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III. Staatsvolk
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Das Staatsvolk ist völkerrechtlich keine ethnische Größe, sondern zunächst allein durch das formale Band der Staatsangehörigkeit definiert. Diese ist eine wechselseitige Rechts- und Pflichtenbeziehung zwischen dem Bürger und seinem Heimatstaat. Sie spielt wegen der Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht eine Rolle. Soweit diese heute noch reicht, genießt der Einzelmensch nur vermittelt über seinen Heimatstaat den Schutz des Völkerrechts (Rn. 66–67 und § 9 A).
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Grundsätzlich besitzen die Staaten das Recht, frei über die Verleihung der Staatsbürgerschaft zu entscheiden; das Völkerrecht errichtet jedoch gewisse Grenzen. Insbesondere muss zwischen dem Staatsbürger und seinem Heimatstaat eine „echte Verbindung“ (genuine connection) bestehen, wenn die Staatsangehörigkeit auf völkerrechtlicher Ebene anerkannt werden soll (IGH im Nottebohm-Fall). Dies gilt insbesondere bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung.
Nottebohm-Fall (IGH 1955)[37]
Friedrich Nottebohm lebte als deutscher Staatsbürger seit 1905 in Guatemala und erwarb 1939 während eines Besuchs die Staatsbürgerschaft Liechtensteins. 1943 wurde Nottebohm in Guatemala, das sich mit dem Deutschen Reich im Krieg befand, als feindlicher Ausländer verhaftet und enteignet. Liechtenstein wollte wegen dieser Enteignung diplomatischen Schutz für „seinen“ Staatsbürger ausüben.
Der IGH stellte fest, dass sich das Recht zur Ausübung von diplomatischem Schutz bzw. die Pflicht zur völkerrechtlichen Anerkennung einer fremden Staatsbürgerschaft nach dem Völkerrecht bestimmt und verlangte dafür eine echte Verbindung (genuine connection) zwischen dem Staatsbürger und dem schutzwilligen Heimatstaat. Da Nottebohm nie in Liechtenstein gelebt hatte und auch sonst keine wesentlichen Verbindungen zu dem Staat unterhielt, stellte der IGH fest, dass Guatemala nicht verpflichtet war, ihn als Liechtensteiner zu behandeln und Liechtenstein kein Recht zur Ausübung von diplomatischem Schutz hatte.
Die Einbürgerung fremder Staatsangehöriger verletzt in aller Regel nicht die Rechte von deren Heimatstaat. Verleiht ein Staat seine Staatsangehörigkeit jedoch massenhaft an im Ausland wohnende Volkszugehörige mit dem Ziel, die politische Stabilität in dem anderen Staat zu untergraben („Passportisation“), kann hierin ein Verstoß gegen das Interventionsverbot (vgl. Rn. 362–366) liegen. Andere Staaten sind berechtigt, solche Einbürgerungen nicht anzuerkennen.[38]
Die andere Form des Erwerbs der Staatsangehörigkeit ist der Erwerb durch Geburt. Hier sind im Völkerrecht als „echte Verbindungen“ das Abstammungsprinzip (ius sanguinis, „Recht des Blutes“) und das Territorialitätsprinzip (ius soli, „Recht des Bodens“) anerkannt. Die Prinzipien werden z. T. auch kombiniert (so im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht seit 1999).
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Durch Zusammentreffen beider Prinzipien kann ein Kind mehrere Staatsangehörigkeiten erwerben (wenn z. B. das Kind einer deutschen Mutter und eines österreichischen Vaters in den USA geboren wird, kann es drei Staatsangehörigkeiten erhalten). Auch durch Einbürgerung kann es zu Mehrstaatigkeit kommen, falls die alte Staatsangehörigkeit in diesem Fall nicht automatisch erlischt oder als Vorbedingung aufgegeben werden muss. Durch Mehrstaatigkeit können Probleme entstehen, z. B. hinsichtlich des diplomatischen Schutzes oder bei der Frage der Wehrpflicht, die aber meist durch bilaterale Übereinkünfte geklärt werden können. Die früher verfolgte Politik, Mehrstaatigkeit völkerrechtlich zurückzudrängen, ist in jüngerer Zeit verstärkt einer Rechtsauffassung gewichen, die in Mehrstaatigkeit die typische Folge von Migrationsbiographien sieht. Dies findet z. B. im Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (1997)[39] Ausdruck. Im Zuge der Ratifikation dieses Abkommens hat Deutschland 2002 das Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatern (1963)[40] gekündigt.
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Vor Herausforderungen stellt nach wie vor das Problem der Staatenlosigkeit, weil hier der Einzelmensch keinen Heimatstaat besitzt, der sich auf völkerrechtlicher Ebene für ihn einsetzen kann. Menschenrechtliche Verträge bemühen sich, das Problem durch Ausbürgerungsverbote zu entschärfen. Staatenlosenausweise („Nansen-Pass“ 1922, 1946 vom London Travel Document abgelöst) verbessern die Rechtsstellung Staatenloser.
Nach dem Vorbild Frankreichs und Großbritanniens hat auch der Deutsche Gesetzgeber die Ausbürgerung von Doppelstaatern beschlossen, die für eine Terrormiliz im Ausland kämpfen.[41] Abgesehen von Fragen der Bestimmtheit des neuen Gesetzes mag eine solche Regelung in Einklang mit Art. 8 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 stehen, der nach Abs. 2 lit. a (ii) die Ausbürgerung sogar bei drohender Staatenlosigkeit zuließe, wenn der Betroffene „ein den Lebensinteressen des Staates in schwerwiegender Weise abträgliches Verhalten an den Tag gelegt hat“. Die Maßnahme ist gleichwohl menschenrechtlich bedenklich als überschießende Reaktion auf ein Verhalten, das mit Mitteln des Strafrechts zu ahnden ist. Hier werden in Wahrheit eigene „Verantwortlichkeiten ausgebürgert“.[42]
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Das Staatsvolk ist aber mehr als nur die Summe von Staatsangehörigen. Um aus den Staatsangehörigen ein Staatsvolk zu machen, ist ein Zusammenleben auf dem Staatsgebiet erforderlich (muss nicht alle Staatsangehörigen erfassen!). Das Staatsvolk muss eine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft bilden und auf eine gemeinsame Geschichte bauen können. Die Notwendigkeit einer ideellen kollektiven Sinnstiftung steht künstlichen Zweckbündnissen entgegen, in denen die „Staatsbürger“ allein durch steuerliche und wirtschaftliche Interessen miteinander verbunden sind.
Dass die einheimische Bevölkerung in den vom sog. Islamischen Staat (IS) beherrschten Gebieten eine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft bildete, kann nicht zweifelhaft sein. Dennoch bildete sie keine „dauerhafte Bevölkerung“ (permanent population) im Sinne von Art. 1 Montevideo-Konvention, weil es an einem Band zwischen der Bevölkerung und dem Gemeinwesen fehlte, das Staatlichkeit beanspruchte. Ein Staatsvolk lässt sich nicht gewaltsam zusammenrauben. Hiervon zu unterscheiden ist die Legitimität der Regierung einer an sich „staatsfähigen“ politischen Einheit aus Volk und Gebiet (Rn. 89).[43]