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Die Entwicklung von John Stuart Mill
ОглавлениеMill selbst durfte nie ein Junge sein. Er ging in keine Schule und kam nicht mit anderen Kindern zusammen, sondern wurde von seinem Vater, der hohe Erwartungen an ihn stellte, zuhause erzogen. Im Alter von drei Jahren bekam er seinen ersten Griechischunterricht und mit zwölf Jahren hatte er bereits zahlreiche Dialoge Platons im Original gelesen. In diesem Alter begann er anhand von Aristoteles’ Texten mit dem Studium der Logik und half seinem Vater dessen Geschichte Indiens Korrektur zu lesen. Im Jahre darauf erhielt er Unterricht in politischer Ökonomie. Ferien waren nicht erlaubt, damit „die Gewohnheit zu arbeiten nicht unterbrochen“ würde und damit er „am Müßiggang keinen Geschmack finden“ könne. Doch mit 14 Jahren verbrachte er im Haus von Benthams Bruder Samuel ein Jahr in Frankreich, was ihm die Gelegenheit gab, naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität von Montpellier zu hören. Dies war sein einziger Besuch einer Universität, doch mit 16 Jahren war er bereits wesentlich belesener als die meisten Geisteswissenschaftler mit einem Magisterexamen.
Was Mill im Rückblick auf seine außergewöhnliche Erziehung am meisten schätzte, war die Freiheit zum Selbstdenken, die ihm sein Vater einräumte. „Alles, was man durch Nachdenken ergründen konnte, wurde mir erst beigebracht, wenn ich mich selbst bis zum Äußersten bemüht hatte, es selbst herauszufinden“ (A 20). Er meinte, dass er sein Erwachsenenleben, verglichen mit seinen gleichaltrigen Zeitgenossen, die eine Schule und eine Universität besucht hatten, mit einem Vorsprung von 25 Jahren begann. Doch seine Erziehung hatte ihn, in seinen eigenen Worten, in „eine bloße Denkmaschine“ verwandelt. Nachdem er mehrere Jahre damit verbracht hatte, zusammen mit seinen Kollegen von der Westminster Review für liberale Sachen zu streiten, während er hauptberuflich als Angestellter der Ostindien-Kompanie arbeitete, erlitt Mill einen Nervenzusammenbruch. Er fiel in eine tiefe Depression, während der ihm selbst die effektivste Arbeit für Reformen völlig sinnlos erschien.
Seiner Autobiografie zufolge rettete ihn im Herbst 1828 die Lektüre von Wordsworth aus dieser Krise. Die Gedichte führten ihm nicht nur die Schönheit der Natur vor Augen, sondern sie zeigten ihm auch Aspekte des menschlichen Lebens, die in Benthams System keinen Platz gefunden hatten.
„Hier glaubte ich jene Gefühlskultur gefunden zu haben, die ich suchte. Ich erkannte darin eine Quelle innerlicher Freude, eines sympathischen und imaginativen Genusses, den ich mit allen Menschenwesen teilen konnte und der nicht in Verbindung stand mit Kampf oder Unvollkommenheit, sondern nur reicher wurde durch jene Verbesserung in der physischen oder sozialen Lage der Menschheit. Ich glaubte daraus zu lernen, welche Quellen des Glücks stetig tätig fortfließen würden, wenn alle größeren Übel des Lebens beseitigt wären, und ich fühlte mich besser und glücklicher unter dem Einfluss dieser Lektüre.“ (A 89)2
Nachdem er diese Krise überstanden hatte, verehrte Mill Bentham ebenso wie vorher, und er war der Meinung, sein Werk habe dasjenige aller früheren Moralphilosophen übertroffen. Doch er gelangte zu der Überzeugung, dass sowohl die persönlichen als auch die sozialen Aspekte seines Systems verändert und ergänzt werden müssten.
Was seine persönliche Entwicklung betraf, entwickelte sich Mills Denken unter dem Einfluss englischer Dichter weiter. Als dominante Präsenz in seinem inneren Leben trat Coleridge schon bald an die Stelle von Wordsworth. In seinen reifen Jahren war er bereit, Coleridge und Bentham, als „die beiden großen zukunftsträchtigen englischen Denker ihrer Zeit“, auf eine Stufe zu stellen. Seine sozialen Ideen kamen unter französischen Einfluss: des noch in seinen Anfängen befindlichen Sozialismus des Grafen Saint-Simon (1760–1825) und des ebenfalls gerade erst aufkeimenden Positivismus von Auguste Comte (1798–1857).
