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Dialektischer Materialismus
ОглавлениеFür Schopenhauer und Kierkegaard wurde ihre Reaktion gegen das System Hegels zum Anstoß ihres Philosophierens. Die einflussreichste und heftigste Reaktion auf den Hegelianismus war diejenige von Karl Marx, der seine eigene philosophische Aufgabe darin sah, „Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Seiner Ansicht nach musste an die Stelle von Hegels dialektischem Idealismus ein dialektischer Materialismus treten.
Marx’ Vater war ein liberaler Jude, der kurz vor der Geburt seines Sohnes im Jahre 1816 zum Protestantismus übergetreten war. Der junge Karl ging in Trier zur Schule und besuchte für ein Jahr die Universität Bonn, wo er sich für das Fach Jura einschrieb und ein wildes Studentenleben führte. Anschließend ging er fünf Jahre nach Berlin. Er ging nun ernsthaften Studien nach, begann Gedichte zu schreiben und wechselte von der Jurisprudenz zur Philosophie. Als Marx nach Berlin kam, war Hegel bereits tot, doch studierte er die hegelsche Philosophie mit einer politisch links orientierten Gruppe, die als Junghegelianer bekannt waren. Die Gruppe wurde von Bruno Bauer geleitet; zu ihren Mitgliedern gehörte auch Ludwig Feuerbach. Von Hegel und Bauer lernte Marx die Geschichte als einen dialektischen Prozess zu betrachten: Jedes Stadium der Geschichte wurde nach grundlegenden logischen oder metaphysischen Prinzipien durch das ihr vorausgehende Stadium streng festgelegt. Die Strenge dieser Determination glich der eines geometrischen Beweises.
Die Junghegelianer maßen Hegels Begriff der Entfremdung große Bedeutung bei, d.h. dem Begriff des Zustands, in dem Menschen etwas als sich äußerlich ansehen, was in Wirklichkeit ein wesentliches Element ihres eigenen Seins ausmacht. Die Form der Entfremdung, die Hegel selbst hervorgehoben hatte, bestand darin, dass Individuen, die sämtlich Manifestationen eines einzelnen Geistes waren, einander als feindliche Gegner statt als Elemente einer zugrunde liegenden Einheit betrachteten. Bauer, und Feuerbach noch stärker, betrachtete Religion als höchste Form der Entfremdung, in der Menschen, die die höchste Form des Seins darstellten, ihr eigenes Leben und Bewusstsein in einen unwirklichen Himmel projizierten. „Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: Er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber“11, schrieb Feuerbach (W vi. 41).
Für Hegel und Feuerbach war die Religion eine Form des falschen Bewusstseins. Für Hegel war dies dadurch zu beheben, dass man die religiösen Mythen in eine idealistische Metaphysik übersetzte. Für Feuerbach war der Hegelianismus jedoch selbst eine Form der Entfremdung: Die Religion sollte nicht übersetzt, sondern abgeschafft und durch ein naturalistisches, positives Verständnis des alltäglichen Lebens der Menschen in der Gesellschaft ersetzt werden. Marx stimmte Feuerbach darin zu, dass die Religion eine Form des falschen Bewusstseins sei, seiner Meinung nach boten jedoch weder Hegel noch Feuerbach eine angemessene Lösung für das Problem der Entfremdung. Hegels Metaphysik beschrieb den Menschen als bloßen Zuschauer in einem Prozess, den er in Wahrheit kontrollieren sollte. Andererseits hatte Feuerbach nicht erkannt, dass Gott nicht das einzige fremde Wesen war, das der Mensch anbetete. Wesentlich wichtiger war das Geld, das die Entfremdung der menschlichen Arbeit darstellte. Insofern der Privatbesitz die Grundlage des Staates ist, schrieb Marx in einer Kritik der politischen Philosophie Hegels, war auch der Staat eine Entfremdung der wahren Natur des Menschen. Die Entfremdung ließ sich nicht durch philosophische Reflexion aufheben: Was erforderlich war, war nicht weniger als ein sozialer Aufstand. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (TF 11)
Ein postum gezeichnetes Bildnis Kierkegaards von Vilhelm Marstrand.
Nachdem er von der Universität Jena für eine Dissertation über Demokrit und Epikur, in der er 1842 mit den Junghegelianern brach, den Doktorgrad erhalten hatte, ging er nach Köln und begann als politischer Journalist zu arbeiten. Er wurde Herausgeber der radikalen Rheinischen Zeitung. 1843 heiratete er Jenny von Westphalen, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Sie war die Tochter eines Barons, der im Dienst der preußischen Regierung stand. Obwohl er reizbar und herrisch war, führte Marx – was unter großen Philosophen eher die Ausnahme ist – bis zu Jennys Tod im Jahre 1881 eine glückliche Ehe. Kurz nach der Hochzeit wurde die Rheinische Zeitung auf Drängen des russischen Zaren von der preußischen Regierung geschlossen.
