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Organisationen als cyber-physische Systeme

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Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie kommen in eine Fertigungshalle eines Automobilhersteller. Sie sehen keine Fließfertigung oder Fließbänder. Die zu fertigenden Fahrzeuge suchen sich ihren Weg durch die Produktionsschritte und Prozessmodule selbst. Ein Fahrzeug wird ab dem ersten Fertigungsschritt als flexibles Vernetzungsvehikel genutzt (Bauernhansl, 2014), denn es ist ein cyber-physisches System (CPS, Erklärung unten). Solch ein Fahrzeug ist ebenso ein »Smart Product«: Es kennt seine Eigenschaften, und weiß, wie es gefertigt werden will oder mit welchen anderen Produkten (Teilen einer Maschine oder Anlage) es verbunden werden kann. So kann es selbstständig bei den Prozessmodulen anfragen, welches denn gerade Zeit hat (Kluge & Hagemann, 2016). Sie sehen zudem Produktionsmitarbeiter/innen, die ihren Tablet-PC vor eine Anlage halten und denen durch Formen der Augmented Reality (computergestütztes Überblenden oder Erweitern eines Ausschnitts der Realität, z. B. ein Kamerabild mit zusätzlichen Informationen) auszutauschende Komponenten angezeigt werden. Zudem sehen Sie Personen, die mit Hilfe von über eine Datenbrille angezeigten Reparaturanweisungen Komponenten austauschen.

Cyber-physische Systeme (CPS) sind im umfassenden Sinne Objekte, Geräte, Gebäude, Verkehrsmittel, aber auch Produktionsanlagen und Logistikkomponenten. Sie enthalten eingebettete Systeme, die kommunikationsfähig gemacht werden, d. h. die Daten über ihren eigenen Zustand senden können und Daten über andere Fertigungskomponenten oder Anlagen empfangen können. Der Begriff »eingebettetes System« bezeichnet ein Rechner- oder Computersystem, welches Teil eines größeren technischen Systems ist. Dabei übernimmt das eingebettete System Regelungs- oder Datenverarbeitungsaufgaben, die zum Betrieb des größeren technischen Systems notwendig sind. Eingebettete Systeme sind bisher meist limitiert in Rechenleistung und Speicherkapazität, da sie in der Regel kostengünstig produziert werden müssen. Diese eingebetteten Systeme können zukünftig auch die Kommunikation mit anderen Systemen übernehmen. Sie kommunizieren über Internetverbindung und nutzen Internetdienste (Bauernhansl, 2014; Gronau, 2015; Monostori, 2014; Sendler, 2013). Cyber-physische Systeme können ihre Umwelt unmittelbar mit ihrer entsprechenden Sensorik erfassen, mit Hilfe weltweit verfügbarer Daten und Dienste auswerten, speichern und mit Hilfe von Aktoren (zum Ergreifen und Bearbeiten von Gegenständen; Aktoren sind Gegenstücke zu Sensoren) auf die physikalische Welt einwirken (Bauernhansl, 2014; Gronau, 2015; Monostori, 2014). Unser Fahrzeug als CPS könnte dementsprechend sowohl lokal als auch global verfügbare Daten und Dienste (Internet der Menschen, Internet der Dinge, Internet der Dienste) integrieren und nutzen (Kluge & Hagemann, 2016). Es würde über eine Reihe multimodaler Mensch-Maschine-Schnittstellen verfügen, um mit anderen technischen Komponenten zu kommunizieren und die eigene Produktion zu koordinieren und dafür ebenfalls unterschiedliche Möglichkeiten bereitstellen, mit den Produktionsmitarbeiter/innen über z. B. Sprache und Gesten zu kommunizieren (Vogel-Heuser, 2014).

Das Fahrzeug aus unserem Beispiel kann somit als kommunizierendes cyber-physisches System sehr früh auf die eigenen vier Räder gestellt werden und fährt eigenständig von Prozessmodul zu Prozessmodul (Bauernhansl, 2014). Solange das Fahrzeug noch keine eigene Fortbewegungsmöglichkeit hat (also Getriebe und Motor fehlen), wird es von einem fahrerlosen Transportsystem mit E-Antrieb transportiert, das ebenfalls ein cyber-physisches System ist und sich autonom und selbständig den Weg durch die Prozesslandschaft suchen kann. In diesen Prozessmodulen werden u. a. kundenindividualisierende Fertigungsschritte integriert, beispielsweise die Innenausstattung, die der/die Kunde/in sich über einen webbasierten Konfigurator zusammengestellt hat.

