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Psychologie und Pragmatismus bei William James
ОглавлениеWilliam James (1842–1910) war sechs Jahre älter als Frege, doch er begann seine philosophische Karriere erst sehr spät in seinem Leben. Er wurde in New York als Sohn eines von Swedenborg beeinflussten Theologen geboren. Sein jüngerer Bruder war der berühmte Romanautor Henry James. Seine Ausbildung erhielt er teilweise in Amerika und zum Teil in Europa, wo er Schulen in Frankreich und Deutschland besuchte. Er wusste eine Zeitlang nicht, ob er Maler oder Arzt werden sollte, schrieb sich jedoch 1846 an der medizinischen Fakultät von Harvard ein. Nachdem er sein Examen bestanden hatte, war er längere Zeit krank und litt unter Depressionen. Nach seiner Genesung (die er der Lektüre der Werke des französischen Philosophen Charles Renouvier zuschrieb) erhielt er an der medizinischen Fakultät von Harvard die Stelle eines Dozenten für Anatomie und Physiologie. Er wendete sich nun jedoch der empirischen Psychologie zu und gründete 1876 das erste psychologische Forschungslabor Amerikas. Zu seinen Schülern gehörte unter anderen die Romanautorin Gertrude Stein. Sein zweibändiges Werk über die Prinzipien der Psychologie (1890) war eine schwungvolle Zusammenfassung der Ergebnisse dieser noch jungen Disziplin. James zufolge bestand die Aufgabe der Psychologie darin, die Zustände des Gehirns mit den Phänomenen des Bewusstseinsstroms in Verbindung zu bringen.
Das Werk wurde zu einem Standardlehrbuch, doch als es erschien, hatte James bereits die Psychologie verlassen und war Professor der Philosophie geworden. Das Fach hatte ihn seit seinen Diskussionen mit Peirce und den anderen Mitgliedern des 1872 gegründeten Metaphysical Club fasziniert. Wie sein Vater hatte James ein großes Interesse an religiösen Fragen, und er war darum bemüht, eine wissenschaftliche Weltsicht mit einem Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in Einklang zu bringen. Seine Karriere als professioneller philosophischer Autor begann mit dem Erscheinen seines Buches Der Wille zum Glauben, in dem er Situationen erörterte, in denen wir uns in einer Frage entscheiden müssen, ohne über überzeugende theoretische Beweise zu verfügen. Er meinte, dass in dieser Situation unsere Pflicht, die Wahrheit zu glauben, ebenso groß sei wie die Pflicht, Irrtümer zu vermeiden. Er erlangte schon bald einen internationalen Ruf und 1901–1902 gab er die Gifford Lectures in Edinburgh heraus, die später unter dem Titel Die Vielfalt religiöser Erfahrung erschienen. In diesem Werk stellte er sich die Aufgabe, „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen einzelner Menschen in ihrer Einsamkeit“ zu untersuchen, „insofern sie sich so verstehen, dass sie in einer Beziehung zu demjenigen stehen, was sie als das Göttliche betrachten“. Er unterwarf die Phänomene der Mystik und andere Formen religiöser Empfindung der empirischen Untersuchung, in der Hoffnung, auf diese Weise ihre Echtheit und Gültigkeit unter Beweis stellen zu können.
Mit der Publikation seines Werkes Pragmatismus (1907) festigte James seine Position als Altmeister der amerikanischen Philosophie. Sowohl der Titel als auch das Hauptthema des Buches wurden von James Peirce zugeschrieben, und in seiner Formulierung des pragmatischen Prinzips wird diese intellektuelle Schuld offensichtlich.
„Um daher vollständige Klarheit in unsere Gedanken über einen Gegenstand zu bringen, müssen wir lediglich erwägen, welche praktischen Auswirkungen dieser Gegenstand hat, welche Wahrnehmungen wir erwarten und welche Reaktionen wir vorbereiten müssen. Unsere Vorstellung von diesen Auswirkungen, seien sie unmittelbare oder mittelbare Wirkungen, macht dann für uns die ganze Vorstellung dieses Gegenstandes aus, sofern diese Vorstellung überhaupt eine positive Bedeutung hat.“ (P 47)
Während Peirce’ Pragmatismus eine Theorie der Bedeutung war, war James’ Version eine Theorie der Wahrheit, und während Peirce’ Pragmatismus unpersönlich und objektiv war, war James’ Pragmatismus individualistisch und subjektiv. Dies ist der Grund, warum Peirce James’ Theorie ablehnte und seine eigene Theorie in „Pragmatizismus“ umbenannte.
James’ Pragmatismus zufolge ist eine Idee so lange wahr, wie es für unser Leben vorteilhaft ist, daran zu glauben. „Wahr ist der Name für das, woran zu glauben für uns gut ist“ (P 42).
