Читать книгу Arbeits- und Organisationspsychologie - Annette Kluge - Страница 58
Organisationen als sozio-technische Systeme
ОглавлениеWir befinden uns nun im England der späten 1940er Jahre. Der Krieg hat seine Zerstörungen hinterlassen und viele europäische Länder beschäftigen sich mit dem Wiederaufbau wichtiger Industrien.
Wie bei den Hawthorne-Werken hatte der zweite Weltkrieg auch hier Einfluss auf die Produktion, im Vergleich zu England waren die USA allerdings von keinen Zerstörungen betroffen, da sich der zweite Weltkrieg (wie auch der erste) nicht auf dem Boden der USA abspielte. Likert hatte daher z. B. weniger den Wiederaufbau im Blick als die unerwünschten Konsequenzen des tayloristischen Arbeitssystems.
In dem Ansatz Taylors dominierte in den früher 1910er Jahren das technische System die Organisation, in den Forschungen in den Hawthorne-Werken dominiert das soziale System der Organisation und ihre Effizienz. In den Arbeiten von Emery (1959) und Trist (1981) zeigt sich nun die Wichtigkeit des Zusammenspiels von sozialem und technischem System.
Das sozio-technische Systemkonzept entstand während verschiedener Feldstudien des Tavistock Institutes in der britischen Kohleförderung (Trist, 1981).
Die Forschung des Tavistock Institutes entstand in der Nachkriegsphase und der des Wiederaufbaus der Industrie. Kohle war die Hauptenergiequelle und vieles hing davon ab, dass Kohle in großem Maße und möglichst preiswert abgebaut wurde (Fox, 1995).
Der Wiederaufbau der Industrie und Kohleförderung stieg jedoch in seiner Produktivität nicht durch mehr Mechanisierung an. Mitarbeiter/innen wanderten in großer Zahl in andere, moderne Fabriken ab. Unter denen, die in der Kohleförderung blieben, war der Absentismus ( Kap. 6, Kap. 7) bei 20 % (Trist, 1981; Fox, 1995). Konflikte mit den Gewerkschaften waren an der Tagesordnung, obwohl sich die Arbeitsbedingungen prinzipiell verbesserten. Man verstand nicht, warum die Produktivität mit der Investition in mehr Technik nicht anstieg.
Die Tavistock-Mitarbeiter wurden als Berater engagiert, nachdem eine technische Innovation, der sog. »long wall method of coalgetting« nicht zu der erhofften Produktivitätssteigerung führte, sondern zu geringerer Arbeitsmotivation, Fehlzeiten, Arbeitsunfällen und Fluktuation (Kirchler et al., 2004). Trist und Branford (1951) zeigten bei ihren Untersuchungen dabei vor allem auf, dass die negativen Konsequenzen auf die arbeitsbezogene Einstellung der Mitarbeiter nicht auf die technische Innovation zurückzuführen waren, sondern auf die Änderung des sozialen Systems. Das neue System der »long wall method of coal getting« zerstörte bisherige Gruppenarbeitssysteme, die bisher dazu beigetragen hatten, dass sich die Gruppen gegenseitig vertrauten, was im Bergbau aufgrund der Einsturzgefahr eine wichtige Bedingung für das Arbeiten unter Tage ist. So zeigte sich in den Untersuchungen beispielweise, dass die nachfolgenden Schichten zunächst zu ihrem Arbeitsbeginn alle Sicherheitsvorkehrungen kontrollierten, da sie der vorausgehenden Schicht nicht mehr trauten und befürchteten, dass diese, um ihren Lohn zu maximieren, ohne Rücksicht auf die nachfolgenden Schichten den Bergwerksstollen nicht gewissenhaft genug absicherte (Kirchler et al., 2004).
Das National Coal Board (Nationale Kohlevereinigung) hatte das Tavistock Institut daher um eine vergleichende Untersuchung einer produktiven und einer deutlich weniger produktiven Mine gebeten. Am Tavistock Institut waren zu der Zeit (1949) sechs postgraduierte Mitarbeiter angestellt, die aus der Industrie kamen. Von diesen hatten drei Mitarbeiter einen Gewerkschaftshintergrund und einer (Ken Bramford) war Minenarbeiter gewesen. Nach ersten Erfahrungen am Institut wurden die sechs Mitarbeiter ermutigt, sich in ihre früheren Unternehmen zu begeben und anschließend jede Veränderung zu berichten, die ihnen auffiele. Ken Bramford kam von Haighmoor, seinem früheren Arbeitgeber, zurück und berichtet über eine Zeche, in der er innovative Arbeitspraktiken gesehen habe. Dadurch, dass Bramford dort bekannt war, willigte das Management einer Untersuchung dieser Arbeitsweise ein (Trist, 1981).