Wenn Sie in einer solchen Produktionshalle stehen, dann sind Sie mitten in einem cyber-physischen Produktionssystem (CPPS, Monostrori, 2014). CPPS basieren auf der aktuellsten Entwicklung der Computer-Wissenschaft (CS, Computer Science), der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) und der Fertigungswissenschaft und Technologie (MST, Manufacturing Science and Technology).

Ein CPPS besteht aus autonomen und kooperativen Elementen und Subsystemen, die miteinander situationsabhängig in Kontakt treten. Sie kooperieren über alle Produktionsebenen hinweg, vom Prozess der Maschinen zum Prozess der Logistik und wieder zurück (Monostori, 2014). und ermöglichen dies durch neue Formen der Kommunikation zwischen Menschen, Maschinen und Produkten.

Aber warum wollen Unternehmen das 100-jährige Erfolgsprinzip von »Band & Takt« aufgeben, um ein cyber-physisches Produktionssystem zu verwenden? In der Automobilindustrie, an der sich, ähnlich wie in der Textilindustrie, technologische Entwicklungen sehr gut nachvollziehen lassen, wurde in den letzten Jahren intensiv an der Optimierung der Produktivität und der Beherrschung von Variantenvielfalt der Produkte gearbeitet (Bauernhansl, 2014). Es wird gesagt, dass Kund/innen einen SUV im Premiumsegment in ca. 1 Mio Varianten bestellen können. Das war zu Beginn der Fließfertigung in der Automobilindustrie nicht der Fall. Henry Fords Aussage: »Sie können das Ford T-Modell in jeder Farbe erhalten, Hauptsache es ist schwarz« verdeutlicht, dass Massenproduktion mit Hilfe der Fließfertigung mit einer kompletten Standardisierung der Produktion begann. Die Wertschöpfungsstrukturen haben sich in den letzten hundert Jahren in den traditionellen Fertigungsbereichen wie eben der Automobilfertigung kaum verändert. »Band und Takt« sind der Kern und der Pulsschlag der Produktion, vorherrschend sind immer noch die tayloristischen Prinzipien der Arbeitsteilung (Bauernhansl, 2014), auch wenn sich die Koordinationsmechanismen nach der zweiten Revolution im Automobilbau (Womack, Jones & Roos, 1990) schlanker gestalten und teilautonome Gruppenarbeit die Hierarchiestufen deutlich reduzieren. Die Fließfertigung aber stellte die Lean Production nicht in Frage. Da mit der Festlegung des Taktes auch die Produktionsmenge und die Flexibilität definiert werden, limitiert die Verkettung der Wertschöpfungsschritte die Anzahl der Varianten und die Variantenflexibilität (Bauernhansl, 2014).

Was bedeutet es für ein Unternehmen, von einem Fahrzeugmodell eine Millionen Varianten fertigen zu können? Eine Möglichkeit wäre, Unikate in Handarbeit zu fertigen, wie dieses in den 1850er Jahren noch der Fall war (Kluge & Hagemann, 2016). Aber die zu fertigende Stückzahl ist damit begrenzt und der Fertigungspreis sehr hoch, wie man an in Teilen handgefertigten Fahrzeugen wie einen Lamborghini oder Ferrari sieht. Henry Ford zeigte, dass Stückpreise durch Massenfertigung gesenkt werden können, aber nur, wenn diese hochstandardisiert ist. Zum Lifestyle der Automobilkunden/innen gehört in den 2010er Jahren jedoch, dass man ein individuelles Fahrzeug zur symbolischen Selbstergänzung (Gollwitzer, Bayer & Wicklund, 2002; Oerter, 2007) und zugleich zu einem prinzipiell erschwinglichen Preis erwerben will. Das erfordert eine kundenindividuelle Massenfertigung (Bauernhansl, 2014).

Durch CPPS soll nun kundenindividuelle Massenfertigung möglich werden, indem Band und Takt entkoppelt werden (Bauernhansl, 2014). Statt Band und Takt setzt man auf flexibel vernetzbare, skalierbare Prozessmodule in einem Produktionsraum, die sich selbst organisieren. Sich selbst organisierende System haben den Vorteil, dass sie die innere Komplexität eines Unternehmens reduzieren, da der Steuerungs- und Koordinierungsaufwand für menschliche Planung abnimmt. Ziel ist es, Prozessmodule oder sog. cyber-physische Produktionsfraktale zu kreieren, die mit flexiblen Transportsystemen vernetzt werden können, damit sie ihren Weg durch die Produktionsmodule selbstständig aushandeln (Bauernhansl, 2014). Denn wenn Band und Takt entkoppelt werden, kann jede Variante einen anderen Weg durch den Produktionsraum nehmen und je nach Variante unterschiedliche Prozessmodule anfahren. Dabei können Prozessmodule unterschiedliche Takte haben. Prozessmodule können zudem lernen, welcher Weg der günstigste ist und Takte können verlängert oder verkürzt werden, je nachdem, wie häufig sie aufgrund eines Wochenproduktionsprogramms angefahren werden.

