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Kaukasus

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Michail kauert auf der harten Pritsche und wartet auf den Tod. Immer wieder wandert sein Blick wie der eines gefangenen Tieres in einem viel zu kleinen Käfig die Zellenwand entlang, auf der Reste olivgrüner kleiner Inseln über den Beton gesprenkelt sind wie die verstreuten Felder in der Umgebung seines Heimatdorfes. Seine Gedanken umkreisen die Inseln, die Inseln werden zu Feldern, alles beginnt, sich umeinander zu drehen, verwischt und mischt sich, bildet einen Strudel, der ihn mitzieht, ihn mitnimmt in eine untergegangene Welt.

Er ist wieder der dünne Junge mit den Sommersprossen auf dem bleichen Gesicht. Er sitzt hinter dem Haus auf der verfallenen Mauer. Vor ihm zusammengekauert das bitterlich weinende Mädchen. Er zögert, nimmt mehrere zaghafte Anläufe und legt dann den Arm um seine Schwester. Stockend erzählt Swetlana ihre Geschichte. Nicht alles. Bruchstücke, Fetzen, Andeutungen, unvollendete Halbsätze, die sich erst nach einiger Zeit und widerstrebend in Michails Kopf zu dem schwindelerregend finsteren Gebäude der Wahrheit zusammenfügen. Michail glaubt sie trotzdem nicht, die Wahrheit. Kann sie nicht glauben, will sie nicht glauben. Natürlich ist sein Vater ein Schwein. Aber ein solches Schwein? Ein Ungeheuer? Der schmächtige Knabe nimmt das große Mädchen fester in den Arm, überlegt, was er sagen könnte, findet keine Worte, schweigt. Swetlana zittert, heult, bringt kaum noch ein Wort heraus. Schweigend sitzen sie da.

Swetlana hört auf zu weinen, schluchzt nur noch leise in sich hinein. Sie schiebt den Arm des Bruders von ihrer Schulter, steht auf und geht zum Haus zurück. Michail bleibt sitzen. Das finstere Gebäude in seinem Kopf überragt alles, droht zusammenzustürzen, ihn unter sich zu begraben. Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein, das darf einfach nicht wahr sein. Die Welt dreht sich vor seinen Augen, aber es ist nicht mehr die Welt, die er gekannt hat, in der er zumindest halbwegs zu Hause war. Es ist eine Welt, die nur eine bunte, wertlose Oberfläche der Tarnung ist, hinter der die grausame Wahrheit als schauerlicher, alles verschlingender Abgrund lauert. Eine Wahrheit, die nicht sein darf, weil sonst auch noch die bunte Oberfläche alle Farbe, alles Leben verliert. Michail weiß nicht, was er tun soll. Reglos sitzt er da, spürt, wie es seine Wangen hinabrinnt, schmeckt Salz, als er mit der Zungenspitze seine Mundwinkel betastet. Swetlana muss das geträumt haben, jawoll, so muss es gewesen sein. Er würde ihr das erklären, und dann wäre die Welt wieder bunt. Er steht auf, will zurück zum Haus, bleibt wieder stehen, weiß, dass er das Dunkel nicht mehr vertreiben kann.

Andere Bilder, ein paar Tage später. Michail steht am Nussbaum vor dem Haus und schnitzt Holzpfeile. Da hörte er es. Ein Geräusch aus der Scheune. Ein Schluchzen, hilflos, geladen mit erstickender Angst, dass es ihm wie ein Messer durchs Herz fährt. Ein Schnitzmesser mitten ins Herz. Ein Flehen, so abgrundtief hoffnungslos, als würde ein zum Tode Verurteilter seinen tauben Henker um Gnade anflehen. Michail lässt den Pfeil fallen, steckt sich das offene Klappmesser in die Seitentasche seiner Hose, rennt zur Scheune, reißt das Tor auf. Swetlana liegt auf dem Rücken, der Vater hat sich zwischen ihre Schenkel gedrängt. Glänzend vor Schweiß und wie von Sinnen bewegt er sich zugleich manisch und maschinenhaft auf und ab. Swetlana wimmert und ringt nach Atem. Michail rennt los, packt eine Mistgabel, die an einen Pfosten gelehnt neben einem Heuballen steht, und rammt sie dem Vater in den Rücken. Blut spritzt, die Mistgabel fällt zu Boden. Sein Vater bäumt sich auf, schreit wie ein verwundetes Raubtier. In vier Rinnen läuft es am Rücken des großen Mannes herunter, tropft in die heruntergestreifte Hose. Brüllend springt er hoch, fährt herum, sieht ihn und starrt ihn an, verwirrt und voller Wut.

»Du Missgeburt«, schreit er, »ich bring dich um!«, und stürzt sich auf den schmächtigen Jungen. Michail fällt zu Boden, der mächtige Mann wirft sich auf ihn, drückt ihm die Kehle zu. Der Junge bekommt keine Luft, Blitze zucken vor seinen Augen. Verzweifelt krallt er sich in die muskulösen Unterarme des Vaters, ohne irgendetwas ausrichten zu können. Nach den Blitzen kommt die Nacht, und Michail spürt, wie sie nach ihm greift, ihn für immer mitnehmen will. Und die Nacht bringt noch einmal einen Moment fast überirdisch ruhiger, gestochener Klarheit mit sich. Da erinnert er sich an das Schnitzmesser in seiner Hose, bekommt es zu fassen und rammt es mit sterbender Kraft dem Vater in die Flanke. Der brüllt auf, röhrt wie ein weidwunder Hirsch und lockert den Würgegriff. Immer und immer wieder stößt er mit dem Messer zu, zerstanzt den Brustkorb des auf ihm liegenden Mannes. Der gibt noch einmal einige blubbernde Tierlaute von sich, haucht ein absurdes Pfeifen aus und erschlafft.

Michail liegt wie gelähmt unter dem toten Koloss, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu begreifen. Nur atmen, atmen, atmen. Er wird schier erdrückt, aber auf geradezu surreale Weise stört es ihn nicht. Der Koloss bewegt sich wieder, wird gezogen und zur Seite gewälzt. Michail sieht in Onkel Iljas Gesicht. Traurige Augen, leer und gebrochen, schauen ihn aus eingefallenen Höhlen an. Nur ein krächzendes Flüstern ist von der tiefen Stimme des Onkels geblieben. »Er war ein Schwein. Ein Ungeheuer. Aber das hier können wir niemandem erklären. Du musst weg von hier, ehe sie dich holen kommen.«

Das Unikat - Thriller

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