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Wittgensteins Spätphilosophie

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In den 1930er Jahren wurde Wittgenstein zum einflussreichsten philosophischen Lehrer Großbritanniens. Während dieses Zeitraums stellte er die Erkenntnistheorie und die Philosophie des Geistes auf den Kopf. Frühere Philosophen, von Descartes bis Schlick, waren darum bemüht zu zeigen, wie das Wissen über die Außenwelt – sei es wissenschaftlich oder alltäglich – aus letzten, unmittelbaren privaten Anschauungsdaten oder Erfahrungen aufgebaut werden konnte. Wittgenstein zeigte in diesen Jahren, dass die private Erfahrung, weit davon entfernt, das unerschütterliche Fundament zu sein, auf dem Wissen und Überzeugung aufgebaut werden konnten, selbst eine geteilte öffentliche Welt voraussetzte. Selbst die Wörter, von denen wir bei der Formulierung unserer geheimsten und innersten Gedanken Gebrauch machen, leiten den einzigen Sinn, den sie haben, von ihrer allgemeinen Verwendung in unseren Gesprächen mit anderen Personen ab. Das Problem der Philosophie besteht nicht darin, die öffentlich zugängliche Welt aus privaten Elementen zu konstruieren, sondern der privaten Welt im Kontext der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Nach seiner Rückkehr zur Philosophie gab Wittgenstein viele Thesen des Tractatus auf. Er glaubte nun nicht mehr an logische Atome und suchte nicht mehr nach einer logisch gegliederten Sprache, die durch die Alltagssprache verschleiert wurde. Eine zentrale Lehre des logischen Atomismus war die These, dass jeder Elementarsatz von jedem anderen Elementarsatz unabhängig ist. Dies traf auf die Protokollsätze der Positivisten offenbar nicht zu: Der Wahrheitswert des Satzes „Dies ist ein roter Fleck“ ist nicht unabhängig vom Wahrheitswert des Satzes „Dies ist ein blauer Fleck“. Das Nachdenken über diese Tatsache ließ Wittgenstein den Unterschied zwischen elementaren und nichtelementaren Aussagen infrage stellen und führte ihn dazu, die Vorstellung aufzugeben, dass die letzten Elemente der Sprache Namen sind, die einfache Gegenstände bezeichnen.


A. J. Ayer, der dem logischen Positivismus in den 1930er Jahren in Großbritannien zu Popularität verhalf.

Wittgenstein gelangte zu der Auffassung, dass er die Beziehung zwischen Sprache und Welt im Tractatus grob vereinfacht hatte: Die Beziehung zwischen den beiden sollte nur auf Zweierlei beruhen: auf der Verbindung von Namen mit Gegenständen und auf der Übereinstimmung oder Diskrepanz von Aussagen und Tatsachen. Dies hielt er jetzt für einen großen Irrtum. Wörter sehen einander auf die gleiche Weise ähnlich, auf die ein Kupplungs- einem Bremspedal ähnlich sieht. Doch Wörter sind in ihren verschiedenen Funktionen ebenso verschieden wie die von den beiden Pedalen betätigten Mechanismen. Wittgenstein hob jetzt hervor, dass die Sprache mit der Welt auf vielfältige Weise verwoben ist, und zur Bezeichnung dieser Verbindungen prägte er den Ausdruck „Sprachspiel“.

Als Beispiele für Sprachspiele nennt Wittgenstein: gehorchen und befehlen, das Aussehen von Gegenständen beschreiben, Empfindungen ausdrücken, Messergebnisse mitteilen, Gegenstände nach einer Beschreibung herstellen, über ein Ereignis berichten, über die Zukunft spekulieren, Geschichten erfinden, Schauspiele aufführen, Rätsel raten, Witze erzählen, Fragen stellen, fluchen, jemanden begrüßen und beten. Jedes dieser Sprachspiele und viele andere müssen untersucht werden, wenn wir die Sprache verstehen wollen. Wir können sagen, dass die Bedeutung eines Wortes seiner Verwendung in einem Sprachspiel entspricht. Dies ist jedoch keine allgemeine Theorie der Bedeutung, sondern lediglich eine Erinnerung an Folgendes: Wollen wir die Bedeutung eines Wortes erklären, so müssen wir nach der Rolle suchen, die es in unserem Leben spielt. Die Verwendung des Wortes „Spiel“ sollte nicht nahelegen, dass Sprache etwas Triviales ist. Das Wort wurde ausgewählt, weil für Spiele die gleiche Vielfalt typisch ist, durch die sich auch die Verwendung der Sprache auszeichnet. Es gibt keine allgemeine Eigenschaft, die alle Spiele zu Spielen macht, und ebenso wenig gibt es irgendeine Eigenschaft, die für Sprache wesentlich ist. Es gibt lediglich eine Familienähnlichkeit zwischen den zahllosen Sprachspielen.