Bei den Vorort-Begehungen und Untersuchungen berichteten die Mitarbeiter im Bergwerk, dass sie sich, um die neuen technischen Möglichkeiten optimal zu nutzen, eine Arbeitsorganisation zu eigen gemacht hätten, die in der vorindustriellen Zeit üblich war – nämlich die Arbeit in kleinen Gruppen (im Handwerksbetrieb), die einen ganzen Arbeitszyklus autonom abarbeiten. Sie hatten einen Weg gefunden, auch bei einer höheren Ebene der Mechanisierung, Gruppenkohäsion und Selbstregulation wiederzubeleben. Eine der ersten Veröffentlichungen der Tavistock-Gruppe hieß dann auch »The loss, rediscovery and transformation of a work tradition« (Trist et al., 1963).
Dieses neue Paradigma führte zu einer neuen Art, wie Organisationen und vor allem auch Veränderungen und Einführungen neuer Technologien betrachtet wurden (Trist, 1981). Ingenieure folgten zu der damaligen Zeit dem technologischen Imperativ und machten die Arbeitsorganisation von dem abhängig, was die Technik erforderte. Das war eine von allen akzeptierte und unreflektierte Regel. Die »people costs« durch diese Vorgehensweise wurden nicht in Betracht gezogen. Diesen »people costs« könnte mit den sozioökonomischen Bedingungen (Entlohnung) oder eine Verbesserung der Human Relations (wahrscheinlich im Sinne der Kuchenparties wie oben beschrieben) begegnet werden. Die Mitarbeiter des Tavistock Institutes empfanden aber die getrennte Betrachtung des technischen und des sozialen Systems nach der Begegnung mit dem innovativen System im Haighmoor als nicht mehr angemessen.
In der sozio-technischen Betrachtung werden ein altes und ein neues Paradigma unterschieden. Zum alten Pradigma gehören u. a. ein technologischer Imperativ, die Vorstellung des Menschen als Verlängerung der Maschine, der Mensch als austauschbares Maschinenteil, eine hohe Aufgabenteilung, die einfach und enggefasste Fertigkeiten erfordern, und die externe Kontrolle durch Führungskräfte.
Das neue Paradigma postuliert dagegen eine gemeinsame Optimierung (joint optimization) des sozio-technischen Systems, sieht den Menschen komplimentär zur Maschine sowie als Resource, die entwickelt werden soll, und sucht nach der optimalen Aufgabenzusammenlegung, die Anwendung von vielfachen, breitergefasste Fertigkeiten erfordern.
Dass eine getrennte Betrachtung sozialer und technischer Systeme für nicht zielführend erachtet wurde, rührt daher, dass Arbeitsorganisationen existieren, um Arbeit zu erledigen – und das erfordert, dass Personen technische Artefakte nutzen, um ein Set von Aufgaben zu erfüllen, um letztlich ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Das erforderte nach Trist (1981) ein konzeptionelles Reframing, in dem Organisationen als sozio-technische Systeme konzipiert werden sollten, und nicht mehr als soziale (Human Relations) oder technische (Taylorismus) separat. Das soziale und das technische System waren substantielle Faktoren – die Menschen und das Equipment. Ökonomische Leistung und Arbeitszufriedenheit waren die Ergebnisfaktoren, die je nach der Güte der Passung zwischen sozialem und technischem System variierten (Trist, 1981). Das neue Paradigma fand in den darauffolgenden Jahren auch in anderen europäischen Ländern großes Interesse und die Tavistock-Mitarbeiter lernten aus verschiedenen Ländern und Industrien hinzu.
Das technische System beinhaltet das Material, die Maschinen, das Gelände sowie die Prozesse, mit denen Input zu Output verarbeitet wird (Fox, 1995) (zu Input-Throughput-Output-Prozessen, Kap. 1.1.2).
Nach Emery (1959) sind die wichtigen Merkmale des technischen Systems folgende (Fox, 1995), z. B.:
• Die Merkmale des Materials, welches verarbeitet wird, in der Art, wie es Tätigkeitsvariation und -vielfalt erfordert.
• Das direkte physikalische Worksetting wie z. B. Temperatur, Licht, Lärm, Schmutz und Staub und die Art und Weise, in der die Mitarbeiter/innen über- und unterstimuliert werden und dysfunktionale Bedingungen vermieden werden.
• Die räumlich-zeitliche Anordnung der Maschinen, Arbeiter/innen und Prozesse. Werden die Tätigkeiten simultan oder sequentiell ausgeführt? Ist nur eine Schicht mit der Tätigkeit befasst oder wird schichtübergreifend gearbeitet? Diese Faktoren beeinflussen die Leichtigkeit, mit der interdependente Aktivitäten unterstützt, informiert, koordiniert und aufrechterhalten werden können.
