Читать книгу Ich geh dann mal meinen eigenen Weg - Andreas Gauger - Страница 42
NICHT BEFRIEDETE VORWÜRFE
ОглавлениеManchmal braucht es nicht mehr als ein falsches Wort zum falschen Zeitpunkt und ein Mensch ist für sein Leben gezeichnet.
Ein anderer verbreiteter Fall, der das Loslassen beim Tod eines Elternteils weiter erschwert, sind Vorwürfe, die du diesem nach wie vor machst. In vielen Fällen gibt es gute Gründe dafür. Selbst in einer normalen Eltern-Kind-Beziehung mit ihren üblichen Höhen und Tiefen geht einiges daneben, werden unbedachte Worte gesprochen und verletzende Dinge getan.
Mir ist ein Fall bekannt, bei dem eine sonst wirklich liebevolle Mutter in einem gestressten Moment zu ihrer kleinen Tochter gesagt hat: »Lasse das, du siehst hässlich aus!«, als die Kleine vorm Spiegel gerade vergnügt Grimassen zog. Selbstverständlich meinte die Mutter nicht, ihre Tochter sei an sich hässlich. Wahrscheinlich fand sie nicht mal deren Grimassen wirklich hässlich. Sie war einfach nur im Stress und fühlte sich durch ihre laut kichernde Tochter gestört, sodass sie aus ihrer Laune heraus etwas sehr Unbedachtes sagte.
Bei der Tochter blieb jedoch »Du siehst hässlich aus« als generelle Aussage über sich hängen, losgelöst von der ursprünglichen Situation des Grimassenschneidens. Obwohl sie mittlerweile eine sehr attraktive Frau in ihren Dreißigern ist, blieb dieser Satz bis heute als eine Art Killerphrase in ihrem Geist verankert. Egal, wie viele Komplimente sie für ihre Schönheit bekommt, sie ignoriert sie, überhört sie oder verzerrt sie dahingehend, dass sie dem Gegenüber unterstellt, mit dem Kompliment etwas bei ihr erreichen zu wollen. Besonders, wenn es um Männer geht.
Das ist ein vergleichsweise harmloser Fall und doch erkennt man hier gut, wie schnell selbst in sonst liebevollen Beziehungen bleibende Verletzungen entstehen können. Wie sieht es da erst aus, wenn jemand weniger liebevolle Eltern hatte! Hier entstehen so viele verletzende Situationen, muss ein Kind so viel ertragen und entbehren, dass sich über die Jahre zahlreiche Vorwürfe gegenüber den Eltern ansammeln können. Diese Vorwürfe bleiben häufig unausgesprochen.
Leugnen und Verdrängen ist für Eltern häufig der sicherer erscheinende Weg, mit der Vergangenheit umzugehen.
Andere bringen sie zum Ausdruck in der Hoffnung, die Eltern würden dadurch ihre Fehler erkennen, sie zugeben und die Kinder um Verzeihung bitten. Leider geschieht das jedoch in den seltensten Fällen. Einerseits, weil die Eltern sich nicht verändert haben und auch nicht plötzlich altersweise oder -mild geworden sind. Andererseits sicherlich, weil viele Eltern zu viel Angst vor dem Schuldberg haben, den sie angehäuft haben. Würden sie sich und anderen gegenüber eingestehen, welche Fehler sie gemacht haben, könnten sie – so die unbewusste Befürchtung – mit der destabilisierenden Schuld nicht umgehen.
Sich mit Vorwürfen an die Eltern zu wenden in der Hoffnung auf Einsicht und Entschuldigung, hat noch einen entscheidenden Effekt. Es verleiht den Eltern weiterhin Macht. Denn es hängt dann von deren Reaktion ab, ob wir innerlich zur Ruhe kommen können oder nicht. Gestehen die Eltern ihre Fehler ein, so glauben wir, würde uns das Genugtuung verschaffen. Tun sie es nicht, sitzen wir in der Falle und nichts hat sich geändert. Außer vielleicht, dass wir die Erlösungsfantasie nicht mehr aufrechterhalten können, es könnte unser Leben irgendwie verbessern, wenn die Eltern wegen vergangener Fehler reumütig zu Kreuze kriechen würden.
ZWEI ARTEN , DIE WAHRHEIT ZU SAGEN
Wenn wir unsere Wahrheit einem anderen gegenüber aussprechen, dann gibt es immer eine Art, die uns an den anderen gebunden hält, und eine Art, die befreit. Gebunden hält uns, wenn wir beim Sprechen unserer Wahrheit auf die Reaktion des anderen schauen.
Hingegen befreit uns, wenn wir unsere Wahrheit sprechen, einfach um unsere Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, unabhängig davon, was der andere dazu sagt oder wie er sich verhält. Diese Art hat unser inneres Gleichgewicht im Blick und sonst nichts. Was der andere antwortet oder wie er reagiert, ist dafür nicht wichtig. Wir sagen, was wir zu sagen haben, damit es »raus ist« aus unserem System. Es auszusprechen hat eine Ventilfunktion. Wir sagen es als Ausdruck dessen, wer wir sind und was uns wichtig ist. Wenn der andere in unserem Sinne positiv darauf reagiert: schön. Wenn er es nicht tut: auch schön. Es ging nie um den anderen.