibik kam durch den Strohhalm und nahm den Rest des Ärgers mit sich.
»Sehen Sie, Herr Haydeck, man muss nur auf die richtige Seite des Lebens gelangen. Der richtige Job, die richtigen Freunde, die richtige Wissenschaft …«, sagte Greyson fast beiläufig und starrte auf den See hinaus.
Die richtigen Freunde? Der richtige Job? Was sollte das denn heißen? Simon merkte, wie sich die Karibik allmählich in seinem Gehirn auszubreiten begann. Strände, Palmen, türkisfarbenes Wasser statt Labortischen und Apparaturen. Die richtige Seite? Wo war die richtige Seite?
Greyson erhob sich. »Nett, Sie kennengelernt zu haben, Herr Dr. Haydeck. Viel Erfolg bei Ihren Vorbereitungen!« Er prostete Simon noch einmal zu und schlurfte zur Tür. »Nett auch Ihr Vortrag. Aber Sie können mehr, Simon, ich weiß es, Sie können mehr.« Die Tür klatschte zu.
Simon stocherte mit dem Strohhalm in dem Bodensatz aus gecrashtem Eis und verdünntem Cocktail herum. Vorbereitungen. Vorbereitungen und Kleingruppenarbeit. War das die richtige Wissenschaft? Natürlich konnte er mehr. Wenn man ihn denn ließ.
Die Tür öffnete sich erneut einen Spalt. Greyson steckte seine kühn geschwungene Nase herein. »Denken Sie über die richtige Seite nach, Herr Dr. Haydeck! Über die richtige Wissenschaft. Und über die richtigen Freunde! Nun, Ihr Professor Niemüller gehört sicherlich nicht dazu.«