Die Familie Marx zog daraufhin nach Paris, wo Karl weitere Arbeit als Journalist fand, die englischen Klassiker der politischen Ökonomie studierte und eine Reihe radikaler Freunde gewann. Der wichtigste unter diesen war Friedrich Engels, der soeben aus Manchester zurückgekehrt war, wo er in der Baumwollspinnerei seines Vaters gearbeitet und eine Studie über die Lage der englischen Arbeiterklasse geschrieben hatte. Nach einem Treffen im Pariser Café de la Régence begannen Marx und Engels gemeinsam die Theorie des Kommunismus auszuarbeiten, d.h. der Abschaffung des privaten zugunsten eines gemeinschaftlichen Eigentums. Das größere Werk, das die beiden Männer gemeinsam verfassten, war Die deutsche Ideologie, die in Brüssel abgeschlossen wurde, wohin Marx umziehen musste, weil man ihn wegen seines subversiven Journalismus aus Paris vertrieben hatte.
In diesem Buch legten Marx und Engels eine materialistische Konzeption der Geschichte dar. Das Leben bestimmt das Bewusstsein, nicht das Bewusstsein das Leben. Die grundlegende Wirklichkeit der Geschichte ist der Prozess der ökonomischen Produktion, und um diese zu verstehen, muss man die materiellen Bedingungen der Produktion verstehen. Die unterschiedlichen Weisen der Produktion führen zur Entstehung von gesellschaftlichen Klassen, zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ihnen, und schließlich zu Formen des politischen Lebens, der Gesetze und der Moral. Die Handmühle resultiert beispielsweise in einer Gesellschaft, der ein Feudalherr vorsteht, während eine dampfgetriebene Mühle eine Gesellschaft herbeiführt, die durch industrielle Kapitalisten dominiert wird. Ein dialektischer Prozess führt die Welt durch diese verschiedenen Stadien in Richtung auf eine Revolution des Proletariats und der Ankunft des Kommunismus.
Die deutsche Ideologie wurde erst viele Jahre nach Marx’ Tod veröffentlicht, doch sind ihre Gedanken in der Schrift Das Elend der Philosophie von 1847 zusammengefasst (die gegen ein Werk von P. J. Proudhon mit dem Titel Philosophie des Elends gerichtet war). Eine bekanntere Darstellung der materialistischen Geschichtskonzeption war das Manifest der Kommunistischen Partei, das Marx im Februar 1848 anhand von Aufzeichnungen von Engels verfasste. Es war als Abriss der Prinzipien und Ideale des neugegründeten Bundes der Kommunisten gedacht. Die Botschaft des Kommunistischen Manifests wurde von Engels im Vorwort einer der späteren Ausgaben zusammengefasst, wo es heißt,
„daß […] die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung; daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien.“ (CM 48)12
Die berühmtesten Sätze des Kommunistischen Manifests waren seine letzten: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
In dem Jahr, in dem das Kommunistische Manifest veröffentlicht wurde, gab es in vielen Städten, insbesondere in Paris, Berlin, Mailand und Rom, bewaffnete Aufstände. Marx und Engels kehrten für kurze Zeit nach Deutschland zurück und drängten die Revolutionäre, ein System der freien staatlichen Erziehung einzurichten, das Transport- und Bankwesen zu verstaatlichen sowie eine progressive Einkommenssteuer durchzusetzen. Nach dem Zusammenbruch der Revolution wurde Marx in Köln zweimal vor Gericht gestellt: Einmal lautete die Anklage auf Beleidigung des Staatsanwalts, das andere Mal auf Anstiftung zu einer Revolte. Er wurde zwar von beiden Anklagen freigesprochen, jedoch aus Preußen ausgewiesen. Er kehrte für kurze Zeit nach Paris zurück, wurde aber auch von dort erneut vertrieben. Den Rest seines Lebens verbrachte er in London, häufig in so bitterer Armut, dass drei seiner sechs Kinder verhungerten.
In London arbeitete Marx unermüdlich an der Entwicklung der Theorie des dialektischen Materialismus. Häufig forschte er bis zu zehn Stunden am Tag in der Bibliothek des Britischen Museums. Im Winter 1857–1858 schrieb er eine Reihe von Notizbüchern, in denen er seine ökonomischen Ideen des vorausliegenden Jahrzehnts zusammenfasste: Sie wurden der Welt erst 1953 bekannt, als sie unter dem Titel Grundrisse herausgegeben wurden. Auf diesen Entwürfen basierte seine Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859. Das Vorwort dieses Werkes enthält eine knappe und verbindliche Beschreibung der materialistischen Geschichtstheorie. Während seines gesamten Lebens versuchte Marx, kommunistische Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Im Jahre 1864 half er bei der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation, besser bekannt als Erste Internationale. Die Vereinigung veranstaltete in neun Jahren sechs Kongresse, doch sie litt unter internen Meinungsverschiedenheiten, die von dem Anarchisten Mikhail Bakunin angeführt wurden. Sie geriet dadurch in Verruf, dass sie den brutalen und vergeblichen Pariser Aufstand des Jahres 1870 befürwortete. 1876 wurde sie aufgelöst.
