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2. Erwerb von Staatsgebiet
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Der Erwerb von Staatsgebiet durch einen Staat erfolgt entweder originär oder derivativ (d. h. abgeleitet). Ein originärer Erwerb setzt voraus, dass es sich bei Erwerb um herrenloses Territorium (terra nullius) handelt.[26] Dagegen führt der derivative Erwerb stets zum Verlust bei dem Staat, der bislang Inhaber war. Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein Gebiet rechtswirksam erworben wurde, sind diejenigen Regeln, die zum Zeitpunkt des Erwerbstatbestandes gegolten haben (Grundsatz des intertemporalen Völkerrechts).[27]
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Formen des originären Erwerbs sind die Okkupation und Anschwemmung. Genügte zu Zeiten der großen Entdecker des 15. bis 18. Jahrhunderts noch die bloße Entdeckung, markiert v. a. durch das Hissen der Flagge, wurde mit der zunehmenden Konkurrenz der Seemächte etwa im 18. Jahrhundert die Okkupation notwendig; die Entdeckung konnte allenfalls eine Anwartschaft (inchoate title) auf Okkupation binnen angemessener Frist begründen. Die Okkupation setzt eine effektive Inbesitznahme des Territoriums voraus; die Anforderungen orientieren sich an den geographischen Gegebenheiten im Einzelfall (z. B. Größe des besiedelbaren Gebiets).[28] Die Anforderungen können aus Gründen der Kontiguität (= natürlicher geographischer Zusammenhang) reduziert sein, z. B. bei Besiedlung einer der Küste vorgelagerten Insel; einen eigenständigen Gebietstitel gibt die geographische Nähe zum eigenen Staatsgebiet aber nicht.[29] Die Okkupation ist heute faktisch nur für historische Gebietstitel von Bedeutung, da herrenloses Gebiet – mit Ausnahme der südlichen Polarregion (Rn. 854–856) – nicht existiert.
Im Streit um Gebietsansprüche in der Arktis stützen die Anrainerstaaten ihre Ansprüche auf die sog. Sektorentheorie – letztlich eine Spielart der Kontiguitätsidee: Weil die Arktis praktisch nicht okkupierbar sei, verlängere sich die Gebietshoheit der Anrainer in Sektoren zwischen den äußersten Punkten der Festlandküste und dem Pol. Diese Theorie hat keine Grundlage im Völkerrecht.
Praktisch bedeutsamer ist die Anschwemmung (accretion). Diese vergrößert das Staatsgebiet eines Küstenstaates meerwärts, erfasst aber auch die graduelle Veränderung des Verlaufs von Grenzflüssen. Demgegenüber führt die sog. Avulsion, d. h. die plötzliche Veränderung des Verlaufs eines Grenzflusses durch Naturkatastrophen o.Ä. nicht zu einer Verschiebung der Grenzen. Weithin offene Fragen wirft die künstliche Landgewinnung durch Eindeichung oder Anschüttung auf: Gerade bei Meerengen kann es hier zu Konflikten mit anderen Anrainerstaaten kommen.[30]
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Beim derivativen Gebietserwerb spielt heute die Zession, d. h. die Abtretung (wegen Schenkung, Kaufs oder Tausches oder im Rahmen von Friedensverträgen), die wichtigste Rolle. Ersitzung, die lange Zeit unangefochtene Dokumentation eines Herrschaftswillens über ein Gebiet, und Adjudikation (die Zuweisung eines Gebietes durch Urteil eines internationalen Gerichts) sind praktisch kaum von Bedeutung. Die Annexion, d. h. die gewaltsame Einverleibung fremden Territoriums, wird vom Völkerrecht nicht mehr anerkannt. Dies wurde (aus Anlass der Besetzung der Mandschurei durch Japan) erstmals 1932 von den USA in der Stimson-Doktrin proklamiert und kurz darauf in einer Resolution von der Völkerbundversammlung übernommen. Heute folgt es als (teleo-)logische Konsequenz aus dem Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 UNCh: ex iniuria ius non oritur („aus Unrecht geht kein Recht hervor“). So wurde z. B. die Annexion Kuwaits durch den Irak im Jahre 1990 von der internationalen Gemeinschaft einhellig verurteilt. Dass in manchen Fällen Annexionen ohne nachhaltige Reaktion der Vereinten Nationen geblieben sind (z. B. Tibet/China 1951 oder Goa/Indien 1961; zur Annexion der Krim durch Russland Rn. 71), ändert nichts an dem Verbot der Annexion durch das moderne Völkerrecht.