Während die britischen Utilitaristen Privatbesitz und die Vererbung von Eigentum für gegeben und unanfechtbar hielten, behaupteten die Anhänger von Saint-Simon, dass das Kapital und die Arbeit einer Gesellschaft zum Nutzen des gesellschaftlichen Allgemeinwohls als Ganzes verwaltet werden sollte, wobei jeder Bürger verpflichtet war, nach seinen Fähigkeiten dazu beizutragen, und Anspruch darauf hatte, gemäß seinem Beitrag belohnt zu werden. Mill war vom Programm des Sozialismus nicht überzeugt, doch machte es ihn darauf aufmerksam, dass die Institutionen des Privateigentums und des freien Marktes einer Rechtfertigung bedurften. Er bewunderte den Idealismus der Saint-Simonisten und wurde von einer Reihe ihrer Prinzipien inspiriert – insbesondere von ihrer Forderung nach völliger Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Comte begann seine philosophische Karriere als Saint-Simonist, entwickelte jedoch später ein eigenes System, dem er den Namen „positive Philosophie“ gab. Das Merkmal seines Systems, welches auf Mill einen bleibenden Eindruck machte, war die Theorie, dass die Entwicklung des menschlichen Wissens und der menschlichen Gesellschaften drei historische Stadien durchläuft: das theologische, metaphysische und wissenschaftliche Stadium. Diese drei Stadien waren, in der Sprache der Saint-Simonisten, „organisch“ bzw. in sich abgeschlossen. Im ersten Stadium gaben Gesellschaften übernatürliche Erklärungen der Weltphänomene und bemühten sich, durch magische oder religiöse Praktiken Wirkungen in der Welt herbeizuführen. Dieses Stadium umfasste nach Comte die Zeit des Feudalsystems und dauerte bis zur Reformation. Im metaphysischen Stadium wurden die Phänomene der Welt durch Wesenheiten und Kräfte erklärt, die sich als ebenso okkult wie die übernatürlichen Faktoren erwiesen, von deren Wirkung man im theologischen Stadium ausging. Dieses Stadium wurde durch die Französische Revolution beendet, und die Welt trat nunmehr in das positive oder wahrhaft wissenschaftliche Stadium der Naturforschung und Gesellschaft ein.
Von Comte und den Saint-Simonisten übernahm Mill die Idee des Fortschritts. Zwischen den einzelnen organischen Stadien, wie Mill sie verstand, lag eine kritische, störende Unterbrechungsphase, und er glaubte, dass er in einer solchen Phase lebte. Er begann, sich auf eine Zukunft zu freuen, welche
„die besten Eigenschaften der kritischen Periode mit den besten Eigenschaften der organischen vereinigen würde – eine ungehemmte Freiheit des Gedankens und eine schrankenlose Freiheit des individuellen Handelns in jeder Weise, die anderen keinen Nachteil bringt, oder auch Überzeugungen von Recht und Unrecht, Nützlichem und Schädlichem, die den Gefühlen tief eingegraben sind durch frühe Erziehung und allgemeine Einmütigkeit der Gesinnung“. (A 100)3
Wenn dieser Zustand erreicht sein würde, wäre weiterer Fortschritt unnötig: Die moralischen Überzeugungen würden in der Vernunft und den wahren Bedürfnissen des Lebens so fest verankert sein, dass sie – im Gegensatz zu den Glaubensbekenntnissen der Vergangenheit und Gegenwart – nicht wie bisher in regelmäßigen Abständen wieder verworfen werden müssten.
Obwohl er schon in jungen Jahren ein äußerst produktiver Journalist war, veröffentlichte Mill fast bis zum Ende seines vierten Lebensjahrzehnts keine Bücher. Doch sein erstes, 1843 veröffentlichtes Buch war ein substanzielles Werk, das sofortige und anhaltende Berühmtheit erlangte: sein System der deduktiven und induktiven Logik. Das Werk, an dem er mehrere Jahre lang gearbeitet hatte, umfasste sechs Bücher, und er gab zu seinen Lebzeiten acht Neuauflagen heraus.
Das Buch behandelt eine Vielzahl von Themen, die von Mills Wunsch, eine auf den Stand des 19. Jahrhunderts gebrachte Version der britischen empiristischen Tradition darzulegen, zusammengehalten wurden. Er legte eine säkulare Version von Berkeleys theologischem Phänomenalismus vor: Materie sei nichts anderes als die ständige Möglichkeit der Wahrnehmung, und die Außenwelt „die Welt möglicher, gesetzmäßig aufeinanderfolgender Wahrnehmungen“. Er stimmte Hume darin zu, dass wir vom Geist selbst – im Gegensatz zu seiner bewussten Manifestation in uns selbst – keinen Begriff haben, und er hielt es für ein besonders schwer zu lösendes philosophisches Problem, die Existenz des Fremdseelischen zu beweisen, dass andere Personen außer einem selbst ein bewusstes Selbst haben. Anders als frühere Empiristen war Mill ernsthaft an formaler Logik und der Methodologie der Wissenschaften interessiert.