Es wird deshalb erwartet, dass CPPS es ermöglichen, auf die Anforderungen an Unternehmen, die aus der inneren und äußeren Komplexität des Marktes entstehen, adaptiv zu reagieren. Wie in dem Beispiel der eine Millionen Varianten eines Premium-SUVs angedeutet, versuchen sich fertigende Unternehmen mit Hilfe von CPPS auf die Märkte, Kund/innen, Produktvarianten, Materialien, Prozesse, Fertigungstechnologien und auch Standorte mit möglichst hoher Flexibilität einzustellen und Anforderungen, die hinsichtlich des Marktes in Punkte Wandel, Flexibilität und Produkte entstehen, bedienen zu können.

CPPS haben also das Ziel, die externe und die interne Komplexität auszubalancieren und über die unterschiedlichen Veränderungen hinweg das Gleichgewicht zu halten. Der Vorteil und erhoffte Erfolg der Ausbalancierung basiert dabei auf einer nächsten Stufe der Dezentralisierung und Autonomie (die vorherigen Stufen waren z. B. Automatisierung oder teilautonome Gruppenarbeit), die autonom verhandelnde CPS beinhaltet, die Produktionswege und -kapazitäten unter sich aushandeln, um auf die interne und externe Komplexität angemessen zu reagieren (Bauernhansl, 2014). Damit wird es möglich, sehr stark individualisierte Produkte in kleinen Stückzahlen (bis zur Stückzahl eins) bei einer hohen Ressourcenproduktivität und mit einer entsprechenden Geschwindigkeit fertigen zu können.

CPPS werden auch unter dem Schlagwort Industrie 4.0 geführt, der vierten industrielle Revolution (Bauernhansl, 2014; Dombrowski & Wagner, 2014; Monostori, 2014; Sendler, 2013). Als industrielle Revolution wird eine grundlegende, tiefgreifende und dauerhafte Veränderung der technischen, ökonomischen und sozialen Systeme und damit die Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, der Arbeitsbedingungen und Lebensumstände bezeichnet (Dombrowski & Wagner, 2014; Sendler, 2013).

Die erste Revolution bezieht sich auf die Erfindung der Dampfmaschine (1712) und die Mechanisierung der Textilindustrie 1780 (Bauernhansl, 2014; Dombrowski & Wagner, 2014; Monostori, 2014; Sendler, 2013, Kap. 1.3.1). Die zweite industrielle Revolution (ab ca. 1870) begann mit der Einführung der arbeitsteiligen Massenproduktion (Taylorismus, Fordismus) mit Hilfe elektrischer Energie mit einer hohen Standardisierung der Fertigung und der Produkte. Die dritte industrielle Revolution begann ab ca. 1960, da Elektronik und Informationstechnologien automatisierungsgetriebene Rationalisierung und variantenreiche Serienproduktion ermöglichten. Die vierte Revolution kombiniert nun physikalische Operationen mit Informationstechnologien (Dombrowski & Wagner, 2014) mit der Absicht, dezentralisierte Entscheidungsprozesse (z. B. des Fahrzeugs im Beispiel oben) und sich selbst steuernde Schleifen (loops) in den Produktionssystemen agieren zu lassen.

Warum ist das Thema Industrie 4.0 in Deutschland so stark? Die Gedankenwelt um das Thema Industrie 4.0 resultiert originär aus dem Zusammenspiel zweier Trends: erstens die Bedeutung der industriellen Produktion für den Wirtschaftsstandort Deutschland, und zweitens die fortschreitende Miniaturisierung und Integration von Computerchips, die die Vorstellungen zu »Ubiquitous Computing« umsetzen können (Schlick, 2014). »Ubiquitous Computing« steht für die Einbettung von Rechnersystemen in Alltagsgegenstände, wie z. B. in Armbändern, Uhren, Brillen, Kühlschränken, Schlüsseln. Sie sind für den/die menschlichen Nutzer/in nicht mehr direkt wahrnehmbar (da sie in den Produkten verbaut sind) und werden in Alltagsgegenständen unserer Umgebung aufgehen (Schlick, 2014).

Durch »Band und Takt« wurde auch menschliche Arbeit koordiniert – welche Arbeitsplätze bleiben in cyber-physischen Produktionssystemen?

