Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 21

Russell über Mathematik, Logik und Sprache

Оглавление

Relationen waren für Russell um diese Zeit von besonderem Interesse, da er sich gerade intensiv mit der Philosophie der Mathematik beschäftigte, in der relationale Aussagen wie „n ist der Nachfolger von M“ eine wichtige Rolle spielen. Unabhängig von Frege und anfänglich ohne Kenntnis seiner Werke hatte Russell ein logizistisches Projekt verfolgt und versucht, die Mathematik von der reinen Logik abzuleiten. Sein Unternehmen war sogar ehrgeiziger als Freges, da er zu zeigen hoffte, dass nicht nur die Arithmetik, sondern auch die Geometrie und Differenzialrechnung von allgemeinen logischen Axiomen abgeleitet waren. Zwischen 1900 und 1903, zum Teil beeinflusst durch den italienischen Mathematiker Giuseppe Peano, arbeitete er seine diesbezüglichen Ideen zu einem umfangreichen Buch aus, den Principia Mathematica. Auf das Paradoxon, das seinen Namen trägt, stieß er im Verlauf dieser Arbeiten: das Paradoxon, das sich dadurch ergibt, wenn man versucht, die Klasse aller Klassen zu bilden, die sich selbst nicht als Element enthält. Wie wir sahen, teilte er Frege, in dessen Richtung ihn Peano verwiesen hatte, diese Entdeckung mit. Russell stellte Freges Arbeit einem englischen Publikum in einem Anhang zu den Prinzipien vor. Angesichts des Paradoxons erkannten die beiden großen Logizisten, dass ihr Projekt, wenn es erfolgreich sein sollte, deutlich modifiziert werden müsste.


Der Speisesaal von Trinity College, Cambridge, dem College von Moore, Russell und Wittgenstein.

Das Ergebnis von Russells Versuch, den Widerspruch zu vermeiden, war seine Typentheorie. Nach dieser Theorie war es ein Fehler, Klassen als wahllos klassifizierbare Objekte zu behandeln. Einzeldinge und Klassen gehörten zu verschiedenen logischen Typen, und was von den Elementen des einen Typs ausgesagt werden konnte, konnte auf sinnvolle Weise von den Elementen eines anderen nicht ausgesagt werden. Die Aussage „Die Klasse aller Hunde ist kein Hund“ war nicht wahr oder falsch, sondern sinnlos. In ähnlicher Weise kann das, was sinnvoll von Klassen ausgesagt werden kann, nicht von Klassen von Klassen ausgesagt werden usw. durch die Hierarchie der logischen Typen. Um das Paradoxon zu vermeiden, müssen wir den Unterschied zwischen den Typen der verschiedenen Ebenen der Hierarchie beachten.

Doch nun tauchte eine neue Schwierigkeit auf. Erinnern wir uns daran, dass Frege die Zahl Zwei faktisch als die Klasse aller Paare und die anderen natürlichen Zahlen auf ähnliche Weise definiert hatte. Doch ein Paar ist einfach eine Klasse mit zwei Elementen, sodass die Zahl Zwei nach dieser Erklärung eine Klasse von Klassen ist. Wenn wir die Bildung der Klassen von Klassen einschränken, wie können wir dann die Reihe der natürlichen Zahlen definieren? Russell behielt die Definition der Null als der Klasse, deren einziges Element die Null-Klasse ist, bei. Doch er behandelte die Zahl Eins jetzt als die Klasse aller Klassen, die der Klasse entsprach, deren Elemente (a) Elemente der Null-Klasse sind und (b) irgendein Objekt, das kein Element dieser definierenden Klasse ist. Auf diese Weise können die Zahlen eine nach der anderen definiert werden, und jede Zahl ist eine Klasse von Klassen von Individuen.

Die Reihe der natürlichen Zahlen kann auf diese Weise nur dann bis ins Unendliche fortgesetzt werden, wenn die Anzahl der Gegenstände des Universums selbst unendlich ist. Denn wenn es nur n Einzeldinge gibt, dann wird es keine Klassen mit n + 1 Elementen geben und daher keine Kardinalzahl n + 1. Russell akzeptierte dieses Argument und fügte seinen Axiomen daher ein Axiom der Unendlichkeit hinzu, d.h. die Hypothese, dass die Anzahl der Gegenstände im Universum nicht endlich ist. Ob diese Hypothese wahr ist oder nicht: Sie ist gewiss keine Wahrheit der reinen Logik, und daher scheint die Notwendigkeit, sie zu postulieren, das logizistische Projekt der Ableitung der Arithmetik aus der Logik zum Scheitern zu verurteilen.

