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»Ständig wird man vor Unfällen im Haus gewarnt, aber bei dem, wie es auf den Straßen der Großstadt heutzutage zugeht, hält man es nie für möglich, daß einem selbst oder den Kindern im eigenen Haus etwas Schreckliches zustoßen könnte.«

Artie Metzgers Schwiegermutter war eine stattliche, attraktive Frau, sogar mit ihren jetzt traurigen und rot geränderten Augen. Ihr Haar war etwas zu golden und ihre Nägel etwas zu lang und etwas zu rot. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine Perlenkette. Ihre Füße steckten in babyblauen Hausschuhen. Hinter ihr war der Spiegel mit einem weißen Bettuch verhangen worden. Sowohl die Hausschuhe als auch der Spiegel gehörten, wie Wetzon wußte, zum jüdischen Trauerritual.

Die Frau umarmte Silvestri, als ob er zur Familie gehörte; er küßte sie auf die Wange und nannte sie Bea.

»Das ist Leslie«, sagte Silvestri.

»Danke, daß Sie gekommen sind, meine Liebe«, sagte Bea und drückte Wetzon die Hand. Neben ihr stand mit offenem Mund ein zwölfjähriger Junge. »Das ist Aaron, mein hübscher Enkel.«

»Aaron und ich kennen einander, was, Kumpel?« Feierlich schüttelte Silvestri Aaron die Hand. »Darf ich dir Leslie vorstellen?«

Wetzon streckte ihm die Hand hin. Der Junge errötete tief und ergriff sie. Seine eigene war schlaff und feucht. Er mied ihren Blick.

Metzgers Eckhaus war erhellt gewesen wie ein Leuchtfeuer in der Nacht, als sie vorhin darauf zugefahren waren. Autos parkten Stoßstange an Stoßstange in der Auffahrt und in benachbarten Auffahrten, ebenso wie auf der Straße. Polizisten – sie waren nicht zu übersehen – saßen rauchend auf den Vorderstufen und sprachen über den Job. Obwohl die Regeln gelokkert worden waren und Polizisten ihre Dienstwaffen nicht mehr tragen mußten, wenn sie außer Dienst waren, war es Wetzon nicht entgangen, daß sie alle bewaffnet waren.

»Sheila war so ein wunderbares Mädchen«, berichtete ihr jetzt eine ältere Frau, als sie an der Kaffeemaschine standen. »Sind Sie eine Freundin aus der Schulzeit?«

»Ich kannte sie gar nicht«, antwortete Wetzon und fragte sich, ob der Kaffee entkoffeiniert war.

»Oh, wie schade. Sie war so ein feiner Mensch. Jeder liebte sie.«

Jeder außer Silvestri, dachte Wetzon. Der konnte sich nicht erinnern. »Das habe ich gehört. Gibt es hier auch koffeinfreien Kaffee?«

»Meine Liebe, hier gibt es nur koffeinfreien Kaffee, für uns alten Leute, Sie wissen schon.«

Wetzon bediente sich. Offensichtlich gehörte auch sie zu den ›alten‹ Leuten.

Als sie sich von der Kaffeemaschine wieder abwandte, näherte sich ihr ein dünnes Mädchen von etwa zehn Jahren. Das Mädchen öffnete den Mund, schien aber kein Wort herauszubringen.

»Hi«, sagte Wetzon. »Ich heiße Leslie. Und du?«

Das Kind trug das Haar zu einem Knoten am Hinterkopf hochgesteckt. »Jessica Metzger. Mein Vater hat gesagt, daß ich mit Ihnen reden soll, weil Sie Tänzerin sind.« Ihre Zahnspange sorgte nicht nur für ein leichtes Lispeln, sondern auch für winzige Grübchen an beiden Mundwinkeln. Ihre Haltung war erfüllt von der ungelenken Grazie der jungen Tänzerin, die ihrem Ideal nacheifert.

»Und wie ich sehe, tanzt du auch«, sagte Wetzon, die Artie Metzgers Blick aufgefangen hatte, dessen Kopf und Schultern über den Pulk von Frauen in dem kleinen Wohnzimmer hinwegragte. Artie hatte sein kleines Mädchen zu ihr geschickt, um mit ihr zu reden.

»Das sieht man?« Jessicas reizloses, kleines Gesicht verwandelte sich, als ob ein inneres Licht zu leuchten begonnen hätte, das ihrer durchsichtigen Haut einen goldenen Schimmer verlieh.

Wetzon kannte das Gefühl, erkannte eine sehr junge Leslie Wetzon in Metzgers Jessica wieder. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir ein ruhiges Plätzchen finden können, wo wir uns unterhalten können«, sagte sie zu dem Mädchen und fragte sich, wo in diesem zum Bersten gefüllten Haus sie einen solchen Ort wohl suchen sollte.