Das System der Logik beginnt mit einer Analyse der Sprache und einer Erläuterung unterschiedlicher Arten von Namen (einschließlich Eigennamen, Pronomen, Beschreibungen, Allgemeinbegriffe und abstrakter Ausdrücke). Mill zufolge benennen alle Namen Dinge: Eigennamen bezeichnen die Dinge, deren Namen sie sind, und Allgemeinbegriffe benennen die Dinge, von denen sie wahr ausgesagt werden können. Doch außer der Bezeichnung (denotation) gibt es noch die Konnotation, d.h.: Ein Wort wie „Mensch“ bezeichnet Sokrates (unter anderem), hat jedoch auch Konnotationen wie Vernünftigkeit und Tierheit.
Mill legt eine detaillierte Theorie der logischen Schlüsse dar, die er in reale und verbale einteilte. Syllogistische Schlüsse sind verbale, keine realen Schlüsse, da uns ein Syllogismus kein neues Wissen liefert. Reale Schlüsse sind nicht deduktiv, sondern induktiv, wie in der Schlussfolgerung: „Peter ist sterblich, James ist sterblich, John ist sterblich, daher sind alle Menschen sterblich.“ Ein solcher Induktionsschluss führt uns nicht, wie einige Logiker angenommen haben, von einzelnen Fällen zu einem allgemeinen Gesetz. Die allgemeinen Gesetze sind lediglich Formeln für Schlussfolgerungen von bekannten Einzelfällen auf unbekannte Einzelfälle. Mill gibt fünf Regeln oder Vorschriften für Experimente an, die als Richtlinien für induktive Forschungen in den Naturwissenschaften dienen sollen. Mill behauptet, dass die empirische Forschung durch die Anwendung dieser Vorschriften ohne Berufung auf apriorische Wahrheiten auskommen kann.4
Das System der Logik geht weit über die Diskussion der Sprache und des logischen Schließens hinaus. Der Titel des sechsten Buches lautet beispielsweise „Von der Logik der moralischen Wissenschaften“. Die wichtigsten derartigen Wissenschaften sind Psychologie, Soziologie und was Mill als „Ethologie“ bezeichnete: das Studium der Bildung des Charakters. Zu den Sozialwissenschaften gehören die Wissenschaft der Politik und das Studium der Wirtschaft. Mills umfassendste Behandlung dieser Themen erschien allerdings in einem anderen Buch, den Prinzipien der politischen Ökonomie (1848).
Bei seiner Darstellung der modernisierten Form des Empirismus ging Mill einen wichtigen Schritt weiter als irgendein Philosoph vor ihm. Die Wahrheiten der Mathematik hatten für radikale Empiristen stets ein Problem dargestellt, da es sich hierbei scheinbar um diejenigen Gegenstände unserer Erkenntnis handelte, von denen wir ein sicheres Wissen hatten, und dennoch schienen sie der Erfahrung vorauszuliegen, statt sich aus ihr zu ergeben. Mill behauptete, dass Arithmetik und Geometrie, nicht weniger als die Physik, aus empirischen Hypothesen bestanden – aus Hypothesen, die die Erfahrung zwar höchst umfassend bestätigt habe, die aber dennoch im Lichte weiterer Erfahrung korrigiert werden könnten.
