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1 — Von Bentham bis Nietzsche Benthams Utilitarismus
ОглавлениеGroßbritannien blieben die gewaltsamen konstitutionellen Umbrüche erspart, die sich in den letzten Jahren des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf dem Kontinent vollzogen. Im Jahre 1789, dem Jahr der Französischen Revolution, wurde jedoch in England ein Buch veröffentlicht, das noch weit über den Tod Napoleons hinaus einen revolutionären Einfluss auf die Philosophie der Moral und Politik ausüben sollte. Es handelte sich hierbei um Jeremy Benthams Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung (An Introduction to the Principles of Morals and Government),1 die zum Gründungsdokument der als Utilitarismus bezeichneten Denkrichtung wurde.
Bentham wurde im Jahre 1748 als Sohn eines wohlhabenden Londoner Anwalts geboren. Er war ein für sein Alter kleines, auf Bücher versessenes, altkluges Kind und wurde mit sieben Jahren in die Westminster School geschickt. Mit 15 Jahren absolvierte er das Queen’s College in Oxford. Er war für eine juristische Laufbahn bestimmt. Mit 21 Jahren wurde er als Anwalt zugelassen, doch die juristische Praxis seiner Zeit war ihm zuwider. Die zeitgenössische Rechtstheorie hatte ihn bereits abgestoßen, als er in Oxford die Vorlesungen des berühmten Juristen William Blackstone hörte. Er hielt das englische Rechtssystem für schwerfällig, künstlich und widerspruchsvoll: Es sollte nach vernünftigen juristischen Prinzipien von Grund auf rekonstruiert werden.
Das grundsätzlichste dieser Prinzipien verdankte er nach eigenen Angaben Hume. Er berichtet, dass es ihm, als er die Abhandlung über die menschliche Natur gelesen hatte, wie Schuppen von den Augen gefallen und er zu der Überzeugung gelangt sei, der Nutzen sei das Kriterium und Maß aller Tugend und der einzige Ursprung der Gerechtigkeit. Ausgehend von einem Aufsatz des Chemikers Joseph Priestley, der ihm widersprach, legte Bentham das Prinzip der Nützlichkeit so aus, dass das Glück der Mehrheit der Bürger das Kriterium sei, nach dem man die Angelegenheiten eines Staates beurteilen sollte. Allgemeiner formuliert: Der wahre Maßstab der Moralität und das wahre Ziel der Gesetzgebung sei das größte Glück der größten Zahl.
Während der 1770er Jahre arbeitete Bentham an einer Kritik von Blackstones Kommentaren zum englischen Recht (Commentaries on the Laws of England). Ein Teil davon wurde im Jahre 1776 als Ein Fragment über die Regierung (A Fragment on Government) veröffentlicht. In dieser Schrift griff Bentham den Begriff eines Gesellschaftsvertrages an. Zur gleichen Zeit schrieb er eine Dissertation über Strafe, in der er sich auf den italienischen Strafrechtler Cesare Beccaria (1738–1794) berief. Eine Analyse des Zweckes und der Grenzen der Strafe macht mit einer Darlegung des Prinzips der Nützlichkeit den Hauptteil der Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung aus, die Bentham 1780 abschloss: neun Jahre bevor sie schließlich herausgegeben wurde.
Das Fragment über die Regierung war der erste Text, in dem Bentham das Prinzip, dass „das größte Glück der größten Zahl der Maßstab für das Richtige und Falsche“ ist, öffentlich darlegte. Obwohl das Buch anonym veröffentlicht wurde, fand es einige einflussreiche Leser, unter anderem den Grafen von Shelburne, einen führenden Politiker der Whigpartei, der später für kurze Zeit Premierminister wurde. Als Shelburne erfuhr, dass Bentham der Autor des Werkes war, machte er ihn zu seinem Schützling und führte ihn in politische Kreise in England und Frankreich ein. Zu den bedeutendsten neuen Freunden Benthams in England gehörte Caroline Fox, die Nichte von Charles James Fox. Im Jahre 1805 machte er ihr, nachdem er zwar lange, aber nicht kontinuierlich um sie geworben hatte, einen erfolglosen Heiratsantrag. Der wichtigste unter den französischen Bekannten war Étienne Dumont, der Privatlehrer von Shelbournes Sohn, der später eine Reihe von Übersetzungen seiner Werke herausgeben sollte. Eine Zeit lang war Bentham in Frankreich bekannter als in Großbritannien.
Die Jahre 1785–1787 verbrachte Bentham im Ausland. Er reiste durch Europa und wohnte eine Zeitlang bei seinem Bruder Samuel, der in Krytschau in Weißrussland die Güter des Prinzen Potemkin verwaltete. Während seines Aufenthalts ersann er die Idee des Panopticons, eines neuartigen Gefängnisses: eines kreisförmigen Gebäudes mit einem zentralen Beobachtungspunkt, von dem aus der Gefängniswärter alle Gefangenen ständig im Auge behalten konnte. Er kehrte voller Enthusiasmus für Gefängnisreformen aus Russland zurück und versuchte, die britische und französische Regierung zu überreden, ein Modellgefängnis zu bauen. Das Parlament von William Pitt verabschiedete ein Gesetz, welches den Plan genehmigte, doch er wurde durch herzogliche Landbesitzer, die in der Nähe ihrer Ländereien kein Gefängnis haben wollten, sowie durch die persönliche Intervention von König Georg III. – so nahm Bentham zumindest an – durchkreuzt. Die französische Nationalversammlung nahm zwar sein Angebot, die Aufsicht über den Bau eines Panopticons zu übernehmen, nicht an, doch machte sie ihn zu einem Ehrenbürger der Republik.
