Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 17

2 — Von Peirce bis Strawson Peirce und der Pragmatismus

Оглавление

Sämtliche Denker, mit denen wir uns in diesen Bänden bisher beschäftigt haben, kamen entweder aus Europa, Nordafrika oder dem Mittleren Osten. Der amerikanische Kontinent, auf dem heute einige der einflussreichsten Philosophen der Welt arbeiten, war bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts philosophisch wenig fruchtbar. Im 18. Jahrhundert lieferten der calvinistische Theologe Jonathan Edwards (1703–1758) und der universalgelehrte Aufklärer Benjamin Franklin (1706–1790) scharfsinnige Beiträge zu verschiedenen Bereichen der Philosophie. Im frühen 19. Jahrhundert vertrat der Essayist Ralph Waldo Emerson (1803–1882) eine als „Transzendentalismus“ bezeichnete Form des Idealismus, die in den Vereinigten Staaten für kurze Zeit in Mode war. Ihren Kinderschuhen entwuchs die amerikanische Philosophie jedoch erst mit dem Werk von Charles Sanders Peirce (1839–1914).

Peirce war der Sohn eines hervorragenden Mathematikprofessors an der Universität Harvard, an der er im Jahre 1863 ein Chemiediplom mit der Note summa cum laude ablegte. Er arbeitete 30 Jahre für die Küstenvermessung der amerikanischen Regierung. Außerdem unternahm er Forschungen an der Sternwarte der Universität Harvard. Das einzige von ihm veröffentlichte Buch, Photometric Researches (Fotometrische Forschungen), war ein Werk der Astronomie. Um 1872 schloss er sich einer Diskussionsgruppe um William James, Chauncey Wright, Oliver Wendell Holmes und anderen an, die als Metaphysical Club bekannt war. In Harvard unterrichtete er die Geschichte und Logik der Naturwissenschaften in mehreren Vorlesungszyklen und von 1879 bis 1884 war er Dozent für Logik an der neuen, auf Forschung ausgerichteten Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Er war ein schwieriger Kollege, der für akademische Konventionen wenig Geduld aufbrachte, und 1883 ging seine Ehe mit Melusina Fay, einer Pionierin des Feminismus, auseinander. Es gelang ihm nicht, eine feste Anstellung zu bekommen, und er bekleidete nie wieder eine akademische Position oder eine sonstige Vollzeitstelle. In seinen späten Lebensjahren lebte er mit seiner zweiten, ihm treu ergebenen Frau Juliette verarmt in Pennsylvania.

Peirce war ein höchst origineller Denker. Wie viele andere Philosophen des 19. Jahrhunderts, nahm er als seinen Ausgangspunkt die Philosophie von Kant, von dessen Kritik der reinen Vernunft er behauptete, er kenne sie fast auswendig. Doch hielt er Kants Verständnis der formalen Logik für amateurhaft. Als er sich daranmachte, diesen Mangel zu beheben, fand er es notwendig, große Teile des kantischen Systems, wie zum Beispiel die Theorie der Kategorien, umzugestalten. Er kannte und bewunderte die Schriften der mittelalterlichen Scholastiker, insbesondere die Werke von Duns Scotus, was unter seinen Zeitgenossen ungewöhnlich war. Diejenige Eigenschaft der scholastischen Philosophen (und gotischer Architekten), die er am meisten lobte, war das gänzliche Fehlen jeglicher Form von Eigendünkel. Von seinen eigenen Leistungen hatte er eine hohe Meinung: In der Logik ließ er nur Aristoteles und Leibniz als ihm ebenbürtig gelten. Seine philosophischen Arbeiten decken einen breiten Bereich ab, nicht nur in der Logik im engeren Sinne, sondern sie umfassen auch die Theorie der Sprache, die Erkenntnistheorie und die Philosophie des Geistes. Er war der Begründer des Pragmatismus, einer der einflussreichsten amerikanischen Schulen der Philosophie.

