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Nietzsche

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Genau zu der Zeit, als Newman seine Rechtfertigung der Rationalität religiösen Glaubens vorlegte, wurde in Basel ein junger Mann zum Professor ernannt, der den Tod Gottes proklamierte und damit eine Verkündigung von sich gab, deren Widerhall das 20. Jahrhundert erfüllen sollte. Friedrich Nietzsche wurde 1844 in Sachsen in eine fromme lutheranische Familie geboren. Er studierte in Bonn und Leipzig, und zwar nicht Philosophie, sondern klassische Philologie. Er war ein solch herausragender Student, dass er bereits im Alter von 24 Jahren, noch bevor er eine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, zum Professor ernannt wurde. Er unterrichtete von 1869 bis 1879, mit einer kurzen Unterbrechung, während der er am französisch-preußischen Krieg von 1870 im Sanitätskorps teilnahm, an der Universität Basel.

Kurz vor dem Antritt seiner Lehrtätigkeit machten zwei Ereignisse auf Nietzsche einen besonders tiefen Eindruck: Das eine war die Lektüre von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, das andere ein Treffen mit Richard Wagner, dessen Tristan und Isolde ihn fasziniert hatte, seit er die Oper im Alter von 16 Jahren zum ersten Mal gehört hatte. Sein erstes veröffentlichtes Buch, Die Geburt der Tragödie (1872) lässt den Einfluss beider Männer erkennen. In diesem Werk beschrieb er den Gegensatz zwischen zwei Aspekten der griechischen Seele: zwischen den wilden, irrationalen Leidenschaften, die in Dionysos personifiziert waren und sich in der Musik und der Tragödie ausdrückten, und der von Apollon dargestellten, disziplinierten und harmonischen Schönheit, die in der Epik und der bildenden Kunst zum Ausdruck kam.

Der Triumph der griechischen Kultur habe darin bestanden, dass ihr eine Synthese zwischen diesen beiden Aspekten gelungen war – eine Synthese, die durch die rationalistischen Übergriffe von Sokrates zerstört worden war. Die Dekadenz, die Griechenland daraufhin überkam, habe auch das gegenwärtige Deutschland infiziert, das nur erlöst werden könne, indem es sich der Führung Richard Wagners anvertraute, dem das Buch gewidmet war.

Zwischen 1873 und 1876 veröffentlichte Nietzsche vier Essays, die Unzeitgemäßen Betrachtungen. Zwei schlugen einen negativen Ton an: Einer war eine Kritik an David Strauß, dem Verfasser des berühmten Buches Das Leben Jesu, der andere ein Angriff auf die Anmaßungen der Geschichtswissenschaft. Die zwei anderen Essays hatten einen positiven Inhalt: Der eine pries die Philosophie Schopenhauers an, während der andere eine Lobrede auf Wagner war. Im Jahre 1878 brach Nietzsche jedoch mit Wagner (das Musikdrama Parsifal ekelte ihn an), und auch sein Enthusiasmus für Schopenhauer (dessen Pessimismus er nun erdrückend fand) war jetzt eine Sache der Vergangenheit. In seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches nimmt er eine auf uncharakteristische Weise wohlgesinnte Haltung zur utilitaristischen Moral ein und scheint ausnahmsweise den Wert der Wissenschaft über den der Kunst zu stellen. Doch seine anhaltende Grundüberzeugung, die Kunst sei die höchste Aufgabe des Lebens, kommt in der Form des Werkes zum Ausdruck, das – statt argumentativ oder deduktiv vorzugehen – in einem poetischen und aphoristischen Stil geschrieben ist.

Im Jahre 1879 gab Nietzsche, der an einer psychosomatischen Krankheit litt, seinen Baseler Lehrstuhl auf. Er ließ sich frühzeitig pensionieren und schied aus dem akademischen Leben aus. In den nächsten zehn Jahren lebte er an verschiedenen Orten Italiens und der Schweiz, stets auf der Suche nach einem seiner Gesundheit zuträglichen Klima. Viele Sommer verbrachte er in Sils Maria im Engadin. Er publizierte eine Reihe von Werken, in denen er hoffte, den Pessimismus Schopenhauers durch eine optimistische Bejahung des Lebens zu ersetzen. In Werken wie Morgenröte (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882) griff er christliche Selbstverleugnung, altruistische Moral, demokratische Politik und wissenschaftlichen Positivismus als lebensfeindliche Phänomene an. Er sah es als seine Aufgabe, ein neues Bild und einen neuen Begriff des „freien Geistes“ zu entwerfen.

Nietzsche drückte die Freiheit seines Geistes auch praktisch aus: 1882 ging er mit dem deutschen Materialisten Paul Rée und der russischen Feministin Lou von Salomé eine Dreiecksbeziehung ein. Diese ménage à trois war jedoch nur von kurzer Dauer, und von 1883 bis 1885 widmete sich Nietzsche der Arbeit an seinem berühmtesten Buch, dem orakelhaften Werk Also sprach Zarathustra. Das unglückliche Ende der Beziehung zu Lou mag den berühmtesten Aphorismus des Buches motiviert haben: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ Doch das Werk enthielt drei wichtigere Gedanken, die in der letzten Phase von Nietzsches Leben bedeutsam werden sollen. Einer von ihnen besagt, dass an die Stelle des Menschen, wie er jetzt ist, eine Form des Übermenschen treten wird. Zarathustra wartet auf „Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele“.22 Der zweite Gedanke ist der Gedanke der Umwertung aller Werte, eines völligen Umsturzes der herkömmlichen, insbesondere der christlichen moralischen Wertvorstellungen. Der dritte ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr: In der endlosen Zeit wiederholt sich alles, was je geschehen ist, in ewigen Kreisläufen immer wieder.

