Читать книгу Arbeits- und Organisationspsychologie - Annette Kluge - Страница 63

1.3 Die neuen Theorien: High Reliability-Organisationen und Cyber-physische Systeme High Reliability Organization

Оглавление

Organisationstheorien befassen sich mit dem Wesen von Organisationen, den Kernprozessen und Routinen, der Struktur und Führungsprozessen, deren Veränderung und ihrer Leistung ( Kap. 1.2). In den 1980er Jahren rückten zunehmend Organisationen in den Fokus von Organisationsforscher/innen, denen bis dahin keine gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt wurde: die sog. High Reliability-Organisationen (HROs). Während die meisten Organisationen nicht davon ausgehen, dass sie in eine Krise geraten, planen die HROs diese Krisen in ihr tägliches organisationales Tun mit ein (Roberts, 1989). HROs sind hoch komplexe technische Systeme (Kluge, 2014; Kluge, Nazir & Manca, 2015) in denen tausende von Variablen miteinander interagieren und die eine hohe Vernetztheit aufweisen (Kluge et al., 2015).

Bei HROs handelt es sich um Unternehmen aus Bereichen, in denen absolut fehlerfrei und damit hoch zuverlässig operiert werden muss, damit durch technische Fehlfunktionen, Fehlhandlungen oder andere technische und menschlichen Unfälle kein Schaden für Mensch und Umwelt entstehen kann, z. B. Kern- und Kohlekraft, Chemie- und Pharmaunternehmen, Organisationen aus der Luftfahrt wie Luftfahrtgesellschaften oder die Flugsicherung, militärische Organisationen oder Organisationen aus dem Gesundheitsbereich wie Krankenhäuser. HROs werden auch als »high risk«-Organisationen oder als »harzardous organizations« beschrieben.

Zuverlässigkeit umfasst drei Aspekte (Fahlbruch, Schöbel & Domeinski, 2008):

• Korrektheit (nach Vorgaben verlaufend)

• Robustheit (System kann auftretende Störungen ausgleichen)

• Ausfallsfreiheit (definierte Sicherheit gegen einen Ausfall)

Im Dezember 2014 veröffentlichte das Chemical Safety Board der US-amerikanischen Regierung eine Pressemitteilung zum 30. Jahrestag des Chemieunglücks in Bhopal, Indien, bei dem durch einen Unfall der Union Carbide-Anlage für Pestizide mehr als 3.800 Menschen unmittelbar ums Leben gekommen waren, sowie zehntausende durch die Spätfolgen (www.csb.gov, vom 2. Dezember 2014). Bhopal ist nur ein sehr tragisches Beispiel für den Schaden, der entstehen kann, wenn »high risk«-Organisationen nicht fehlerfrei operieren. Das Seveso-Unglück von 1976, das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986, die Explosion der BP-Raffinerie in Texas City 2005 oder die Explosion der Öl-Plattform Deep Water Horizon 2010 sind weitere Beispiele für die tragischen Konsequenzen für Menschen und Umwelt im Falle eines menschlichen Bedienfehlers, einer falschen Entscheidung oder von technischem Versagen.

Auch wenn einem die Bilder von derartigen Katastrophen lange im Kopf bleiben, so operieren die meisten dieser Organisationen weltweit fehlerfrei und unfallfrei. In den späten 1980er Jahren nahm das Interesse an diesen HROs zu, um aus deren Managementsystemen auch für andere Unternehmen und Organisationen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Nach La Porte und Consolini (1998) operieren HROs in drei verschiedenen Modi:

1. Der Routine-Modus. Im Routine-Modus arbeitet eine HRO wie eine normale, bürokratisch aufgebaute Organisation. Regeln und Vorschriften sowie hierarchische Über- und Unterordnungsprinzipien dominieren das »Tagesgeschäft«. Der/die Vorgesetzte weiß sehr gut, was in der Organisation vor sich geht.