Marx’ schriftstellerische Karriere erreichte ihren Höhepunkt mit dem kolossalen Werk Das Kapital, in dem er im Einzelnen zu erklären versuchte, wie der Verlauf der Geschichte durch die Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse diktiert wurde. Der erste Band des Werkes erschien 1867 in Hamburg, der zweite und dritte Band waren, als Marx im Jahre 1883 starb, noch unveröffentlicht. Sie wurden nach seinem Tode von Engels herausgegeben. Marx wurde auf dem Friedhof von Highgate neben seiner Frau beerdigt.
Die Grundthese von Marx’ umfassendem Werk lautet, dass sich das kapitalistische System im Zustand des unaufhaltsamen Niedergangs befindet. Zum Kapitalismus gehört seinem innersten Wesen nach die Ausbeutung der Arbeiterklasse, denn der wahre Wert jeglichen Produkts hängt vom Umfang der Arbeit ab, die darin investiert wurde. Der Kapitalist eignet sich jedoch einen Teil dieses Wertes an und zahlt dem Arbeiter weniger als den realen Wert des Produkts. Mit der Entwicklung der Technik und damit auch der Produktivität des Arbeiters landet ein immer größerer Teil des durch die Arbeit erzeugten Wertes in den Taschen des Kapitalisten.13 Diese Ausbeutung erreicht zwangsläufig einen Punkt, an dem sie das Proletariat nicht länger hinnehmen kann und es sich in einem Aufstand dagegen erhebt. Das kapitalistische System wird durch eine Diktatur des Proletariats ersetzt, die das Privateigentum abschaffen und einen sozialistischen Staat errichten wird, in dem sich sämtliche Produktionsmittel unter der Kontrolle der Zentralregierung befinden. Der sozialistische Staat wird seinerseits absterben und durch eine kommunistische Gesellschaft ersetzt werden, in der die Interessen des Einzelnen mit denen der Gemeinschaft übereinstimmen.
Marx’ Vorhersage einer proletarischen Revolution, auf die ein allgemeiner Sozialismus und Kommunismus folgen würden, wurden durch den weiteren Verlauf der Geschichte seit seinem Tod glücklicherweise widerlegt. Doch wie immer er auch selbst hierüber gedacht haben mag: Seine Theorien sind im Wesentlichen philosophischer und politischer statt wissenschaftlicher Natur; und wenn man sie als solche beurteilt, hatten sie sowohl Erfolge als auch Misserfolge. Marx irrte mit seiner Behauptung, dass Ereignisse ausschließlich von ökonomischen Faktoren bestimmt werden. Selbst in Ländern, in denen es zu sozialistischen Revolutionen des marxistischen Typs kam, hat die Macht, über die Einzelpersonen wie Lenin, Stalin oder Mao verfügten, die Theorie, dass die Geschichte ausschließlich von unpersönlichen Kräften geformt wird, Lügen gestraft. Andererseits würde kein Historiker, noch nicht einmal ein Historiker der Philosophie, es heute wagen zu bestreiten, dass ökonomische Faktoren auf Politik und Kultur einen Einfluss ausüben.
Blicken wir nach 150 Jahren auf die Vorschläge des Manifests der Kommunistischen Partei zurück, so finden wir darin eine Mischung voreiliger, drakonischer Maßnahmen, die nur von einer Gewaltherrschaft durchgesetzt werden können (zum Beispiel Beseitigung des Erbrechts und landwirtschaftliche Zwangsarbeit), von Institutionen, die fortschrittliche Länder heute als selbstverständlich ansehen (eine progressive Besteuerung und ein staatliches Schulsystem), sowie Experimente, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mit mehr oder weniger großem Erfolg übernommen wurden (Verstaatlichung des Eisenbahn- und Bankwesens). Betrachtet man Marx als Prophet, so hat ihn der Lauf der Geschichte widerlegt, ebenso wie seine Behauptung, dass die Ideologie lediglich eine Verschleierung des Status quo darstellt. Doch die überzeugendste Widerlegung der These, dass das Bewusstsein zur Bestimmung des Lebens machtlos ist, bietet Marx’ eigene Philosophie. Denn die Geschichte der Welt seit seinem Tod wurde, zum Guten oder Bösen, durch das System seiner Ideen enorm beeinflusst, nicht sofern es sich dabei um eine wissenschaftliche Theorie handelt, sondern als Inspiration für politischen Aktivismus und als Richtlinie politischer Regime.