Diese Ideen erläuterte Nietzsche in einer weniger prophetischen und diskursiveren Sprache in seinen philosophisch wichtigsten Werken, den Schriften Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Diese Texte beschreiben einen Gegensatz zwischen einer aristokratischen Herrenmoral, die Edelmut, Tapferkeit und Ehrlichkeit einen hohen Wert beimisst, und einer Sklaven- oder Herdenmoral, die unterwürfige Eigenschaften wie Demut, Mitgefühl und Wohlwollen hoch schätzt. Nietzsche sah diese Werke als Prolegomena zu einer systematischen Darstellung seiner Philosophie, an der er zwar intensiv arbeitete, die er aber niemals zum Abschluss bringen konnte. Nach seinem Tode wurden mehrere Versionen dieses Systems aus seinem handschriftlichen Nachlass zusammengestellt, doch nur der erste Teil dieses Werkes erschien zu seinen Lebzeiten unter dem Titel Der Antichrist (1895).

1888 war das Jahr einer fieberhaften Produktion. Zusätzlich zu der Schrift Der Antichrist veröffentlichte Nietzsche einen erbitterten Angriff auf Wagner (Der Fall Wagner) und schrieb Die Götzendämmerung, die 1889 herausgegeben wurde. Außerdem schrieb er ein halbautobiografisches Werk, Ecce homo, in dem man bereits Spuren der geistigen Verwirrung – die wahrscheinlich Folge einer Syphilis war – finden kann, wegen der er 1889 in eine Klinik in Jena eingewiesen wurde. Gegen Ende seines Lebens war er geistesgestört und wurde zunächst von seiner Mutter und später in Weimar von seiner Schwester Elisabeth gepflegt, die ein Archiv seiner Schriften aufbaute. Nietzsche starb im Jahre 1900. Die Verfügungsgewalt über seinen Nachlass lag in den Händen seiner Schwester, die über seine Veröffentlichung eine beschützerische Kontrolle ausübte.

Während des 20. Jahrhunderts hatte Nietzsche einen großen Einfluss in Europa, besonders auf die russische Literatur und die deutsche Philosophie. Seine Ablehnung einer unterwürfigen Moral und des demokratischen Sozialismus machten ihn unter Nationalsozialisten beliebt, die nach ihrem Selbstverständnis einen höheren Typus des Menschen heraufführen wollten. Dies war einer der Gründe dafür, dass er von englischsprachigen Philosophen lange vernachlässigt wurde. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begannen die Moralphilosophen der analytischen Tradition jedoch zu erkennen, dass man auf die Herausforderung seines Angriffs auf die traditionellen Moralverstellungen, statt sie zu ignorieren, eingehen musste.23


Das Dreigespann Salomé, Rée und Nietzsche in einer Fotografie aus dem Jahre 1882.

1 Anm. d. Übers.: Auszüge in deutscher Übersetzung in: O. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik (München: Verlag C.H.Beck, 1975).

2 Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 120f.

3 Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 135f.

4 Mills Logik wird in Kapitel 4 ausführlich erläutert.

5 Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 223.

6 Zitiert nach: J. S. Mill, Über die Freiheit, übersetzt von B. Lemke, herausgegeben von B. Gräfrath (Stuttgart: Reclam, 2009), 35.

7 Anm. d. Übers.: Als Fellow bezeichnet man im angelsächsischen Sprachraum einen Akademiker, der ein gewähltes, gleichberechtigtes Mitglieder der Körperschaft einer Universität ist. An Colleges in Oxford und Cambridge und am Trinity College in Dublin ist die Versammlung der Fellows das oberste Entscheidungsgremium.

8 Anm. d. Übers.: Die Society for Psychical Research ist eine bis heute existierende Vereinigung zur Erforschung parapsychologischer Phänomene.

9 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 151.

10 Anm. d. Übers.: Nebenarbeiten und Nachgelassenes.

11 Zitiert nach: L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (Stuttgart: Reclam, 1971), 80.

12 Zitiert nach: K. Marx und F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (Stuttgart: Reclam, 1972), 5.

13 Marx’ Theorie des Mehrwertes wird ausführlich in Kapitel 11 erläutert.

14 Anm. d. Übers.: Britische Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft.

15 Vgl. Band I, 41.

16 Zitiert nach: C. Darwin, Die Entstehung der Arten, übersetzt von C. W. Neumann (Stuttgart: Reclam, 1976), 99f.

17 Zitiert nach: C. Darwin, Die Entstehung der Arten, übersetzt von C. W. Neumann (Stuttgart: Reclam, 1976), 245f.

18 Diese Konsequenzen seiner Theorie werden in den Kapiteln 7 und 12 erörtert.

19 Zitiert in: D. Brown, Newman: A Man for our Time (London: SPCK, 1990), 5.

20 Anm. d. Übers.: Ins Deutsche übersetzt von T. Haecker, Philosophie des Glaubens (München: Wiechmann-Verlag, 1921).

21 Vgl. Kapitel 6.

22 Zitiert nach: F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Band 4 der von G. Colli und M. Montinari herausgegebenen kritischen Gesamtausgabe (München: dtv/de Gruyter, 1999), 351.

23 Auf die Einzelheiten von Nietzsches Schriften zur Moralphilosophie wird in Kapitel 9 eingegangen.

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