• Die Art der Mechanisierung und Automation und den Beitrag, den die Technologie im Vergleich zu den Mitarbeiter/innen in den Input-Otput-Prozessen leistet.
Das soziale System, im Sinne von Arbeitsrollen, ergab sich durch die Institutionalisierung ( Kap. 1.1.2) von Produktionstätigkeiten, die das technische System vorsah (Fox, 1995).
Zu den wichtigsten Merkmalen des sozialen Systems gehören z. B. (Fox, 1995; Trist & Bamforth, 1951):
• die Organisation der Arbeitsbeziehungen als kooperativ oder kompetitiv
• die Organisation der Arbeitsbeziehung mit der Wahrnehmung einer eigenen Verantwortung für das Ergebnis versus einer Ablehnung der Verantwortung
• die Art und Weise, wie die Arbeiter/innen gemeinsam sich dafür verantwortlich fühlen, in welchem Zustand Produkte und Arbeitsergebnisse an die nächste Gruppe weitergegeben werden
• die Möglichkeit, in komplexen und simultanen Interdependenzen zu arbeiten, um Tätigkeiten in kürzerer Zeit zu erledigen oder Kontinuität zu gewährleisten
• wie die einzelne Arbeitsrolle wahrgenommen wird, und zwar nicht nur auf deren Attraktivität hin, sondern in Bezug auf Abhängigkeit versus Autonomie, gleiche Entlohnung, Unterordnung, Selbstwert, Vertrauen, einschränkende Faktoren und Isolation von anderen
• das Ausmaß, in dem Aufgabeninterdependenzen durch die sozialen Beziehungen in der Gruppe koordiniert werden, im Gegensatz zu anderen Formen (wie Freundschaft)
Der sozio-technische Systemansatz hatte und hat primär die Gestaltung von Arbeitssystemen (»primary work system«) im Fokus, deshalb soll auf diese im Folgenden besonders eingegangen werden. Bei der Gestaltung von Arbeitssystemen wird ein Action Research-Ansatz genutzt (Trist, 1981). Action Research ( Kap. 2) beinhaltet eine kollaborative Analyse, Gestaltung und Implementierung von Veränderungen durch die Personen, die davon unmittelbar betroffen sind (Arbeiter/innen, Vorgesetzte und Spezialisten), mit dem Ziel der gemeinsamen Optimierung der Bedarfe des technischen und sozialen Systems (Fox, 1955).
Es entwickelte sich dabei ein Set von Prinzipien, auf dem die Arbeitsgestaltung aufbauen kann, sodass es zu einer gleichsamen Optimierung (joint optimization) von sozialem und technischem System kommen kann. Dazu nahm man auch die Unterscheidung in intrinsische und extrinsische Dimensionen der Arbeitszufriedenheit nach Herzberg et al. (1959) zu Hilfe, die sich zu dieser Zeit ebenfalls entwickelte. Zu den extrinsischen Merkmalen der Arbeit gehört die faire und gleichartige Bezahlung, die Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitssicherheit, Gesundheitsaspekte und die sozio-ökonomischen Bedingungen der Anstellung. Zu den intrinsischen Merkmalen gehören die Vielfalt und Herausforderungen der Tätigkeit, kontinuierliche Lernmöglichkeiten, Autonomie, Wertschätzung und Unterstützung, Bedeutsamkeit der Aufgabe und die Tätigkeit an sich mit ihren psycho-sozialen Aspekten (Trist, 1981, S. 30).
Diese Merkmale sind jedoch zu wenig spezifiziert, um sie als Prinzipien der Arbeitsgestaltung zu nutzten. Deshalb wurden diese Merkmale direkt mit objektiven Merkmalen von industriellen Tätigkeiten verbunden. Dazu gehören: eine optimale Vielfalt und Abwechslung an bedeutsamen Tätigkeiten, eine optimale Länge und Dauer der Einzeltätigkeiten, die Möglichkeit aus der Tätigkeit selbst Feedback über die erreichte Quantität und Qualität zu erhalten, die Verrichtung auch arbeitsvorbereitender Tätigkeiten, die Wahrnehmung, dass die für die Tätigkeiten genutzten Fertigkeiten und Fähigkeiten in der Gesellschaft positiv gewertschätzt werden sowie dass die Tätigkeiten ebenso einen Beitrag zum Kundennutzen leisten.
Es ist zu erahnen, dass sich Hackman und Oldham in ihrem Modell der Motivierungspotenziale in der Arbeit ( Kap. 6) auf diese sozio-technischen Systemmerkmale unmittelbar beziehen. Die sozio-technische Systemtheorie wiederum bezieht sich auf das kybernetische Konzept der Selbstregulation und der autonomen Gruppen als lernende Systeme (Trist, 1981).