Russells spätere Philosophie der Mathematik wurde der Welt in zwei bemerkenswerten Werken vorgestellt. Die erste, technischere Darstellung schrieb er zusammen mit seinem früheren Tutor A. N. Whitehead. Sie erschien zwischen 1910 und 1913 unter dem Titel Principia Mathematica in drei Bänden. Das zweite, populärere Werk, Einführung in die Philosophie der Mathematik, schrieb er, während er eine Gefängnisstrafe absaß, zu der er 1917 wegen Antikriegsprotesten verurteilt worden war.

Um diese Zeit hatte sich Russell bereits einen Namen außerhalb der Philosophie der Mathematik in Bereichen einen Namen gemacht, die später zu zentralen Anliegen britischer Philosophen wurden. Von seinen frühen Arbeiten und denjenigen von Moore wird häufig gesagt, sie hätten eine neue Ära in der britischen Philosophie eingeleitet, die Ära der „analytischen Philosophie“. Obwohl der Impuls zum analytischen Stil des Philosophierens, wie Russell selbst gern zugab, auf Frege zurückgeführt werden kann, war Moore der erste Philosoph des 20. Jahrhunderts, der den Ausdruck „Analyse“ als Kennzeichen einer besonderen Art des Philosophierens in Umlauf brachte.

„Analyse“ war in erster Linie ein anti-idealistischer Slogan: Statt die Notwendigkeit zu akzeptieren, dass man das Ganze verstanden haben muss, bevor man seine Teile verstehen kann, bestanden Moore und Russell darauf, dass der korrekte Weg, zum Verständnis einer Sache zu gelangen, darin besteht, Ganzheiten dadurch zu analysieren, dass man sie in ihre Teile zerlegt. Doch was war dasjenige, was man durch Analyse zerlegt: Waren es Dinge oder Zeichen? Anfänglich sahen Moore und Russell ihre Aktivität als Analyse von Begriffen, nicht als Analyse der Sprache: von Begriffen, die unabhängig vom menschlichen Geist existierten. „Wo der Geist Elemente unterscheiden kann“, schrieb Russell 1903, „dort muss es verschiedene Elemente geben, die unterschieden werden können“ (PM 466). Analyse würde die Komplexität von Begriffen aufdecken und ihre Teilelemente darlegen. Diese Teilelemente könnten dann entweder zum Gegenstand weiterer Analyse werden, oder sie waren einfach und nicht weiter analysierbar. In seinen Principia Ethica (1903) stellte Moore die berühmte These auf, dass „gut“ eine einfache Eigenschaft sei, die nicht weiter analysiert werden könne.

Russell war zu der Zeit, zu der er die Principia Mathematica schrieb, davon überzeugt, dass er zur Sicherung der Objektivität von Begriffen und Urteilen akzeptieren musste, dass Aussagen eine von ihrem Ausdruck in Sätzen unabhängige Existenz haben. Er glaubte, dass nicht nur Begriffe, Relationen und Zahlen ein Sein hatten, sondern auch Schimären und die Götter Homers. Hätten sie kein Sein, wäre es unmöglich, Aussagen über sie zu machen. „Daher ist Sein eine allgemeine Eigenschaft von allem, und wenn man über irgendetwas spricht, beweist man, dass es existiert“ (PM 449).