Diese These – so wenig plausibel sie späteren Philosophen auch erscheinen mochte – war für das übergreifende Ziel, das Mill in seinem System der Logik verfolgte, wesentlich. Es bestand darin, eine Auffassung zu widerlegen, die er als „die stärkste intellektuelle Stütze falscher Lehren und schlechter Institutionen“ ansah, d.h. die Auffassung, dass Wahrheiten über Dinge außerhalb des Geistes durch von der Erfahrung unabhängige Intuition erkennbar sind. Mill selbst hielt diese Frage für die wichtigste der gesamten Philosophie. „Nun ist aber der Unterschied zwischen diesen beiden philosophischen Schulen, von denen die eine der Intuition Raum gibt, die andere die Erfahrung und Assoziation zur alleinigen Grundlage nimmt, nicht eine bloße Sache der abstrakten Spekulation, sondern reich an praktischen Folgen, und sie liegt allen praktischen Meinungsverschiedenheiten im Zeitalter des Fortschritts zugrunde.“ (A 162)5
Die aggressivste Auseinandersetzung, auf die sich Mill im Rahmen dieses intellektuellen Feldzuges einließ, trug er in einem seiner letzten Werke aus: seiner Untersuchung der Philosophie von Sir William Hamilton von 1865. Sir William Hamilton war ein schottischer Philosoph und Reformer, der von 1838 bis 1856 Professor für Logik und Metaphysik in Edinburgh war. In seinen Vorlesungen versuchte er, eine neue und verbesserte Form der Common-Sense-Philosophie von Reid darzulegen, ähnlich wie Mill versucht hatte, eine neue und verbesserte Form des Empirismus von Hume auszuarbeiten. Als sie in Buchform erschienen waren, sah Mill in diesen Vorlesungen eine ideale Zielscheibe, gegen die er seine explosive Kritik aller Formen des Intuitionismus richten konnte.
Mills Untersuchung wurde berühmter als der von ihm analysierte Text, heute wird er jedoch kaum noch gelesen. Diejenigen Werke Mills, die nach wie vor viele Leser finden, wurden nach seinen eigenen Angaben nicht von ihm allein verfasst. Im Jahre 1851 heiratete er Harriet, die Witwe des Londoner Kaufmanns John Taylor. Sie war ein Blaustrumpf, mit der ihn eine etwa 20 Jahre dauernde enge, aber keusche Freundschaft verbunden hatte. Harriet starb bereits sieben Jahre später in Avignon. Mill zufolge sollte sie als Mitautorin der Streitschriften Über Freiheit (erschienen 1859) und Die Hörigkeit der Frau (geschrieben 1861, herausgegeben im Jahre 1869) angesehen werden.
Die Schrift Über die Freiheit versucht, der Einmischung der Regierung in die Freiheit des Einzelnen eine Grenze zu ziehen. Ihr Schlüsselprinzip ist folgendermaßen formuliert:
„[D]ass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung.“6
Harriet Taylor, Inspiratorin, Mitarbeiterin und schließlich Ehefrau von J. S. Mill.
Mill zufolge hat ein Einzelner die Verfügungsgewalt über sich selbst, seinen eigenen Körper und Geist. Der Essay wendet dieses Prinzip auf verschiedene Lebensbereiche an, am offensichtlichsten zur Unterstützung der Meinungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung.
Die Veröffentlichung der Streitschrift Von der Hörigkeit der Frau war der Höhepunkt eines langen Kampfes zur Sicherung der Rechte und zur Verbesserung der Lage der Frauen. Als James Mill in seinem Essay über die Regierung behauptet hatte, dass Frauen kein Wahlrecht benötigten, da ihre Interessen mit denen ihrer Männer identisch seien, widersprach ihm – unterstützt von Bentham – der junge John Stuart. In seinen Gedanken zur Parlamentsreform von 1859 schlug er vor, dass jeder gebildete Haushaltsvorstand, unabhängig davon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, das Wahlrecht haben sollte, denn „warum sollte bei der Stimmabgabe ein Unterschied gemacht werden, der bei der Entrichtung von Steuern nicht gemacht wird?“ (CW xix. 328). Im Jahre 1866 brachte er eine Petition zum Stimmrecht der Frau in das Parlament ein, und während der Debatten zum Reform Act von 1867 schlug er in einer Gesetzesänderung (die 73 Stimmen auf sich vereinigte) vor, diejenigen Wörter zu streichen, die das Stimmrecht auf Männer beschränkten. Die Schrift Über die Hörigkeit der Frauen ging jedoch auf Fragen ein, die über das Stimmrecht weit hinausgingen: Sie griff die Institution der Ehe in der Form an, in der sie vom Recht und der Moral des viktorianischen Zeitalters verstanden wurde. Diese Struktur, so behauptet Mill, mache die Ehe zu einer Form häuslicher Knechtschaft.
Von 1865 bis 1868 war Mill Mitglied des Parlaments von Westminster. Zusätzlich zu den Frauenfragen beschäftigte er sich mit irischen Angelegenheiten und der Wahlreform. Er kritisierte die irische Zwangspolitik der britischen Regierung und veröffentlichte eine Streitschrift, in der er für eine radikale Bodenreform eintrat. Er befürwortete ein Verhältniswahlrecht bei Parlamentswahlen, um die Tyrannei einer Mehrheit gegen eine Minderheit zu verhindern. Seine Ideen über derartige Fragen waren 1861 in seinen Betrachtungen über repräsentative Regierung in gedruckter Form erschienen.