Schon wegen des Annexionsverbots konnte der sog. Islamische Staat (IS) keinen Anspruch auf die gewaltsam eroberten Gebiete in Syrien und dem Irak erheben. Da er über keinerlei rechtlich anerkanntes Territorium verfügte, fehlte es an einem wesentlichen Element der Staatlichkeit. Hinzu kommt der atypische Fall, dass die „Staatsgründung“ hier von einem nichtstaatlichen Akteur ausging. Dies erkennt das Völkerrecht nur an, wenn ein Volk sein Selbstbestimmungsrecht – zumindest friedlich (Rn. 70–71) – ausübt. Hiervon kann bei einem externen Gewaltakteur, der Gebiete erobert und deren Bevölkerung unterwirft, nicht die Rede sein.[31]
Namibia-Gutachten (IGH 1971)[32]
Die ehemalige deutsche Kolonie Süd-West-Afrika (Namibia) hatte seit 1920 aufgrund eines Mandates des Völkerbundes unter der Verwaltung von Südafrika gestanden. 1946 hatte die Generalversammlung das Mandat für beendet erklärt. Südafrika weigerte sich dennoch, seine Herrschaft über Süd-West-Afrika aufzugeben und erklärte Teile des Staatsgebiets für annektiert. Daraufhin bat die Generalversammlung den IGH nach Art. 96 UNCh um ein Gutachten zur Beantwortung der Frage, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus der andauernden Besatzung Süd-West-Afrikas ergeben.
Der IGH sah in der Annexion und der fortdauernden Präsenz Südafrikas in Namibia einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Er machte deutlich, dass alle Staaten verpflichtet sind, die Herrschaft Südafrikas über Namibia nicht anzuerkennen, d. h. keine Vertretungen dort zu errichten oder sonstige politischen oder wirtschaftlichen Beziehungen mit Südafrika über die annektierten und die besetzten Gebiete zu unterhalten.
Im Zusammenhang mit der Annexion Ost-Jerusalems und der Golanhöhen durch Israel hat der UN-Sicherheitsrat mehrfach bekräftigt, dass das Annexionsverbot sich auch auf Gebiete erstreckt, die im Rahmen eines in Selbstverteidigung geführten Krieges erobert wurden.[33] Dies ist schon deshalb zwingend, weil die Kriegsschuld oft umstritten ist. Zugleich hat der Sicherheitsrat alle UN-Mitglieder verpflichtet, diese Annexionen nicht anzuerkennen. Hiergegen hat die US-Regierung mit ihrer Anerkennung der Annexion Ost-Jerusalems im Rahmen der Verlegung der US-Botschaft 2017/18 und der Annexion der Golanhöhen (März 2019) in flagranter Weise verstoßen.[34]
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Einige historische Gebietsansprüche sorgen bis in unsere Zeit für Konflikte, wie z. B. der Streit um die Kurilen zwischen Japan und Russland. Besonders verwickelt ist die Entdeckungs-, Besiedlungs- und Eroberungsgeschichte der Falkland-Inseln (Malvinas).[35] Historische Gebietstitel spielen auch eine Rolle in den scharfen Auseinandersetzungen zwischen China und seinen Nachbarn über Inseln im Ostchinesischen (Senkaku/Diaoyu-Inseln) und Südchinesischen Meer (Xisha/Paracel- und Spratly-Inseln).[36]
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Fall: Wem gehört Utopia?
Die nur mit Dodo-Vögeln bewohnte Insel Utopia wurde 1820 von einem britischen Seefahrer entdeckt. Dieser hinterließ den „Union Jack“ auf dem höchsten Berg der Insel und setzte anschließend seine Fahrt fort. Als 40 Jahre später Frankreich einen Marinestützpunkt auf Utopia errichtet, protestiert London: Utopia sei britisches Territorium! Trifft das zu? Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn im Anschluss an die Entdeckung ein britischer Handelsposten auf Utopia gegründet worden wäre, um die Dodo-Population wirtschaftlich zu nutzen? Was, wenn die Briten 1860 durch die französische Marine gewaltsam vertrieben worden wären, um danach die Annexion der Insel durch Frankreich zu verkünden?
Lösungshinweise:
I. Ausgangsfall: Die Entdeckung gab noch bis ins 17. Jahrhundert hinein einen Gebietstitel. 1820 genügte das bloße Hissen einer Flagge nicht mehr, notwendig wäre eine Okkupation. Etwas anderes könnte allenfalls bei einer unbewohnbaren Insel gelten (hier nicht der Fall: vgl. Marinestützpunkt Frankreichs). Allenfalls könnte durch das Hissen eine Gebietsanwartschaft begründet worden sein, die aber eine Okkupation in angemessener Zeit nach der Entdeckung verlangt, um zu einem vollen Gebietstitel zu erstarken. Ein Zeitraum von 40 Jahren ist nicht mehr angemessen. Utopia war terra nullius, als Frankreich eintraf. Da die Insel nur von Dodos bevölkert ist, sind keine hohen Anforderungen an eine effektive Inbesitznahme zu stellen. Der Marinestützpunkt reicht aus. Utopia gehört Frankreich.
II. Abwandlung: Hier hätte Großbritannien den „gestreckten“ Gebietserwerb durch effektive Okkupation vollendet. Die gewaltsame Vertreibung und Annexion verstieße heute gegen den internationalen ordre public. 1860 waren Krieg und kriegerische Annexion jedoch noch nicht geächtet. Die Annexion durch Frankreich wäre in diesem Fall wirksam erfolgt.