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»Haben Sie die Neuigkeiten schon gehört?« fragte Darlene nun schon zum zweitenmal. Die Schutzmaske über Nase und Mund und das Hämmern eines Schlagbohrers machten es schwer, sie zu verstehen. Das Gerippe der neuen Treppe schien im Moment noch ins Nichts hinaufzuführen. Irgendwann sollte sie in den ersten Stock ihres Sandsteinhauses an der Ostseite der 49th Street führen. Dort würden dann ihre Büros liegen. Wetzon stand auf der dritten Stufe und betrachtete den Schmutz. Selbst ihre schwarzen Lackschuhe trugen einen Schleier aus Gipsstaub.

Smith hatte ihren Willen durchgesetzt. Darlene Ford einzustellen war ein Glücksfall von ungeahnten Ausmaßen gewesen.

»Wirklich, Zuckerstück«, hatte Smith auf Wetzons Zögern hin geantwortet, »es ist unerheblich, wie der Markt sich entwickelt. Wir können die Erweiterung unserer Büroräume doch abschreiben, und wir haben unserem Besitz eine Wertsteigerung angedeihen lassen.«

Wahrscheinlich hatte sie recht. Gleich nach der Gründung ihrer Firma hatten sie das Erdgeschoß des Sandsteingebäudes gekauft. Als der ursprüngliche Besitzer das Gebäude während der Rezession vor drei Jahren zum Verkauf anbot, hatten sie damit ein Schnäppchen gemacht. Zu diesem Zeitpunkt waren Immobilien in der Stadt am billigsten gewesen. Doch wie immer ließ der Aufschwung nicht lange auf sich warten.

Ruth Abramson, ihre Steuerberaterin, hatte Smith zugestimmt. Deshalb litten sie jetzt die Todesqualen einer Kernsanierung.

Wetzon hatte darauf bestanden, daß ihre Freundin Louise Armstrong die baulichen Veränderungen vornehmen sollte. Doch dann stellte sich heraus, daß Louise, eine Künstlerin, die sich durch Auftragsarbeiten über Wasser hielt, gerade damit beschäftigt war, ihre erste Ausstellung vorzubereiten. Smith hatte die Noonan Brothers ausfindig gemacht. Die drei Brüder hatten die Renovierungspläne bei der Stadt eingereicht. Nachdem der Antrag genehmigt worden war, hatte man den Durchbruch zum darüber liegenden Stockwerk aufgestemmt, wobei lediglich einer Steigleitung kleinere Schäden zugefügt worden waren. Dann hatten sie den Rahmen der Treppe errichtet und sich anschließend abgesetzt, um sich einem anderen Job zu widmen. Zumindest nahm Wetzon das an, denn sie kehrten nur jeden dritten bis vierten Tag hierher zurück, um mal wieder einen Tag lang zu arbeiten. Zweifellos knirschte ein anderer Kunde in der Stadt ebenso mit den Zähnen wie Wetzon.

Mit gemischten Gefühlen blickte sie auf ihre Kollegin hinab. Zusätzlich zu der Gesichtsmaske trug Darlene einen grünen Chirurgenkittel über ihrem Kleid und eine durchsichtige Duschhaube aus Plastik über ihrem dichten blonden Haar. Was immer sie mit diesem Look beabsichtigt hatte, der erste Eindruck war nicht: Darlene Ford, Chirurgin, sondern Darlene Ford, Müllsack.

Darlenes Eintritt in die Firma im vergangenen Herbst war ein kleines Wunder gewesen. Smith hatte sie Tom Keegen weggeschnappt, ihrem größten und finanzkräftigsten Konkurrenten unter den Personalberatungsfirmen an der Wall Street, die – wie sie selbst – ständig auf der Jagd nach Brokern waren.

Das Geschäft befand sich in der Flaute, denn Kunde um Kunde verschwand einfach von der Bildfläche. Und so merkwürdig sie auch sein mochte, Darlene hatte zweifellos eine ganz besondere Gabe. Sie konnte auch den zögerndsten Börsenmakler überreden, ein Gespräch mit einer in Frage kommenden Firma zu vereinbaren. Und ein erstes Gespräch war, als ob man beim Autohändler eine Probefahrt machte: Man war fast schon bereit, den Wagen zu kaufen – oder, wie in diesem Fall, den Arbeitsplatz zu wechseln. »Unsere pausbäckige kleine Diamantmine«, nannte Smith sie, obwohl sie ihr das natürlich nie direkt ins Gesicht sagte. Smith war hoch erfreut gewesen, als Darlene zu ihnen gestoßen war; Wetzon dagegen hatte die vorherige Intimität ihrer hübschen kleinen Firma sehr geliebt, denn Darlene hatte die Atmosphäre verändert, das stand fest.

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie die Neuigkeiten schon gehört haben?« wiederholte Darlene – ihre Stimme klang eine winzige Spur verärgert.