Wittgenstein gab später seine frühere Sicht der Philosophie auf, nach der sie eine Aktivität und keine Theorie ist. Die Philosophie entdeckt keine neuen Wahrheiten, und philosophische Probleme werden nicht durch die Gewinnung neuer Informationen gelöst, sondern durch die Neuordnung dessen, was wir bereits wissen. Die Funktion der Philosophie, sagte Wittgenstein einmal, bestehe darin, die Knoten in unserem Denken aufzulösen. Dies bedeutet, dass die Manöver des Philosophen zwar kompliziert sein werden, sein Ergebnis aber so einfach wie ein Stück Bindfaden.

Wir benötigen die Philosophie, wenn wir es vermeiden wollen, der Verführung durch unsere Sprache zu erliegen. Die Oberflächengrammatik unserer Sprache verkörpert eine Philosophie, die uns verhext, indem sie die Vielfalt der verschiedenen Weisen vor uns verschleiert, auf die die Sprache als gesellschaftliche, interpersonale Aktivität funktioniert. Philosophische Missverständnisse fügen uns keinen Schaden zu, wenn wir uns auf alltägliche Aufgaben beschränken, indem wir Wörter in Sprachspielen verwenden, in denen sie ihr einfaches Zuhause haben. Wenn wir uns jedoch abstrakten Untersuchungen zuwenden – zum Beispiel in der Mathematik, der Psychologie oder der Theologie –, dann wird unser Denken behindert und verzerrt, wenn es uns nicht gelingt, uns aus philosophischer Verwirrung zu befreien. Die philosophische Nachforschung wird durch mythische Auffassungen über das Wesen von Zahlen, des Geistes oder der Seele in die Irre geführt.

Wie die Positivisten stand Wittgenstein der Metaphysik feindlich gegenüber. Doch er griff die Metaphysik nicht mit einer stumpfen Waffe wie dem Verifikationsprinzip an, sondern indem er sorgfältige Unterscheidungen traf, die es ihm ermöglichten, die Mischung zwischen Gemeinplätzen und Unsinn innerhalb der metaphysischen Systeme zu entwirren. „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ‚Wissen‘, ‚Sein‘, ‚Gegenstand‘, ‚Ich‘, ‚Satz‘, ‚Name‘ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“ (PI I 116) 10. In den Jahren zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in denen Wittgenstein in Cambridge unterrichtete, veröffentlichte er nichts. Er schrieb unablässig und füllte zahlreiche Notizbücher, schrieb Manuskripte, verfasste sie neu und verteilte umfangreiche Vorlesungsskripte an seine Studenten, die außerdem detaillierte Mitschriften seiner Vorlesungen erstellten und aufbewahrten. Doch bis zu seinem Tode wurde nichts von diesen Texten veröffentlicht. Seine Ideen zirkulierten, häufig in entstellter Form, größtenteils durch mündliche Weitergabe.

Als Österreich durch den Anschluss 1938 zu einem Teil Nazi-Deutschlands wurde, beantragte Wittgenstein die britische Staatsbürgerschaft. Während des Krieges arbeitete er als Sanitäter. 1947 gab er seinen Cambridger Lehrstuhl auf, der von seinem Schüler Georg Henrik von Wright übernommen wurde. Er schrieb weiterhin philosophische Texte und teilte engen Freunden und Schülern seine philosophischen Gedanken mit. Nachdem er einige Zeit lang einsam in Irland gelebt hatte, verbrachte er die Zeit, bis er 1951 im Alter von 62 Jahren starb, in den Häusern verschiedener Freunde in Oxford und Cambridge.

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