Er und seine Anhänger fassten dies manchmal in dem Motto zusammen: „Das Wahre ist das, was funktioniert.“ Kritiker wendeten ein, dass der Glaube an eine Unwahrheit die Menschen glücklicher machen könne als der Glaube an die Wahrheit, was zur Folge hatte, dass die Wahrheit nicht mit dem gleichgesetzt werden dürfe, was sich auf lange Sicht als zufriedenstellend erweist. Gläubige und Ungläubige waren gleichermaßen schockiert über James’ Behauptung, dass „die Hypothese von Gott wahr ist, wenn sie eine im weitesten Sinne befriedigende Wirkung hat“ (P 143).
James bestand darauf, dass seine Theorie keiner Leugnung der objektiven Wirklichkeit gleichkomme. Wirklichkeit und Wahrheit sind voneinander verschieden. Dinge haben Wirklichkeit; wahr sind Ideen und Überzeugungen. „Wirklichkeiten sind nicht wahr, sie sind; wahr sind die Überzeugungen von ihnen“ (T 196). Ob eine Überzeugung wahr ist oder nicht, erfahren wir nicht dadurch, dass wir entdecken, ob ihre Konsequenzen gut sind; vielmehr sind es die Konsequenzen, die „mit diesem Unterschied in unseren Überzeugungen, der mit unserer Gewohnheit, sie wahr oder falsch zu nennen, übereinstimmt, die einzig begreifbare praktische Bedeutung“ zuweisen (T 273).
Es wird häufig gesagt, dass dasjenige, was eine Überzeugung wahr macht, ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist. James ist bereit, dies zu akzeptieren, doch fragt er, was der Begriff der Übereinstimmung konkret bedeutet. Reden wir davon, dass eine Idee auf die Wirklichkeit „zeigt“ oder ihr „entspricht“ oder „korrespondiert“ oder „sich mit ihr deckt“, so ist das, wovon wir wirklich sprechen, der Prozess der Überprüfung oder Bestätigung, der uns von der Idee zur Wirklichkeit führt. Ein solches vermittelndes Geschehen macht James zufolge die Idee wahr.
In einer Reihe von Aufsätzen (die in The Meaning of Truth (Die Bedeutung der Wahrheit) [1909] zusammengefasst wurden) verteidigt, präzisiert und verbessert James seinen Pragmatismus. Doch es blieb unklar, ob in seinem System die tatsächliche Existenz einer Wirklichkeit eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Überzeugung von ihrer Existenz zufriedenstellend (satisfactory) ist (was ihn zur Korrespondenz als Element der Wahrheit verpflichtet) oder ob der Glaube an einen Gegenstand auch dann zufriedenstellend sein kann, wenn der Gegenstand nicht wirklich existiert (wodurch er sich dem Vorwurf aussetzt, Wunschdenken wirklicher Forschung vorzuziehen).
In demselben Jahr, in dem er The Meaning of Truth herausgab, veröffentlichte James außerdem die Schrift A Pluralistic Universe, in der er den Pragmatismus zur Stützung einer religiösen Weltsicht verwendet. Er sprach darin von unserem Bewusstsein eines „weiteren Selbst, von dem aus erlösende Erfahrungen einströmen“, und von einem „mütterlichen Meer des Bewusstseins“ (mother sea of consciousness). Er glaubte jedoch, dass das Ausmaß des Leidens in der Welt uns daran hindere, an eine unendliche absolute Gottheit zu glauben: Dem übermenschlichen Bewusstsein fehlt es entweder an Macht oder Wissen oder an beidem. Selbst Gott kann die Zukunft nicht bestimmen oder vorhersagen. Ob die Welt besser oder schlechter werden wird, hängt von den Entscheidungen der mit ihm kooperierenden menschlichen Wesen ab.
Im hohen Alter war James, der ein großherziger und geselliger Mensch war und eine hervorragende Mitteilungsgabe besaß, eine inner- und außerhalb der USA hoch verehrte Persönlichkeit. Peirce hingegen war isoliert und verarmt. 1907 fand ihn einer von James’ Studenten halb verhungert in einer Pensionsunterkunft in Cambridge. James organisierte einen Spendenfond, aus dem Peirce bis 1914, dem Jahr, in dem er an Krebs verstarb, seine Grundbedürfnisse decken konnte. James selbst starb 1910 an einem Herzleiden. Auf seinem Sterbebett in Cambridge bat er seinen Bruder Henry, sechs Wochen lang in der Nähe zu bleiben, um Nachrichten zu empfangen, die er ihm vom Jenseits aus schicken könnte. Keine solcher Mitteilungen wurde aufgezeichnet.
In England entwickelte F. C. S. Schiller (1864–1937) eine Version des Pragmatismus, die er als „Humanismus“ bezeichnete. Schiller hatte in Oxford am Balliol College studiert und für eine Weile an der Cornell-Universität nördlich von New York unterrichtet, wo er William James begegnete. Im Anschluss daran kehrte er nach Oxford zurück, zum Corpus Christi College, an dem er ein Fellowship erhalten hatte. Philosophisch war er in Oxford vereinsamt, da in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die philosophischen Seminare der größeren Universitäten im Vereinigten Königreich von einer britischen Version des Idealismus Hegels dominiert wurden.