Was der Analyse ihre linguistische Wende gab, war Russells bahnbrechender Aufsatz „On Denoting“ („Über das Kennzeichnen“). In diesem Aufsatz zeigte er, wie man Sätze verstehen konnte, die Ausdrücke wie „das runde Quadrat“ und „der gegenwärtige König von Frankreich“ enthielten, ohne zu behaupten, dass diese Ausdrücke eine Entität in der Welt bezeichnen, wie schattenhaft sie auch sei. Der Aufsatz wurde lange Zeit als ein Musterbeispiel der Analyse betrachtet, doch er enthält natürlich keine Analyse runder Quadrate oder nichtexistierender Könige. Stattdessen zeigt er, wie solche Sätze so umgeschrieben werden können, dass sie ihre Bedeutung behalten und dass der Anschein entfällt, sie schrieben nichtexistierenden Entitäten ein Sein zu. Und Russells Methode ist ausdrücklich linguistisch: Sie beruht darauf, dass ein Unterschied zwischen solchen Symbolen (wie zum Beispiel Eigennamen), die einen realen Gegenstand in der Welt bezeichnen, und anderen, von Russell als „unvollständig“ bezeichneten Symbolen gemacht wird. Definitive Beschreibungen wie „der gegenwärtige König von Frankreich“ waren Beispiele für „unvollständige“ Symbole. Diese Symbole haben für sich genommen keine Bedeutung – sie bezeichnen nichts –, sondern die Sätze, in denen sie vorkommen, haben eine Bedeutung, d.h., sie drücken einen Satz aus, der entweder wahr oder falsch ist.7

Die in „Über das Kennzeichnen“ praktizierte Analyse ist eine Technik, mit der eine auf irgendeine Weise irreführende Wortfolge durch einen logisch deutlichen Ausdruck ersetzt wird. Doch für Russell war die logische Analyse nicht nur eine linguistische Methode zur Klassifikation von Sätzen: Er gelangte zu der Überzeugung, sollte es einmal gelungen sein, der Logik eine klare und deutliche Form zu geben, so werde dies die Struktur der Welt enthüllen.

Die Logik enthält einzelne Variablen und Aussagefunktionen: Dem entsprechend, glaubte Russell, enthalte die Welt Einzeldinge und Universalien. Komplexe Aussagen sind logisch als Wahrheitsfunktionen einfacher Aussagen aufgebaut. Russell glaubte schließlich, dass es in der Welt in ähnlicher Weise unabhängige atomare Fakten gebe, die den einfachen Aussagen entsprachen. Atomare Tatsachen bestanden entweder darin, dass ein Einzelding eine bestimmte Eigenschaft besaß, oder in einer Relation zwischen zwei oder mehr Einzeldingen. Die Theorie Russells wurde später als „logischer Atomismus“ bezeichnet.

Die Entwicklung der Theorie lässt sich in den Büchern verfolgen, die Russell in den Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb: The Problems of Philosophy (1912), eine nach wie vor beliebte Einführung in das Fach, und das professionellere Werk Our Knowledge of the External World (Unser Wissen von der Außenwelt) von 1914. Die lebhafteste Darstellung der Theorie war eine Reihe von Vorlesungen, die er 1918 in London hielt: „The Philosophy of Logical Atomism“, die erst wesentlich später als Logic and Knowledge (Logik und Erkenntnis) (1956) veröffentlicht wurde. Russell glaubte, dass jede Aussage, die wir verstehen können, vollständig aus Elementen zusammengesetzt sein muss, die uns bekannt sind. „Bekanntsein mit“ war seine Bezeichnung für die unmittelbare Darstellung: Wir sind beispielsweise mit unseren eigenen Sinnesdaten vertraut, die für ihn an die Stelle von Humes Eindrücken und Descartes’ Gedanken traten. Doch unmittelbares Bekanntsein war auch bei Universalien möglich, die hinter den Prädikaten einer reformierten, logischen Sprache standen: So viel von Russells frühem Platonismus blieb erhalten. Dieses Bekanntsein war im Falle von räumlich und zeitlich entfernten Gegenständen jedoch unmöglich. Wir konnten nicht mit Königin Viktoria oder unseren eigenen, der Vergangenheit angehörenden Sinnesdaten vertraut sein. Dinge, die nicht durch Bekanntsein mit ihnen erkannt werden, werden durch Beschreibung erkannt. Hierauf beruht die Bedeutung der Theorie der Beschreibung für die Entwicklung des logischen Atomismus.

Russell wendete die Theorie der Beschreibungen nicht nur auf runde Quadrate und fiktive Gegenstände an, sondern auf viele Dinge, die der gesunde Menschenverstand für vollkommen real hält, wie zum Beispiel auf Julius Cäsar, Tische und Kohlköpfe. