Читать книгу Ich geh dann mal meinen eigenen Weg - Andreas Gauger - Страница 37
»LEBE DEIN EIGENES LEBEN, ABER VERLASSE MICH NICHT!«
ОглавлениеEltern spüren diese unterschiedlichen Tendenzen häufig in sich, verdrängen sie aber oder haben Schuldgefühle, wenn sie registrieren, dass sie ihr Kind »übertragen« wollen (ein Begriff aus der Schwangerschaft) und nicht unabhängig werden lassen. Doch wie so oft im Leben führen Schuldgefühle nicht unbedingt dazu, dass wir das lassen, weswegen wir uns schuldig fühlen, sondern nur dazu, dass wir einem inneren Währungssystem folgend weiterhin tun, was wir tun, und dafür mit Schuldgefühlen bezahlen, um es wieder tun zu können. Im Alltag vermischen sich beide Tendenzen, sodass es in der Kommunikation mit den Kindern immer wieder zu doppeldeutigen Botschaften kommt, im Psychologie-Jargon »Doublebind-Kommunikation« genannt. Das macht es für Kinder so schwierig, denn wenn auf unterschiedlichen Kanälen zwei sich widersprechende Botschaften gleichzeitig gesendet werden, auf welche sollen sie dann reagieren?
Hinzu kommt, dass ein Kind meistens gar keine Chance hat, sich richtig zu entscheiden. Da beide Tendenzen gleichermaßen vorhanden sein können, wird das Kind immer wieder dafür getadelt werden, dass es nicht der »anderen« Botschaft entsprochen hat. Das erinnert an den alten Witz, in dem eine Frau ihrem Mann zum Geburtstag zwei Krawatten schenkt und dieser beide so schön findet, dass er eine davon gleich am nächsten Tag zur Arbeit anzieht. Daraufhin sagt seine Frau: »Die andere hat dir wohl nicht gefallen?« Welche Chance hat der arme Kerl gehabt? (Und nein, der Witz ist nicht frauenfeindlich, das machen Männer umgekehrt genauso – wenn auch nicht mit Krawatten …)
Von beiden Tendenzen, also dem Wunsch, die Kinder mögen möglichst unabhängig werden, und dem gegenläufigen Wunsch, sie mögen ein Leben lang von den Eltern abhängig bleiben, gibt es in der Praxis zwei Hauptformen, die ich im Folgenden näher erläutern werde.