Читать книгу Ich geh dann mal meinen eigenen Weg - Andreas Gauger - Страница 41
SCHULD UND SCHAM
ОглавлениеUngesagt Gebliebenes ist besonders schmerzhaft. Wenn wir versäumt haben, unseren Eltern zu sagen, dass wir sie trotz aller Schwierigkeiten miteinander wirklich lieb haben und es vieles gibt, wofür wir ihnen dankbar sind. Wenn es etwas gibt, was wir in der Beziehung zu ihnen verbockt haben, und wir es bisher immer versäumt haben, uns dafür bei ihnen zu entschuldigen, obwohl das mehr als angebracht gewesen wäre.
Falscher Stolz, Scham oder die Angst vor der Konfrontation oder vor dem Eingestehen der eigenen Schuld richten jeden Tag überall auf der Welt furchtbare Schäden in den Beziehungen der Menschen untereinander an.
Wir glauben insgeheim, wir hätten unbegrenzt Zeit, noch zu sagen, was eigentlich längst hätte ausgesprochen werden müssen, und die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie mein Opa gestorben ist. Kurz zuvor hatten wir eine Serie heftiger Streits. Davor hatten wir uns nie wirklich gestritten. Zu dem Zeitpunkt hatte ich viele Schwierigkeiten und war ernsthaft am Überlegen, die Schule kurz vor dem Abitur abzubrechen, was mein Opa nicht nachvollziehen konnte. Wir gingen im Streit auseinander und sprachen in den darauffolgenden Wochen nur das Allernötigste miteinander, wenn wir uns sahen.
Dann kam der Anruf meiner Oma, dass mein Opa regungslos in der Garage liege. Meine Mutter und ich trafen gleichzeitig mit dem Rettungswagen ein. Zu dem Zeitpunkt war mein Opa im Grunde bereits verstorben. Er konnte noch ein paar Mal mehr oder weniger reanimiert werden. Zusammen mit meiner Oma und meiner Mutter fuhr ich in meinem kleinen Polo direkt hinter dem Krankenwagen her ins Krankenhaus. Alle paar Hundert Meter hielt der Krankenwagen an und man konnte durch die hinteren Milchglasscheiben erkennen, dass sie gerade wieder versuchen mussten, ihn zu reanimieren.
Die aufgeregten Schreie meiner Mutter und meiner Oma, jedes Mal wenn das passierte, höre ich auch heute noch, wenn ich an die Situation denke, obwohl es jetzt bald zwanzig Jahre her ist. Ich selbst hatte mich noch nie zuvor so hilflos und ohnmächtig gefühlt. Im Krankenhaus hat man uns dann mitgeteilt, dass er auf der Fahrt verstorben sei. Ich war durch die Situation so benommen, dass ich erst Wochen später realisierte, dass ich nie wieder die Gelegenheit haben werde, mich für die unbedachten Aussagen und meinen unangemessenen, respektlosen Ton in unseren Streitgesprächen zu entschuldigen. Dass ich nie die Chance haben werde, ihm zu sagen, dass ich eigentlich immer zu ihm aufgeblickt, ihn bewundert und wirklich geliebt habe.
Am meisten aber hat mich geschmerzt, dass er nie die Entwicklung miterlebt hat, die ich seither durchlaufen habe. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass er mitbekommt, dass alles gut ausgegangen ist. Nicht, um recht zu behalten, sondern damit er weiß, alles ist gut. Viele Jahre hatte ich die Befürchtung, unsere Streitigkeiten und der Stress, den ihm unsere Auseinandersetzung und die Sorge um meine Zukunft gemacht haben, wären schuld gewesen an der Lungenembolie, an der er verstorben ist. Es hat Jahre gebraucht, bis ich mit allem meinen Frieden machen konnte. Und obwohl er »nur« mein Opa war, habe ich ihn sehr geliebt. Um wie viel dramatischer fällt eine solche Wirkung aus, wenn es sich dabei um einen Elternteil handelt?!