Benthams Interesse an der Theorie und Praxis des Rechts ging weiter als seine ursprüngliche Beschäftigung mit Fragen des Strafrechts. Da er durch den verworrenen Zustand des bürgerlichen Rechts verärgert war, schrieb er eine umfangreiche Abhandlung Über Gesetze im Allgemeinen (Of Laws in General), die – wie so viele seiner Werke – erst viele Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Im Rahmen seiner Überlegungen zu den Armengesetzen schlug er vor, man solle ein Netzwerk von Panopticons aufbauen, die als Arbeitshäuser für die „beschwerlichen Armen“ dienen sollten. Es sollte von einer nationalen Aktiengesellschaft geleitet werden, die einen Gewinnanteil einbehielt, nachdem der Erlös der Arbeit der Insassen ihren Unterhalt gedeckt hatte. Es wurde nie ein Panopticon gebaut: weder als Gefängnis noch als Produktionsstätte. Im Jahre 1813 beschloss das Parlament, Bentham als Ausgleich für seine Arbeit an dem Plan die riesige Summe von 23.000 Pfund zu zahlen.
Benthams Plan eines perfekten Gefängnisses: des Panopticons.
Im Jahre 1808 befreundete sich Bentham mit James Mill, einem schottischen Philosophen, der soeben eine monumentale Geschichte Indiens zu schreiben begonnen hatte. Mill hatte einen ungewöhnlichen zweijährigen Sohn, John Stuart, und Bentham half ihm bei der Erziehung des Wunderkindes. Bentham, der einige Jahre lang über die Prinzipien gerichtlicher Zeugenaussagen und Indizien gearbeitet hatte, begann jetzt, zum Teil unter dem Einfluss Mills, sich stärker auf politische und konstitutionelle Reformen zu konzentrieren, statt auf die Kritik juristischer Verfahren und Praktiken. Er schrieb einen Katechismus der Parlamentsreform, den er im Jahre 1809 abschloss, der aber erst 1817 veröffentlicht wurde. Ein oder zwei Jahre später folgte ihm der Entwurf eines radikalen Reformgesetzes. Er arbeitete viele Jahre am Entwurf eines Verfassungsgesetzes, das bei seinem Tode unvollendet war. Gegen Ende seines Lebens war er zu der Überzeugung gelangt, die vorhandene britische Verfassung sei ein Blendwerk, das eine Verschwörung der Reichen gegen die Armen verschleiere. Daher trat er für die Abschaffung der Monarchie und des Oberhauses, die Einführung jährlich durch allgemeine Wahlen zu konstituierender Parlamente sowie für die Entstaatlichung der anglikanischen Kirche (Church of England) ein.
Benthams Anregungen zu konstitutionellen und liberalen Reformen beschränkten sich keineswegs auf die Angelegenheiten Großbritanniens. Im Jahre 1811 schlug er James Madison vor, er solle ein Verfassungsrecht (constitutional code) für die Vereinigten Staaten von Amerika entwerfen. Er engagierte sich im Griechischen Komitee Londons, das die Expedition von Lord Byron, während der er im Jahre 1823 ums Leben kam, finanziell unterstützte. Eine Zeitlang hegte er die Hoffnung, sein Verfassungsrecht könnte durch den kolumbianischen Präsidenten Simón Bolívar in Lateinamerika eingeführt werden.
Die Gruppe der „philosophischen Radikalen“, die die Ideale von Bentham akzeptierten, gründete 1823 die Westminster Review, um die Sache des Utilitarismus voranzubringen. Sie bestand aus enthusiastischen Befürwortern einer Reform des Erziehungswesens. Bentham entwarf einen Lehrplan für die Sekundarstufe, der Wissenschaft und Technik eine größere Bedeutung als Griechisch und Latein zuwies. Er und seine Freunde bemühten sich um die Gründung des University College London, das 1828 die ersten Studenten aufnahm. Es war die erste universitäre Institution Großbritanniens, die Studenten ohne eine Prüfung im Fach Religion aufnahm. Gemäß seinem Testament wurde Benthams Leichnam nach seinem Tode im Jahre 1823, bekleidet und mit einem Kopf aus Wachs versehen, im University College London ausgestellt. Seine von ihm so genannte „Auto-Ikone“ ist dort bis heute zu sehen. Ein passenderes Denkmal für seine Bemühungen war der Great Reform Act von 1832, der die Rechte des Parlaments wesentlich stärkte. Das Gesetz wurde wenige Wochen vor seinem Tode verabschiedet.
Unter denen, die ihn gut kannten, gaben selbst seine größten Bewunderer zu, er sei eine sehr einseitige Persönlichkeit gewesen, begabt mit einem beeindruckenden Intellekt, jedoch mit nur wenig Gefühl. John Stuart Mill sagte über ihn, er zeichne sich durch ein präzises und konsistentes Denken aus, doch fehle es ihm an der Fähigkeit, sich mit den natürlichsten und stärksten Gefühlen der Menschen zu identifizieren. Karl Marx bemerkte, er halte den englischen Ladenbesitzer für das Musterbeispiel eines menschlichen Wesens. Zu keiner Zeit und in keinem Land, sagte Marx, habe sich der hausbackenste Gemeinplatz jemals so selbstgefällig breitgemacht (C 488). Benthams Kenntnis der menschlichen Natur war in der Tat sehr begrenzt. „Sie ist völlig empirisch“, erklärte Mill, „und basiert auf dem Empirismus von jemandem, der wenig Erfahrung hat.“ Mill zufolge wurde er niemals erwachsen: „Er war bis zum Schluss ein Knabe“ (U 78).