Читать книгу Ophelia im Hudson River - Annette Meyers - Страница 6
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ОглавлениеDrei Monate früher
Micklynn Devoras Umgang mit dem Messer war äußerst geschickt, vielleicht sogar etwas zu geschickt. Offensichtlich war sie wütend. Mit wenig eleganter Geste griff sie nach dem Glas mit Chardonnay, an dem sie bereits etliche Male genippt hatte. Als sie es wieder auf den Tisch stellte und sich erneut ihrer Arbeit zuwandte, war das Glas leer.
Sie steckte eine Knoblauchzehe ebenso wie eine halbe, entkernte Olive in die Öffnung, die sie mit dem Messer in das Fleisch geschnitten hatte. Der Duft, der dieses Zimmer beherrschte – wenn man Knoblauch als Duft definieren wollte, was Leslie Wetzon zweifellos tat – glich einem Garten sinnlicher Freuden.
»Die Cranberries geben dem ganzen ein eher säuerliches Aroma«, maulte Smith. »Findest du nicht auch, Herzchen?« Doch ihre zuckersüße Stimme konnte den für sie charakteristischen Unterton der Ungeduld nicht überdecken. Kleine Teller mit Kostproben waren vor ihr auf einem rustikalen, antiken Tisch arrangiert worden.
»Finden?« Wetzon biß die Zähne zusammen und kehrte zum Tisch zurück. »Ich finde«, sagte sie mit erhobener Stimme, »daß ich zu schreien anfangen werde, wenn du dich nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten für ein Gericht entscheidest.« Ihre Stimme war alles andere als zuckersüß.
Seit drei Uhr – also seit etwas über zwei Stunden – saßen sie an diesem herrlichen Aprilnachmittag in der üppig ausgestatteten Küche von The Groaning Board – was etwa soviel bedeutet wie ›Der ächzende Tisch‹ –, dem Catering- und Gourmet Party-Service am Platze, und kosteten von den verschiedenen Speisen, während die normalerweise doch sehr entscheidungsfreudige Smith versuchte, ein Gericht auszuwählen. Und es nervte Wetzon, daß sie die Spannung, die in diesem Zimmer herrschte, offensichtlich nicht mitzubekommen schien. Und das, obwohl die angespannte Atmosphäre durch das ständige Klingeln des Telefons nur noch unterstrichen wurde: Es klingelte in der Küche, aber man hob im Laden ab.
A. T. Barron, Micklynn Devoras Partnerin im Groaning Board hatte ihnen ein paar Kostproben von Hauptgerichten zur Verfügung gestellt. Alles Kalbfleisch. Smith hatte auf Kalbfleisch bestanden. Es gab Kalbssteak in einer Sauce aus Limonen und Kapern, die Wetzon außerordentlich gut geschmeckt hatte, obwohl sie sonst eigentlich nicht so sehr für Kalbfleisch zu haben war. Das Kalbshirn mit Shiitakepilzen in einer leichten Sahnesauce war ihr zu fett gewesen, außerdem fand sie Kalbshirn langweilig. Und dann war da noch der Schmorbraten.
»A. T., Schatz.« Smith stöhnte dramatisch und führte die Hand zur Stirn. »Helfen Sie mir doch mal.«
»Nehmen Sie den Braten«, empfahl A. T. »Damit können Sie nichts falsch machen.« Ihr Haar war mittelbraun, mit von der Sonne gebleichten blonden Strähnen; lang und lockig umgab es das kantige Gesicht wie widerspenstiges Gestrüpp. Ihre Augen standen dicht beieinander und ließen die große Nase noch mehr hervortreten. Wenn sie lächelte, enthüllten ihre Lippen einen nicht unattraktiven Überbiß. Tat sie es nicht, sah sie eher aus wie ein Nagetier. Sie trug kein Make-up, vielleicht das einzige Überbleibsel ihrer Studentenzeit während der Sechziger in Bennington. A. T. war ein paar Zentimeter größer als Wetzon, doch Smith konnte sie bei weitem nicht das Wasser reichen. Schlank und groß, wie sie war, trug sie weite Armani-Hosen, ein schwarzes T-Shirt und einen lässig geschnittenen Blazer. Ihr Stil war klar. Und makellos. Wetzon fragte sich, ob A. T. jemals in einem Topf gerührt hatte oder einen Essensrest unter ihren dunklen Krallennägeln gefunden hatte. Sie hatte nicht den Eindruck. »Wissen Sie«, fuhr A. T. fort, »ein Braten ist ein ebenso einfaches wie klassisches Gericht. Etwas Ähnliches haben wir auch den Perelmans vorgesetzt. Die Weills waren auch da, und sie riefen uns neulich an, um ...«
Sie redete und redete, bis Smith sie schließlich unterbrach: »Na, ich weiß nicht so recht.« Sie warf Wetzon einen verzweifelten Blick zu, doch diese reagierte lediglich mit einem Achselzucken.