Zu seinen Lebzeiten wurde Peirce’ Philosophie der Öffentlichkeit nur in einer Reihe von Aufsätzen in Fachzeitschriften bekannt. Im Jahre 1868 veröffentlichte er im Journal of Speculative Philosophy zwei Aufsätze mit dem Titel „Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man“ (Bestimmte angebliche Fähigkeiten des Menschen betreffende Fragen), in denen er eine frühe Version seiner Erkenntnistheorie darlegte. Ihre Ergebnisse waren hauptsächlich negativ: Wir verfügen über keine Kraft der Introspektion und wir sind unfähig, ohne die Verwendung von Zeichen zu denken. Vor allem verfügen wir nicht über die Kraft der Intuition: Jede Erkenntnis ist logisch durch irgendeine frühere Erkenntnis bestimmt. Einflussreicher war eine Reihe von „Veranschaulichungen der Logik der Naturwissenschaften“, die in den Jahren 1877–1878 im Popular Science Monthly1 erschien. In diesen Beiträgen formulierte er sein Prinzip des Fallibilismus, welches besagt, dass sich sämtliche Wissensansprüche des Menschen letztlich als falsch erweisen können. Er bestand darauf, dass dies nicht bedeute, dass es so etwas wie objektive Wahrheit nicht gebe. Die absolute Wahrheit ist das Ziel der wissenschaftlichen Forschung, doch das meiste, was wir erreichen können, ist eine immer größere Annäherung an die Wahrheit. Einer der Artikel aus dem Jahre 1878 enthält eine erste Formulierung dessen, was später als das „Prinzip des Pragmatismus“ bezeichnet wurde. Die Formulierung besagt: Wollen wir uns Klarheit über unsere Gedanken zu einem Gegenstand verschaffen, so müssen wir uns lediglich fragen, welche denkbaren Wirkungen praktischer Natur mit dem Gegenstand in Zusammenhang stehen (EWP 300).

1884 gab Peirce eine Sammlung von Johns-Hopkins-Studien zur Logik heraus. Er schrieb einen Aufsatz zur Logik der Relationen, und sein auf Quantifikation beruhendes System der Logik wurde von einem seiner Studenten vorgestellt. Das System enthielt eine neue Schreibweise zur Darstellung der Syntax der Relationen. So konnte zum Beispiel das zusammengesetzte Zeichen „Lij“ den Satz darstellen, dass Isaak Jessica liebt, und das Zeichen „Gijk“ den Satz, dass Isaak Jessica Kore gab. Außerdem enthielt das System zwei Quantoren, den Existenzquantor „Σ“ (der für „einige“ steht) und den Allquantor „Π“ (der für „alle“ steht). Die Syntax von Peirce’ „Allgemeiner Algebra der Logik“, wie er sie nannte, entsprach derjenigen des Logiksystems, das Gottlob Frege einige Jahre früher in Deutschland entwickelt hatte, ihm jedoch unbekannt war.


C. S. Peirce mit seiner zweiten Frau Juliette.

In der Fachzeitschrift The Monist stellte Peirce in dem Aufsatz „Eine Vermutung über das Rätsel“ („A Guess at the Riddle“) (1891–1892) seine Metaphysik und seine Philosophie des Geistes vor dem Hintergrund einer allgemeinen evolutionären Kosmologie vor. Die definitive Darstellung seines Pragmatismus (den er nun lieber als „Pragmatizismus“ bezeichnete, da er mit einigen der Thesen seiner Schüler nichts zu tun haben wollte) erfolgte in einer Reihe von Vorlesungen, die er 1903 in Harvard hielt, sowie in einer weiteren Reihe von Aufsätzen, die 1905 in The Monist erschienen. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Peirce intensiv an der Entwicklung einer allgemeinen Zeichentheorie – einer Semiotik, wie er sie nannte – als Bezugssystem einer Philosophie des Denkens und der Sprache. Viele dieser Ideen, die von einigen als sein wichtigster Beitrag zur Philosophie angesehen werden, wurden zwischen 1903 und 1912 in einem Briefwechsel mit der Engländerin Victoria Welby ausgearbeitet.

Die umfassende philosophische Synthese, an der er viele Jahre lang arbeitete, wurde von Peirce niemals fertiggestellt, und bei seinem Tode hinterließ er eine große Zahl unveröffentlichter Entwürfe, von denen viele postum herausgegeben wurden, als man sich im 20. Jahrhundert für sein Werk zu interessieren begann. Sein Einfluss auf andere Philosophen steht nicht im Verhältnis zu seinem Genie. Peirce’ Arbeiten zur Logik wurden nie in vollständig rigoroser Form dargestellt, und es war Frege, der – durch Russell – der Welt das logische System gab, das die beiden unabhängig voneinander ersonnen hatten. Peirce’ subtile Form des Pragmatismus hatte nie die gleiche Anziehungskraft wie die populärere Version seines Bewunderers William James. Daher wenden wir uns nun den Werken von Frege und James zu.

Geschichte der abendländischen Philosophie

Подняться наверх