Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 12
Ethik und Religion bei Kierkegaard
ОглавлениеWährend Schopenhauer in Frankfurt an der Welt als Wille und Vorstellung weiterarbeitete, gab ein dänischer Philosoph in Kopenhagen eine Reihe von Abhandlungen heraus, die einen ähnlichen Aufruf zur Askese enthielten, welcher allerdings durch eine von derjenigen Schopenhauers sehr verschiedene Metaphysik motiviert war. Der Autor war Søren Aabye Kierkegaard, der im Jahre 1813 in eine tragische Familie geboren wurde. Seine Mutter und fünf seiner sechs Geschwister starben, bevor er das Erwachsenenalter erreicht hatte, und sein Vater glaubte, auf seinem Leben liege ein Fluch, weil er vor langer Zeit als Hirtenjunge eine Gotteslästerung ausgesprochen hatte. Kierkegaard wurde 1830 zum Studium der Theologie auf die Universität Kopenhagen geschickt, wo er – wie Schopenhauer – die Philosophie Hegels kennen und hassen lernte. Er empfand Abneigung gegen die Theologie, erlebte im Jahre 1838 jedoch eine religiöse Bekehrung, die von einer mystischen Erfahrung „unbeschreiblicher Freude“ begleitet war. 1840 verlobte er sich mit Regine Olsen, doch löste er die Verlobung ein Jahr später, da er davon überzeugt war, dass seine eigene und die Geschichte seiner Familie ihn für die Ehe untauglich mache. In der Folgezeit war sein Selbstbild das eines Mannes, der zur Philosophie berufen war.
Im Jahre 1841, nachdem er eine Dissertation Über den Begriff der Ironie in stetem Hinblick auf Sokrates geschrieben hatte, ging Kierkegaard nach Berlin, wo er die Vorlesungen von Schelling besuchte. Seine Abneigung gegen den deutschen Idealismus nahm zu, doch im Gegensatz zu Schopenhauer glaubte er, dass dessen Fehler darin bestehe, den Wert des Einzelnen zu unterschätzen. Er folgte Schopenhauer allerdings darin, dass er für seine Leser einen spirituellen Weg vorzeichnete, der in der Entsagung endete. In seiner Version war allerdings jeder Schritt dieses aufwärtsgerichteten Weges, weit davon entfernt eine Abschwächung der Individualität zu bedeuten, ein Stadium in der Bejahung der eigenen einmaligen Persönlichkeit.
Kierkegaard legte sein System zwischen 1843 und 1846 in einer Reihe unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichter Werke dar. Entweder/Oder aus dem Jahr 1843 stellt zwei verschiedene Lebensansichten dar: eine ästhetische und eine ethische. Von einem Ausgangspunkt, in dem der Einzelne das unkritische Mitglied einer Masse ist, stellt das ästhetische Leben das erste Stadium der Selbstverwirklichung dar. Der ästhetische Mensch gibt sich dem Vergnügen hin, doch tut er dies mit Geschmack und Eleganz. Das wesentliche Merkmal dieses Charakters ist seine Weigerung, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen – sei sie persönlich, sozial oder gesellschaftlich –, die seine Freiheit einschränken würde, also das zu tun, wonach es ihn jeweils verlangt. Im Laufe der Zeit kann ein solcher Mensch erkennen, dass seine Forderung nach Freiheit in jedem Moment in Wahrheit eine Einschränkung seiner Vollmacht bedeutet. Wenn dies geschieht, tritt er in das ethische Stadium ein, indem er seinen Platz in gesellschaftlichen Institutionen einnimmt und die Verpflichtungen akzeptiert, die sich daraus ergeben. Doch wie sehr er sich auch bemühen mag, das moralische Gesetz zu erfüllen: Er wird feststellen, dass seine Kräfte hierzu nicht ausreichen. Vor Gott ist er immer im Unrecht.
Sowohl das ästhetische als auch das ethische Stadium des Lebens müssen in Richtung auf das religiöse Stadium überschritten werden. Diese Botschaft ist auf unterschiedliche Weise in weiteren, unter einem Pseudonym erschienenen Werken dargelegt: in Furcht und Zittern (1843), in Der Begriff der Angst (1844) und in Stadien auf des Lebens Weg aus dem Jahre 1845. Diese Reihe von Büchern erreicht ihren Höhepunkt mit der Veröffentlichung der umfangreichen Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift von 1846, deren Botschaft lautet, dass der Glaube nicht das Ergebnis irgendwelcher vernünftiger Gedankengänge ist, wie die Hegelianer behauptet hatten.
Der Übergang vom ethischen zum religiösen Stadium ist in Furcht und Zittern anschaulich dargestellt, das als seinen Text die biblische Geschichte von Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu töten und zu opfern, zugrunde legt. Ein ethischer Held, wie zum Beispiel Sokrates, gibt sein Leben für ein allgemeines moralisches Gesetz hin; doch Abraham bricht ein moralisches Gesetz im Gehorsam gegen einen besonderen Befehl Gottes. Dies ist es, was Kierkegaard als „die teleologische Suspension des Ethischen“ bezeichnet – die Handlung Abrahams überschreitet die moralische Ordnung, um ein höheres Ziel (telos) außerhalb dieser Ordnung zu verfolgen. Fühlt sich ein Individuum jedoch berufen, das moralische Gesetz zu durchbrechen, kann ihm niemand sagen, ob es sich um eine bloße Versuchung oder um einen echten Befehl Gottes handelt. Er kann es noch nicht einmal selbst wissen oder sich selbst beweisen: Er muss eine Entscheidung in blindem Glauben treffen.
Nach einer zweiten mystischen Erfahrung im Jahre 1848 wechselte Kierkegaard zu einer transparenteren Methode des Schreibens und veröffentlichte, unter seinem eigenen Namen, eine Reihe christlicher Abhandlungen und Werke, wie etwa Die Reinheit des Herzen ist, Eines zu wollen (1847) und Der Liebe Tun (1847). Seine Schrift Die Krankheit zum Tode gab er jedoch wieder unter einem Pseudonym heraus. Er stellt darin den Glauben als einzige Alternative zur Verzweiflung und als notwendige Voraussetzung für eine vollständige Verwirklichung der eigenen authentischen Existenz oder des Selbstseins dar.
Ein großer Teil seiner letzten Lebensjahre wurde von seinem Konflikt mit der dänischen Staatskirche bestimmt, die er nur dem Namen nach für christlich hielt. Ihrem Oberhaupt, dem Bischof J. P. Mynster, stand er äußerst kritisch gegenüber, und nach dessen Tod im Jahre 1854 veröffentlichte er einen bitteren Angriff auf ihn. Er gründete und finanzierte eine anti-klerikale Zeitung, Der Moment, die neun Mal erschienen war, als er auf der Straße zusammenbrach und nach einer nur wenige Wochen dauernden Krankheit im November 1855 starb. Gegen seinen eigenen Wunsch und die Proteste seines Neffen erhielt er eine kirchliche Beerdigung.