»Mein Zimmer«, sagte Jessica eifrig. Sie führte Wetzon aus dem überfüllten Zimmer hinaus und eine kleine Treppe hinauf.

Im zweiten Stockwerk befanden sich drei Schlafzimmer, ein großes Elternschlafzimmer und zwei kleinere sowie mindestens ein Badezimmer. Jessicas Zimmer war klein und ordentlich. Dort begrüßten sie blaßgelbe Wände, ein gelb geblümter Bettüberwurf, ein Kissen mit Rüschen und farblich passende Vorhänge. Ein Schreibtisch, eine Kommode und ein Nachttisch, alles in gewachstem Kiefernholz, verliehen dem Zimmer eine behagliche Atmosphäre.

An den Wänden hingen gerahmte Poster von Darci Kistler, einem Hauptdarsteller im New York City Ballett, wie er durch die Luft flog, und von Wetzons Lieblingstänzerin, Natalia Makarova, in klassischer Pose. An einem Haken an der Wand über dem Bett hing ein Paar Ballettschuhe aus Porzellan, genau die gleichen, die auch Leslie Wetzon vor dreißig Jahren an der Wand hängen gehabt hatte. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, in die Vergangenheit zurückzukehren, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Was für ein hübsches Zimmer«, sagte sie.

Sie setzten sich auf das Bett, Wetzon nippte an ihrem Kaffee, während Jessica ihr von dem bevorstehenden Vortanzen für Der Nußknacker berichtete. Dann sagte Jessica: »Werden Sie mir etwas vom Broadway erzählen?«

»Machst du Steptanz?«

»Ein bißchen.«

»Du mußt richtig steppen lernen, ebenso Jazztanz. Die Bewegungen sind völlig unterschiedlich, und es ist wichtig, auf allen Gebieten fit zu sein, wenn man zum Theater will.«

Auf dem Nachttisch stand eine gerahmte Farbfotografie von Jessica im Ballettröckchen, die sich tief verbeugte. Ein weiteres Foto zeigte Jessica und zwei Frauen vor dem Brunnen am Lincoln Center. Eine der Frauen war Judy Metzger. Das Bild war offensichtlich erst vor kurzem aufgenommen worden, denn seitdem hatte Jessica sich offensichtlich nicht verändert.

Wetzon nahm das zweite Foto in die Hand. »Deine Mutter erkenne ich ja. Ist das hier deine Tante Sheila?«

Das Kind starrte auf das Foto, als sähe sie es jetzt zum erstenmal, und brach ohne Vorwarnung in Tränen aus. Wetzon ließ das Bild auf das Bett fallen und nahm Jessica in die Arme. Unter heftigem Schluchzen stieß das Mädchen hervor: »Sie hat mich ins Ballett mitgenommen und in Damn Yankees und Crazy for You.«

»Und du hast deine Tante Sheila sehr geliebt und wirst sie schrecklich vermissen«, flüsterte Wetzon und streichelte Jessicas schlanken Rücken. »Und was du aus deinem Leben machst, wirst du zumindest zum Teil für deine Tante Sheila tun.«

Jessicas Kopf ruhte an Wetzons immer feuchter werdendem Busen.

Wetzon blickte auf das Foto auf dem Bett hinab. Sheila lächelte mit einem Optimismus zu ihr herauf, daß es einem schier das Herz brach.

Sie schien keinen Augenblick lang zu vermuten, daß sie bald sterben würde.

»Es ist nicht fair«, sagte Jessica mit gedämpfter Stimme, während ihr Schluchzen langsam nachließ.

»Nein, es ist nicht fair«, stimmte Wetzon zu. »Aber Unfälle passieren nun einmal. Gute Menschen werden verletzt. Und gute Menschen sterben. Und wir müssen weiterleben. Deine Tante wird immer bleiben, wie du sie zuletzt gekannt hast; sie wird niemals älter werden, weil du sie niemals vergessen wirst.« Mit einem Papiertaschentuch trocknete Wetzon die Tränen des Kindes.

Noch immer schimmerten Jessicas Augen, als sie sich von Wetzon losmachte und die Arme über der mageren Brust verschränkte. »Es war kein Unfall.«

»Was meinst du damit?«

»Jemand hat es absichtlich getan.«

»Was absichtlich getan?«

»Meine Tante Sheila umgebracht.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Es war kein Unfall.«

»Woher weißt du das, Jessica?« Wetzon war überzeugt, daß jetzt die kindliche Fantasie mit dem Mädchen durchging.

»Die Anrufe.«

»Was für Anrufe? Weiß dein Vater darüber Bescheid?«

»Tante Sheila hat mir das Versprechen abgenommen, es ihm nicht zu sagen. Sie bekam häufig ganz unheimliche Anrufe.«

Ophelia im Hudson River

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