»Was für Neuigkeiten?« Darlene bewahrte nach wie vor Haltung; man konnte es nicht genau festmachen, man nahm nur den leisen Hauch von etwas anderem wahr, doch Darlene gelang es immer, ihre wahren Gefühle letztlich doch vor einem zu verbergen.

»Vorsicht! Vorsicht!« Das Kreischen des Bohrers hörte auf, ein donnernder Krach folgte, dann das brutale Geräusch, wenn Metall gegen Metall schlägt. Mörtel und Staub regneten auf sie herab.

»Scheiße!« rief jemand. »HasteeigentlichnenverrücktenVogel oder so was, Herbie?«

Wetzon kam die Treppe wieder herunter und klopfte ihre Kleider ab: »Irgend jemand ist wohl verrückt, oder so was«, murmelte sie und bahnte sich einen Weg durch die Plastikfolien hin zu ihrem Schreibtisch. Dann hob sie die staubige Folie, die den Kalender und die Fahndungsbögen – auf denen die persönlichen und beruflichen Daten potentiell zu vermittelnder Broker verzeichnet waren – bedeckte. Staub und Schmutz glitten auf den Boden und verloren sich in dem Dreck, der sich dort ohnehin bereits angesammelt hatte. Sie hätte heute schwänzen sollen – wie Smith. Aber sie hatte das alles andere als lächerliche Gefühl, daß die Arbeiter gar nicht auftauchten, wenn sie sich nicht ebenfalls hier blicken ließ. Vielleicht bewirkte sie ja, daß alles schneller ging, wenn sie jeden Tag herkam, so daß sie sie sahen. Sicher, Wetzon, aber denk doch noch mal darüber nach!

»Sind Sie bereit?« fragte Darlene.

»Rücken Sie schon raus damit, Darlene«, sagte Wetzon.

»Loeb Dawkins hat Abe Gershman aus dem Großen Gebrüll entlassen, weil er ihm zu jüdisch klang.«

Abe Gershman war National Sales Manager, Verkaufsleiter also, bei Loeb Dawkins. Gershmans Aufgabe bestand darin, den Wertpapierverkauf von New York aus zu koordinieren. Die Gebote wurden über das ganze Land an alle Zweigstellen weitergeleitet, und das nannte man liebevoll das ›Große Gebrüll‹.

Der National Sales Manager eines Broker-Hauses spielte die Rolle des obersten Coach, sagte den Brokern, was sie kaufen und verkaufen sollten, welche Aktien und Wertpapiere die Firma pushen wollte.

»Zu jüdisch?« fragte Wetzon. »Doch wohl offensichtlich zu new-yorkisch.«

»Er klang wie eine Ausrede«, erwiderte Darlene. »Ich denke, in Dubuque läuft nicht alles zum besten.«

»Meiner Meinung nach läuft da vieles nicht zum besten, insbesondere mit diesen konservativen Typen von Mather & Company, die Loeb Dawkins letztes Jahr angeheuert hat. Wahrscheinlich bekommen die für ihre Arbeit bestenfalls einen lauwarmen Händedruck.«

»Dwight Whitcomb.«

»Perfekt.« Dwight Whitcomb war ein überaus höflicher Mensch. Noch höflicher, und er hätte an der Wall Street nicht überleben können. Er schwamm immer noch oben, weil seinem Vater eine geradezu unanständige Menge Aktien von Loeb Dawkins gehörte.

»Vielleicht werde ich Abe mal anrufen«, meinte Wetzon leichthin.

»Ich habe bereits mit ihm gesprochen.« Darlenes Augen blitzten. »Er läßt Sie herzlich grüßen.«

»Wie nett.« Wetzon mußte noch daran arbeiten, ebenso höflich wie Dwight Whitcomb zu werden.

»Ich wußte, daß Sie Verständnis haben würden«, sagte Darlene.

O ja, natürlich, dachte Wetzon. »Und will Abe jetzt irgend etwas unternehmen?«

»Noch nicht. Ich habe vorgeschlagen, daß wir zusammen einen trinken gehen ...«

»Es wird schwer sein, ihn unterzubringen, Darlene. Kein Buch. Er würde als Zweigstellenleiter arbeiten müssen, und das wäre aus seiner jetzigen Position heraus ein ziemlicher Rückschritt. Wir müssen darüber nachdenken.« Börsenmakler, die zum Manager bei großen Broker-Häusern mit weitverzweigtem Filialnetz, den sogenannten Kabelhäusern, aufstiegen – so genannt, weil die Niederlassungen über ein elektronisches Kommunikationssystem in Verbindung stehen –, gaben ihre Bücher auf, was bei der momentanen allgemeinen Lage ziemlich gefährlich war. Als ›Bücher‹ bezeichnete man Loseblattsammlungen, in denen die Aktienbestände der Kunden und ihr angemeldetes Kauf interesse verzeichnet waren. Damit bildeten sie das wertvollste Arbeitswerkzeug des Börsenmaklers. Zweigstellenleiter waren ersetzbar, erst das ›Buch‹ gab einem Macht. Ohne ›Buch‹ war man nichts.