In seinen letzten Lebensjahren lebte Mill mit seiner Stieftochter Helen Taylor in Avignon. Er starb dort im Jahre 1873 und wurde neben seiner Frau beerdigt. Seine Autobiografie und Drei Essays über Religion wurden von seiner Stieftochter nach seinem Tod veröffentlicht.
Obwohl Mills Liberalismus immer wieder neue Anhänger fand, verblasste sein Ruf als systematischer Philosoph schon bald nach seinem Tode. Seine Arbeiten zur Logik fanden nicht die Zustimmung der Gründer der modernen formalen Logik. Sein Empirismus wurde von der Welle des Idealismus erstickt, die Großbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts überrollte. Erst als der Empirismus in den 1930er Jahren wieder an Boden gewann, fanden seine Schriften wieder zahlreiche Leser. Die utilitaristische Tradition wurde jedoch ohne Unterbrechung von Henry Sidgwick (1838–1900) am Leben erhalten. Er veröffentlichte sein Hauptwerk, die Methoden der Ethik, im Jahr nach Mills Tod.
Sidgwick war Fellow7 am Trinity College Cambridge. Im Jahre 1869 gab er sein Fellowship aus Gewissensgründen auf. Philosophieprofessor in Cambridge wurde er im Jahre 1883. Anfänglich war er ein unkritischer Bewunderer Mills: Er begrüßte sein System, weil es ihm erlaubte, sich der willkürlichen moralischen Regeln zu entledigen, die man ihm im Laufe seiner Erziehung beigebracht hatte. Er gelangte jedoch schließlich zu der Überzeugung, dass zwischen den beiden Hauptprinzipien von Mills System – dem psychologischen Hedonismus (jeder strebt nach seinem eigenen Glück) und dem ethischen Hedonismus (jeder sollte nach dem allgemeinen Glück streben) – ein Widerspruch besteht. Eine der Hauptaufgaben, die er sich in den Methoden der Ethik stellte, bestand darin, dieses Problem, das er als den „Dualismus der praktischen Vernunft“ bezeichnete, zu lösen.
Im Laufe seiner Beschäftigung mit diesen Fragen gab Sidgwick das Prinzip des psychologischen Hedonismus auf und ersetzte es durch ein ethisches Prinzip des rationalen Egoismus, welches besagte, jeder Mensch sei verpflichtet, nach dem für ihn Guten zu streben. Dieses Prinzip zeichnete sich seiner Meinung nach durch eine intuitive Evidenz aus. Auch der ethische Hedonismus, entschied er, konnte nur auf grundlegenden moralischen Intuitionen errichtet werden. Daher verband sein System Utilitarismus und Intuitionismus. Er sah dies als Ausdruck des gesunden Menschenverstandes auf dem Gebiet der Ethik. Er glaubte allerdings, die Intuitionen des Common Sense seien in der Regel zu eng und zu spezifisch. Die Intuitionen, die der utilitaristischen Moral zugrunde lagen, waren abstrakter. Eine dieser Intuitionen besagte, dass ein künftiges Gut ebenso wichtig ist wie ein gegenwärtiges, eine weitere, dass aus der Perspektive des Universums das Gute einer beliebigen Einzelperson keine größere Bedeutung hat als das Gute irgendeiner anderen Person.
Die verbleibende Schwierigkeit besteht darin, die Intuitionen des Utilitarismus mit denjenigen des rationalen Egoismus zu vereinbaren. Sidgwick gelangte letztlich zu der Auffassung, dass auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung eine vollständige Lösung des Konflikts zwischen meinem eigenen und dem allgemeinen Glück unmöglich ist (ME, xix). Er akzeptierte, dass die Verbindung zwischen den Interessen des Einzelnen und seiner Pflicht für die meisten Menschen durch den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit der Person hergestellt wird. Da er selbst sich in diesem Zusammenhang nicht auf Gott berufen wollte, gelangte er zu dem traurigen Ergebnis, dass sich zeige, dass „die anhaltende Bemühung des menschlichen Verstandes um ein vollkommenes Ideal des rationalen Verhaltens zu einem unvermeidlichen Scheitern vorherbestimmt“ sei (ME, Ende). Er tröstete sich, indem er durch die Arbeit bei der 1882 gegründeten Society for Psychical Research8 nach empirischen Hinweisen dafür suchte, dass das Individuum seinen Tod überdauert.