2. Der High Tempo-Modus. Eine Ebene unterhalb des Routine-Modus liegt in HROs ein anderes Muster von Koordination vor. Bei steigenden Anforderungen und Belastungen, z. B. bei Gewitter und Schneetreiben an einem Tag der Flugsicherung in Frankfurt, wechselt eine HRO in den High Tempo-Modus. Die traditionelle Bürokratie tritt zur Seite und die fachliche Kompetenz der Operateure vor Ort (im Beispiel der Flugsicherung die der Fluglotsen) tritt in den Vordergrund, da die Vorgesetzten selbst zu wenig wissen, um in solchen sehr anspruchsvollen Situationen sinnvoll einzugreifen. Im High Tempo-Modus zählt Professionalität der Operateure mehr als hierarchischer Status.

3. Der Emergency Response-Modus. Im Emergency Response-Modus operiert die Organisation auf Basis der eindeutigen Spezifikationen von Notfällen (emergencies). Verantwortlichkeitsstrukturen sind vordefiniert und vorprogrammiert und werden auf der Basis von geskripteten Teamworkprozessen in sofortigen Handlungen und Aktivitäten ausgeführt.

HROs können somit als Organisationen mit verschiedenen Handlungsebenen beschrieben werden (»multi-layered, nested complexity«, La Porte & Consolini, 1998, S. 852). Es gibt also nicht nur eine organisationale Struktur, sondern mehrere, jeweils für den Routine-, den High Tempo- und den Emergency Response-Modus. Entscheidungen werden je nach Modus zentral oder dezentral gefällt.

Neben einer hohen Automatisierung technischer Prozesse als Voraussetzung für den Routine-Modus, z. B. im Kraftwerks- oder Chemiesektor, sowie einer hoher Standardisierung von Abläufen anhand von Standard Operating Procedures (SOPs, Kluge, 2014) haben diese HROs Handlungsweisen und Führungsmethoden entwickelt, die sie in die Lage versetzen, das »Unerwartete« besser zu bewältigen als die meisten anderen Organisationen (Weick & Sutcliffe, 2003). Diese Handlungsweisen und Führungsmethoden basieren auf dem Konzept der Achtsamkeit (Mindfulness, Weick & Sutcliffe 2003; Weick, Sutcliffe & Obstfeld, 2008). Die Organisation besitzt eine ausgeprägte Fähigkeit, Fehler zu entdecken und zu berichtigen, ehe sie zu einer Krise eskalieren können.

HROs zeichnen sich zudem durch eine Achtsamkeits-Kultur aus. Standardprozeduren (SOPs) können das Verhalten und die Motivation für diese Form der zuverlässigen Zusammenarbeit nicht im Detail beschreiben, sondern es entwickelt sich eine besondere Kultur ( Kap. 3). Die Kultur enthält die Werte und Normen, auf denen die Zusammenarbeit in HROs beruht (La Porte, 1996). Abbildung 1.11 fasst die wesentlichen Merkmale von HROs nach Lekka (2011) und Lekka und Sugden (2011) zusammen ( Abb. 1.11).


Abb. 1.11: Merkmale von High Reliability-Organisationen (nach Lekka (2011) und Lekka & Sugden (2011))

Es lässt sich zusammenfassen, dass die Arbeiten zu HROs im engeren Sinne keine eigenständigen Organisationstheorien darstellen, sondern spezielle Fälle von Organisationen betrachten, die mit ihren Prinzipien der Achtsamkeit als Vorbild auch für andere Organisationen dienen können. Im Sinne von Huber (2011) interessieren sich Organisationsforscher/innen für die Gesamtheit der HROs und arbeiten mit Methoden der Organisationsforschung heraus, wie diese Gesamtheit von Organisationen ihr Ziel der hohen Zuverlässigkeit erreicht.

Auf HROs wird noch einmal im Kapitel Arbeitspsychologie / Safety Management ( Kap. 6) zu sprechen kommen.

Arbeits- und Organisationspsychologie

Подняться наверх