Als das Telefon klingelte, eilte Darlene schnell in ihr winziges Büro zurück, um den Hörer abzunehmen.

Max, der bei Smith und Wetzon nicht nur für den Empfang, sondern auch für die Telefonakquisition zuständig war, würde nicht vor elf Uhr da sein. Max war früher Buchhalter gewesen, trug ausschließlich Schuhe mit Gummisohlen und zeigte sich stets als äußerst gründlicher Mitarbeiter. Er war gegen Smith’ – oder Darlenes – magnetisches Spannungsfeld des wandelnden Irrsinns immun.

Wetzon blickte sich in den Trümmern ihres Büros um, dem Zimmer, das Smith und sie nun seit über zehn Jahren miteinander geteilt hatten. Fortan sollte Darlene einen Teil dieses Raums bekommen, und Smith und Wetzon würden im ersten Stock in einem brandneuen Büro residieren. In dieser Etage hatte bis Januar ihr Mieter, ein Antiquar, der mit seltenen Büchern handelte, gewohnt.

Wetzon würde dieses Zimmer, dessen Fenster zum Garten hinaus gingen, vermissen. Natürlich blieb es auch jetzt noch ihr Garten, allerdings ließ Smith eine Terrasse bauen, von der aus man ihn überblicken konnte. Eine Außentreppe sollte nach unten führen. Die Firma Smith and Wetzon verwandelte sich allmählich in Smith’ seit langem gehegten Traum: ein zweistöckiges Haus. Die Lakaien würden im unteren Stockwerk schuften. Es war genau, wie es sein sollte.

Wetzon zog die Plastikfolie herunter, die über ihren Stuhl drapiert war, und sah, daß der Staub einfach alles durchdrungen hatte. Fahndungsbögen und Gesprächsnotizen mit Brokern waren gleichermaßen mit einer feinen weißen Schicht bedeckt. Mit einem Papiertaschentuch staubte sie ihren Stuhl ab und nieste.

Als Smith sie an diesem Morgen angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, daß sie nach Westport in ihr Haus fahren und es Wetzon überlassen würde, sich um das Chaos im Büro zu kümmern, hatte Wetzon nicht erwähnt, daß The Groaning Board an die Börse gehen wollte. Smith liebte Insider-Informationen, besonders dann, wenn sie glaubte, damit Geld verdienen zu können. Wahrscheinlich hätte Wetzon A. T. Barron anrufen sollen, um die Umschläge auszutauschen, aber sie war neugierig. Sie konnte Smith auch später noch damit quälen, nachdem sie mit Laura Lee Day gesprochen hatte.

Der ›Markt‹ war in diesem Jahr immer heißer geworden. Selbst alteingesessene Firmen, die sich seit Jahrzehnten in Privatbesitz befanden – wie etwa Estée Lauder –, entschlossen sich, Aktien auszugeben. Dieser Schritt war besonders attraktiv für Firmenbesitzer mittleren Alters, weil sie damit eine Menge Kapital flüssig machten.

»Hi, Schatz, was brennt an?« Laura Lees sanfter, beschwingter Südstaatenakzent ergoß sich in ihr Ohr.

»Was anbrennt, Schatz? Nun ja, The Groaning Board, Herzblatt«, erwiderte Wetzon.

Es folgte ein langes Schweigen, das mit jeder Sekunde bedeutungsschwangerer wurde.

Wetzon lächelte, gab aber keinen Millimeter nach. Schweigen machte den Menschen angst, drängte sie, die Leere zu füllen, normalerweise mit Informationen, die sie eigentlich gar nicht mit anderen teilen wollten.

»Also«, sagte Laura Lee schließlich, »gibt es denn an der Wall Street gar keine Geheimnisse mehr?«

»Keine.«

Noch mehr Schweigen. Wetzon preßte die Lippen aufeinander und wartete, bis Laura Lee wieder etwas sagte.

»Ich wollte um fünf Uhr heute nachmittag in der Bar des Oceana etwas trinken gehen. Warum kommst du nicht vorbei und flüsterst mir ins Ohr, woher du das weißt, Ms. Leslie Wetzon, Schatz?«

»Ich schau mal eben in meinen Kalender.« Wetzon zählte bis fünfzehn. »Ja, das könnte ich einrichten.«

»Du bist dir bewußt, daß du mir gerade auf seltsame Weise mitgeteilt hast, daß du etwas weißt, das fast niemand an der Wall Street weiß. Ich möchte unbedingt alles darüber erfahren.«

»Wir sehen uns dann um fünf.«

»Wetzon, warte einen Augenblick. Ich möchte, daß du mir versprichst, niemandem davon zu erzählen. Das schließt vor allem Du-weißt-schon-wer-mit-dir-das-Büro-teilt mit ein. Für diese Insider-Information würden manche Menschen einen Mord begehen, Schatz.«

Ophelia im Hudson River

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