Wie es schien, bestand A. T.s Geschäftsstrategie darin, ihre Kunden mürbe zu reden, denn ihre Lobeshymnen schienen kein Ende zu nehmen. A. T. hätte es an der Wall Street wohl kaum zu etwas gebracht, dachte Wetzon.
»Dazu servieren wir winzige, in Butter geröstete Kartöffelchen mit Schnittlauch sowie Spargel. Letztens haben wir ...«
»Wir werden einen Reiskranz mit einer Mischung aus wilden Pilzen dazu servieren«, überfuhr Micklynn kurz, bündig und fast schon herablassend ihre Partnerin. Sie putzte gerade Anchovis unter kaltem Wasser und tupfte sie mit Papiertüchern trocken. Dabei sah sie A. T. nicht an, doch allein ihre steifen Schultern schienen Unheil zu verkünden. Sie bezogen sich, wie es schien, auf etwas, bei dem Smith und Wetzon die beiden vor zwei Stunden unterbrochen hatten.
»Mick ...« A. T.s Lippen kräuselten sich, ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. Sie war wütend.
»Klingt doch gut«, sagte Wetzon schnell.
A. T. Barrons »Großartig« kam nach einem Zögern, das kaum mehr als eine Sekunde dauerte. Möglicherweise hätte niemand eine solche Pause bemerkt, doch Leslie Wetzons Partnerschaft mit der äußerst schwierigen Xenia Smith war alles andere als leicht, und Wetzon reagierte auf die Feinheiten in ähnlichen Beziehungen mit Sicherheit etwas sensibler als die meisten Menschen.
Was immer hier vor sich ging, Wetzon hatte die Schwingungen bereits wahrgenommen, als sie aus dem geschäftigen Treiben des Ladens mit seinen Büschen aus Knoblauchknollen, getrockneten Kräutern, mit Brotkörben und Gläsern voller bunter Konserven und Saucen in die Küche gekommen war.
The Groaning Board befand sich im Erdgeschoß des dreistöckigen ehemaligen Kutschenhauses von Micklynn Devora. Das Gebäude lag an der 81st Street, genau um die Ecke 2nd Avenue. Es gehörte zu einer Reihe ähnlich aussehender Häuser, die Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Kutschen der Reichen beherbergt hatten, welche eine Straße weiter in großartigen Stadtvillen lebten.
Die breiten Türen waren durch ein Schaufenster ersetzt worden, durch das man das einladende Innere des Geschäftes sehen konnte, die überfüllten marmornen Ladentheken, umgeben von alten, hölzernen Schränken. Zwei Türen normaler Größe flankierten das Fenster: die eine führte in den Laden, die andere ins Treppenhaus und damit zu den beiden darüberliegenden Stockwerken.
The Groaning Board war ›eindeutig der erotischste Lebensmittelladen in New York‹, wenn man Gael Greene vom New York Magazine Glauben schenken wollte. Und es ging das Gerücht, daß die Kritikerin der New York Times, die normalerweise eigentlich nicht über Gourmet-Shops schrieb, einen stilvollen Nachmittag mit Devora und Barron verbracht hatte. In einem entsprechenden Artikel hatte die Kritikerin sie, ihre Küche und was in ihr gezaubert wurde als ›verführerisch‹ und ›köstlich‹ bezeichnet.
Vor vier Jahren hatten die beiden Besitzerinnen ein Arrangement mit einem ihrer Händler getroffen und begonnen, ihre Produkte nicht nur herzustellen, sondern sie auch zu verpacken und an die Supermärkte und Delikatessengeschäfte der Umgebung zu verkaufen. Innerhalb kürzester Zeit war die Marke The Groaning Board zu enormem Erfolg gelangt. Die Nachfrage nach ihrem gewürzten Essig, ihren Olivenölen, nach Himbeerkonfitüre, Limonenquark, Muffins und Makronen war fast schon überwältigend. New Yorker, die einmal süchtig nach ihren Produkten waren, aber umziehen mußten – insbesondere solche, die nach L.A. zogen –, pflegten sie sich auch dorthin schicken zu lassen.
