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»Sheila bekam unheimliche Anrufe, Silvestri«, berichtete Wetzon. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie ins Auto gestiegen waren, so sehr sie auch versucht hatte, ihn aus sich herauszulocken. Der Abend hatte sie erschöpft. Gefühlsmäßig erschöpft.

»Woher willst du das nun schon wieder wissen, Les? Du hast Sheila doch noch nicht einmal gekannt.« Der verärgerte Unterton in seiner Stimme trieb sie in die Defensive ... als ob Sheila ihm gehörte und sie sich in etwas einmischte, das sie nichts anging.

»Ich höre eben zu, wenn Menschen reden, Silvestri. Du bist befangen; es ist deshalb nur logisch, wenn dir das eine oder andere entgeht.«

Silvestri trat scharf auf die Bremse, um zu verhindern, daß er seitlich von einem gelben Taxi gestreift wurde. Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit. »Ich bin nicht befangen. Was Sheila und mich verband, ist lange her. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.« Er antwortete mit zusammengebissenen Zähnen.

Wetzon seufzte. Nicht befangen nannte man das – soso? »Jessica hat mir von den Anrufen erzählt. Sie war einmal bei Sheila zu Besuch gewesen, als diese ihren Anrufbeantworter abhörte. Es war auf Band.«

»Metzger hat nichts dergleichen erwähnt.«

»Metzger wußte es ja auch gar nicht. Sheila hat Jessica das Versprechen abgenommen, es niemandem zu erzählen. Mittlerweile wird Jessica aber wahrscheinlich mit ihm gesprochen haben – das habe ich ihr nämlich dringend ans Herz gelegt.«

»Ich werde ihn anrufen, wenn wir zu Hause sind.« Silvestri kurbelte das Fenster herunter und entrichtete die Brückengebühr.

Er war jetzt wieder ein Fremder, schloß sie aus seinem Leben aus. Mitten auf dem East River trieben die hell erleuchteten Wohnhäuser auf Roosevelt Island wie ein Hochzeitskuchen mit vielen Kerzen. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an Hochzeiten, wo es in ihrer Beziehung mal wieder kriselte?

Der Verkehr auf der Triborough-Brücke kam nun vollends zum Erliegen. Irgendwo vor ihnen hatte es einen Unfall gegeben, denn jetzt durchdrangen die blinkenden Lichter des Notarztwagens und das Heulen der Polizeisirene die Nacht.

»Verdammt«, rief Silvestri und schlug auf das Lenkrad.

Plötzlich ging sein Pieper los. Nachdem er nachgesehen hatte, wer ihn da angewählt hatte, holte er sein Handy unter dem Armaturenbrett hervor und gab ein paar Zahlen ein. Dann sprach er. »Ich rufe vom Handy aus an, weil wir auf der Triborough-Brücke feststekken, deshalb mach’s kurz.« Er hörte einen Augenblick lang zu, dann warf er Wetzon einen Blick zu. »Ja, ich hab’s gerade gehört.« Er lauschte erneut. »Okay. Ich will nur eben Les absetzen, dann treffe ich dich dort. Nimm die Brücke über die 59th Street. Wir sitzen hier bestimmt fest bis zum Jüngsten Tag.« Er unterbrach die Verbindung und legte das Telefon wieder weg.

Langsam setzte sich der Verkehr wieder in Bewegung.

»Du und Artie, Ihr wollt also noch einmal in Sheilas Wohnung?«

»Ja. Aber zuerst bringe ich dich nach Hause.«

»Das mußt du aber nicht.«

»Willst du, daß ich dich ins Taxi setze?«

»Nein. Ich will mit dir gehen.«

»Das ist doch Blödsinn, Les.« Sie verließen die Brükke und fuhren auf die Stadtautobahn. »Du hast gesagt, daß die Spurensicherung die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt hat, also kann ich doch wohl kaum irgend etwas durcheinanderbringen.«

»Vergiß es.«

Im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos sah sie, daß er das Kinn wild entschlossen vorstreckte. Wütend sagte sie: »Ist das nicht seltsam? Vor nur wenigen Monaten hast du mich sogar um meine Hilfe beim Mord an Terri Matthews gebeten, Silvestri. Wie schnell wir doch vergessen.«

»Das hier ist etwas anderes.«

»Wie kann es denn heute anders sein? Nur weil du zufällig etwas mit Sheila hattest? Du weißt doch noch nicht einmal, ob sie wirklich ermordet worden ist. Die Spurensicherung hat die Wohnung abgesucht; ich rühre nichts an. Und vielleicht entdecke ich ja sogar etwas, das euch beiden nicht auffällt. Ich habe ja immerhin auch das mit den Anrufen herausgefunden, nicht wahr? Warum hat die Spurensicherung die Kassette des Anrufbeantworters nicht gefunden?«

»Ich weiß es nicht. Es gab keine Anzeichen für einen Einbruch, keinen Hinweis darauf, daß jemand anders in der Wohnung gewesen ist. Man geht davon aus, daß sie durch den Sturz ums Leben gekommen ist. Es kann gut und gern ein Unfall gewesen sein. Die Autopsie-Ergebnisse stehen jedenfalls noch aus, ebenso wie der Bericht der Spurensicherung. Daß bei den Trauerfeierlichkeiten Polizei anwesend war, war eine reine Vorsichtsmaßnahme.« Seine Stimme war steif und kalt.