CPPS ermöglichen neue Kommunikationsformen zwischen Menschen, Produkten und der Fertigungstechnologie. Der/die Produktionsmitarbeiter/in ist über multimodale Mensch-Maschine-Schnittstellen mit den CPS (cyber-physischen Systemen) verbunden und kann auf diese zum Beispiel über Sprache, Touch-Displays und Gesten einwirken. Man vermutet, dass es zu einer Ablösung klassischer Architekturen und Automatisierungsgeräte, wie SPS (Speicherprogrammierbare Steuerungen), durch heterogene, aus dem Consumer-Markt stammende, beliebige Hardware-/Softwareeinheiten kommen wird (Vogel-Heuser, 2014). Es gibt das Zukunftsbild des »augmented operator« als Dirigent/in der Wertschöpfung (Bauernhansl, 2014), der/die in den CPS-Modulen vom/von der ausführenden zum/zur bewertenden, entscheidenden Mitarbeiter/in wird, der/die von technischen Assistenzsystemen Unterstützung erhält und »zaunlos« mit Robotern kooperieren kann. Mobile Tablet-Computer aus dem Consumer-Bereich bieten hier heute schon neue Möglichkeiten (Vogel-Heuser, 2014). Tablet-Computer können über vielfältige Schnittstellen (z. B. Bluetooth, USB, WLAN) in CPS eingebunden werden und sind mit Kameras und ausreichend hoher Rechenleistung ausstattbar. Es gibt bereits anschauliche Beispiele für Anwendungen (Kluge & Hagemann, 2016):

a) zur mobilen Bedienung (man kann mit dem Tablet in der Produktion umhergehen und eine Maschine auch aus der Ferne, bspw. über das Internet, bedienen),

b) als mobile Informationsplattform (anstelle von festen Stationen oder Computerterminals, die mit einer Maschine physisch verbunden sind und Informationen über diese bereitstellen),

c) in Form der Augmented Reality (computergestütztes Überblenden oder Erweiterung eines Ausschnitts der Realität (Vogel-Heuser, 2014) die den »augmented operator« unterstützen können).

Aktuell werden Überlegungen formuliert, wie die Unterstützung der Mitarbeiter/innen in der Mensch-Maschine-Schnittstelle im Zuge von Industrie 4.0 auf Basis von cyber-physischen Systems aussehen kann (Mayer & Pantförder, 2014; Schließmann, 2014; Spath, 2014). Ein relevanter Aspekt ist dabei, aus den zur Verfügung stehenden unzähligen Daten der Systeme für die verschiedenen Rollen (eine Rolle kann z. B. Operateur/in, Qualitätssicherung, Einrichter/in, Lagerist/in sein) in einem Unternehmen die nutzbringenden Informationen zu generieren und die neu gewonnenen Informationen in geeigneter Form und integriert darzustellen. So können die Vorgänge im Prozess für die Menschen transparent und nachvollziehbar gestaltet, die Informationen für die unterschiedlichen Displaygrößen (Smartphone, Tablet, Monitor) geeignet aufbereitet und für unterschiedliche Betriebssysteme bereitgestellt werden (Plattformunabhängigkeit), z. B. durch 3D-Prozessvisualisierung, Touch Interaction und Gestensteuerung, Augmented Reality oder Social Network-Informationssysteme.

Wie oben bereits eingeführt, ist die Informationsaggregation und -aufbereitung für den Menschen (Vogel-Heuser, 2014) eine wesentliche Herausforderung der CPPS in der Industrie 4.0. Dies gilt für die Unterstützung im Engineering durch Assistenzsysteme ebenso wie für die Bereitstellung der Vielzahl von Daten für den/die Operateur/in, Wartungsmitarbeiter/innen oder Betriebsleiter/innen einer Produktionseinheit und die in dieser Produktionseinheit betriebenen Geräte. Es geht also nicht darum, alle vorhandenen Daten anzuzeigen, sondern Zusammenhänge zwischen diesen Daten herzustellen. Die Daten sollten gefiltert, geclustert und in ihren Zusammenhängen je nach Nutzer/in als Informationen dargestellt werden können (Vogel-Heuser, 2014).

Die Assistenzsysteme sollen dem Menschen geeignete Interaktionsformen anbieten, um in diesen Informationen zu suchen, die aufgabenbezogenen Entscheidungen daraus vorzubereiten oder aufgrund dieser Informationen Eingriffe zu planen. Diese Daten sind abhängig von der Aufgabe, die der Mensch gerade erfüllt, von seiner Rolle, in der er dies tut und von der Umgebung – so können Randinformationen aufbereitet und dargestellt werden unter Berücksichtigung der individuellen personenbezogenen Unterschiede. Individuelle personenbezogene Aspekte können z. B. altersdifferenzierte Darstellungs- und Interaktionskonzepte sein, ebenso wie Informationsaufbereitung abhängig von der Erfahrung oder Akzeptanz von mobilen Geräten (Vogel-Heuser, 2014).

Arbeits- und Organisationspsychologie

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