Hinter dem mittleren Ladentisch des Geschäftes befand sich ein Durchgang, der eigentlich durch einen Vorhang verschlossen sein sollte. Doch hatte der Vorhang gar keine Chance, irgend etwas zu verbergen, denn der Publikumsstrom, der in die dahinter liegende Küche drang, riß kaum ab. Jeder wollte, wie es schien, Micklynn persönlich kennenlernen, deren Genie hinter all den Rezepten stand. A. T., die früher einen Delikatessenladen bei Bloomingdale’s geleitet hatte, war für das Geschäftliche verantwortlich, also für Verkauf und Marketing.
Als Xenia Smith und Leslie Wetzon an diesem Nachmittag angekommen waren, hatte A. T. einen Termin gehabt. Sie war erst kurze Zeit später erschienen, leicht zerzaust, ihr Haar, das offensichtlich am Morgen hochgesteckt worden war, löste sich in krausen Strähnen aus ihrem Knoten. Sie hatte den Vorhang zurückgerissen und sie in die Küche geführt, die vom Duft nach Limone, Zucker und geschmolzener Butter erfüllt war. Über allem schwebte ein Hauch verführerischer Schokolade, und Grateful Dead lieferten die Hintergrundmusik. Sugaree!
Und der Wohlgeruch des Knoblauchs unterstrich das Gesamtwerk.
An den Wänden standen sämtliche Geräte in doppelter Ausführung: Spülen, Spülmaschinen, Mixer, Herde, Kühlschränke, Gefrierschränke, Backöfen.
Micklynn, gekleidet in ein langes, weites Kleid und Fußbett-Sandalen, knetete gerade Teig auf einem Holzbrett. Sie war bis zu ihrem uneingeschränkt wogenden Busen mit Mehl und Teigkrumen bedeckt. Ihre Arme waren muskulös und fest, und sie schien sich mit dem Teig zu beschäftigen wie ein Hofhund mit dem Hosenbein eines Postboten.
»Micklynn kennen Sie natürlich.«
»Natürlich«, hatte Smith geantwortet. »Und das ist meine Partnerin, Leslie Wetzon.«
Micklynn wandte sich halb zu ihnen um und nickte. »Und das ist Minnie Wu.«
Wie seltsam, dachte Wetzon. Sie hatte die andere Frau nicht bemerkt, bis diese sich jetzt vom Tisch fortbewegte. Darauf lagen frisch geerntete rote, gelbe und grüne Pfefferschoten, weiße und violette Auberginen und Büschel mit tiefgrünem Basilikum. Minnie trug Tarnkleidung in den gleichen Farben, die sie buchstäblich verschwinden ließ.
Minnie Wu war Chinesin, eine kleine, dickliche Frau in Hosen und einem formlosen Hemd. Sie verströmte Feindseligkeit.
»Ich bin in einer Stunde zurück«, hatte sie gesagt, wobei sie die Eindringlinge demonstrativ nicht zur Kenntnis genommen hatte. »Meine Kamera und die Tontechniker kommen schon vorher, also sorgt dafür, daß diese ...« Sie zuckte mit den Achseln und warf Smith und Wetzon einen Blick zu.
A. T. lächelte gequält. »Minnie, ich glaube, unsere Kunden würden gerne – wäre es nicht schön, wenn du uns im Umgang mit unseren Kunden filmst ...?« Und zu Smith und Wetzon gewandt sagte sie: »Wir drehen einen TV-Werbespot für unsere Kochsendung.«
Minnie ließ ihre Augen über Smith, dann über Wetzon und anschließend erneut über Smith wandern und sagte: »Zu alt.«
Wetzons Husten konnte das Gelächter, das ihr die Kehle heraufstieg, kaum verbergen. Jemand gab ein ersticktes Keuchen von sich. Verstohlen betrachtete sie Smith; deren Mund war weit geöffnet.
Der erstickte Laut war von Micklynn gekommen, während sie den Kalbsbraten in den nächsten Ofen geschoben hatte. Einen Augenblick lang fing sie Wetzons Blick auf, dann schlug sie die Ofentür zu.
»Minnie, wirklich ...«, begann A. T.
»Vielleicht sollten wir gleich gehen«, hatte Smith gesagt – sie kochte vor Zorn.
»Nein, nein, bitte«, bat A. T. »Minnie meint es nicht ...«
Minnie schob den Vorhang beiseite und trat in den Laden. Über die Schulter rief sie ihnen zu: »Ich meine es ernst. Werft sie raus.«