Danach schwiegen sie, bis Silvestri einen Parkplatz Ecke 1st Avenue und 73rd Street fand. Während sie aus dem Auto stieg, holte Silvestri eine kleine Tasche aus dem Kofferraum.

»Was ist das?«

»Handschuhe und Stiefelüberzüge.« Er verschloß den Kofferraum und überzeugte sich, daß auch die Türen zu waren. Dann schritt er schnell davon, so daß sie förmlich hinter ihm her rennen mußte.

Die 72nd Street war eine dunkle Sackgasse; zu beiden Seiten parkten die Autos Stoßstange an Stoßstange.

»Metzger ist schon da«, bemerkte Silvestri. Metzgers Auto stand schräg vor einem Hydranten, ein blitzendes Blaulicht auf dem Dach. Silvestri blickte andern Gebäude hoch. In einem Fenster im vierten Stock ging ein Licht an. Die Jalousien waren heruntergelassen. »Komm schon«, sagte er zu Wetzon.

Das Gebäude war eines von vier geweißelten Wohnhäusern mit neuen Thermopanscheiben und weißen Fensterrahmen. Feuerleitern überzogen die Fronten wie geometrisches Efeu. Zwei Zementstufen führten in ein kleines, viereckiges Vestibül, dessen Boden mit kleinen schwarzen und weißen Kacheln ausgelegt war. In die Wand eingelassen jede Menge Briefkästen, daneben die Klingelknöpfe. Silvestri drückte den von Wohnung 4F: S. Gelber. Ein lautes Brummen entriegelte das Schloß, so daß sie die Tür öffnen konnten.

Um in den vierten Stock zu gelangen, mußte man acht Treppen bewältigen. Aber das Gebäude war sauber und die Treppe gut beleuchtet. Aus den Wohnungen drangen die normalen Alltagsgeräusche: ein zu laut gestellter Fernseher mit den Abendnachrichten auf Channel 5. Musik. Das Pulsieren von Rockmusik, die das Herz höher schlagen ließ. Hier und dort ein Hauch gerösteter Zwiebeln. Kohl. Zigaretten. Die Menschen pafften jetzt nur noch hinter verschlossener Tür, seit die Stadt fast samt und sonders zur Nichtraucherzone erklärt worden war.

Als sie im vierten Stock ankamen, bemerkte Wetzon voller boshafter Freude, daß Silvestri härter atmete als sie. Er gab ihr ein Paar Latexhandschuhe, dann kniete er sich hin. Sie schob erst den einen und dann den anderen Fuß in die Überschuhe, die er für sie bereithielt. Er band sie um ihre Fußgelenke. Ein zärtlicher Blick auf ihre Knie sagte ihr, daß er nicht mehr ärgerlich war.

Sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, doch er zog sich bereits die eigenen Überschuhe an. Als er sich aufrichtete, sagte er nur: »Handschuhe.«

An der Tür klebten immer noch die zerfetzten Überreste des polizeilichen Siegels, das Metzger wahrscheinlich aufgebrochen hatte.

Ein mit Handschuhen und Überschuhen ausgestatteter Metzger öffnete ihnen die Tür. Er warf Wetzon einen Blick zu. »Ich dachte, du fährst sie nach Hause.«

»Sie hat sich geweigert«, schaltete Wetzon sich ein. »Ich werde nichts anfassen.«

Metzger hielt ihnen wortlos die Tür auf. Er hatte Puder – weißen und schwarzen – auf der Hose.

Bei der Wohnung handelte es sich um eine Eisenbahnwohnung, so genannt, weil ein Raum in den anderen überging. Der Geruch nach Lysol konnte den Gestank von Erbrochenem nicht ganz überdecken. Und Wetzon roch noch etwas, etwas Mächtigeres. Etwas Wildes, Barbarisches. Etwas Böses.

Wetzon stand inmitten des Wohnzimmers und beobachtete, wie Silvestri und Metzger höchst methodisch jeden Quadratzentimeter absuchten, wobei sie mit der Küche zu ihrer Rechten begannen. Als sie mit dem Wohnzimmer fertig waren, gingen sie ins Schlafzimmer weiter und ließen Wetzon dort stehen. Sie betrachtete das behagliche Zimmer und begann langsam, darin herumzugehen, sich mit allem vertraut zu machen. Weißer Puder bedeckte gleichmäßig sämtliche Objekte.

Die Wohnung machte einen bewohnten und freundlichen Eindruck. Selbst das Hintergrundgeräusch, das tropf, tropf, tropf eines undichten Wasserhahns, verstärkte dieses Gefühl.

Die Möbel: abgewetzt, bis auf ein Sofa, das ziemlich neu aussah und von Bücherregalen flankiert wurde. Die Bücher: allesamt zerlesen. In einer Ecke in der Nähe der türlosen Küche standen ein Eßtisch aus Eiche und vier Stühle unter einer matten, weißen Lampenglocke. Auf dem Tisch: eine Schachtel mit Teebeuteln, eine Tasse und ein paar Quittungen – eine Arztrechnung, eine vom Zahnarzt, eine von Macy’s, Con Edison und NYNEX sowie ein leerer Briefumschlag. Ein hübscher, etwas fadenscheiniger Kelim bedeckte einen Teil des Bodens.

Auf einem Glastisch vor dem Sofa dann ein geöffneter Schnellhefter, der Papiere enthielt, die wie eine Klassenarbeit aussahen. Sheila war wohl recht spontan übel geworden, denn ihr roter Buntstift lag frisch zugespitzt zuoberst auf einem Stapel unkorrigierter Arbeiten, neben einem kleineren Stapel mit denen, die sie offenbar bereits korrigiert hatte. Wetzon blätterte sie durch. Die romantischen Dichter. Shelley, Byron, Keats. Auf dem Teppich neben dem Couchtisch entdeckte sie einen gelblichen Fleck; hier roch es stärker nach Lysol.

Entweder war jemand hier gewesen, um aufzuwischen, oder Sheila hatte es selbst versucht, nachdem sie sich zum erstenmal übergeben hatte.

Wetzon ging in die Küche weiter. Hier war der Gestank überwältigend, sauer, faulig. Schwarzer Puder an der Kühlschranktür und auf den Arbeitsflächen.

»Wer hat den Anrufbeantworter abgeschaltet?« hörte sie Silvestri fragen.

»So haben wir ihn vorgefunden. Ohne Band. Glaubst du, Sheila hat ihn selbst ausgeschaltet?« Metzger klang erschöpft.

»Vielleicht. Wenn die fraglichen Botschaften auch auf dem Anrufbeantworter hinterlassen wurden ... Sie hat dir oder Judy gegenüber nichts darüber verlauten lassen, oder?«

Ein alter Mixer, ein Toaster und eine Brotmaschine standen auf der schmalen Arbeitsfläche. In der Stahlspüle unter einem tropfenden Wasserhahn stand ein kleiner Teller, der bis auf ein paar Krümel abgewaschen worden war – was immer er auch enthalten haben mochte. Wetzon versuchte, den Wasserhahn fest zuzudrehen. Doch das war er bereits. Und damit hatte sie ihr Versprechen gebrochen: Sie hatte begonnen, die Dinge anzufassen.

»Nein«, sagte Metzger gerade zu Silvestri. »Jess war zufällig einmal hier, als Sheila eine der Nachrichten abhörte. Daher wußte sie es. Sheila sagte ihr, daß die Anrufe nur ein Ärgernis seien, die schon aufhören würden, wenn keiner darauf reagierte.«

»Okay. Dann war es wohl wirklich Sheila, die diese gottverdammte Maschine ausgeschaltet hat«, sagte Silvestri. »Wo kann sie das Band hingetan haben?«

Wetzon dachte nach: Wohin würdest du ein Band tun, wenn du es zwar behalten, aber nicht täglich sehen wolltest? Wenn du es sozusagen auf Eis legen wolltest?

Der Kühlschrank ähnelte dem von Wetzon – das Gefrierfach befand sich oben. Sie öffnete die Klappe und weicher, weißer Nebel waberte heraus. Alles war ordentlich übereinandergeschichtet und beschriftet: zwei Steaks, drei Hühnerbrüstchen, ein Alupaket, auf dem ›4 Muffins‹ stand, von dem Sheila aber einen gegessen zu haben schien. Eine Vorratsdose aus Plastik, die nicht beschriftet war. Wetzon schüttelte sie. Es klapperte.

»Silvestri.«

»Was?«

»Hier. In der Küche.« Sie drückte den Plastikbehälter gegen die Hüfte und stemmte ihn auf.

Das Objekt war in eine Serviette gewickelt worden, die mit Klebestreifen zugeklebt war. Wetzon brauchte diese Schutzhülle nicht zu entfernen, um zu wissen, was es war.

Ophelia im Hudson River

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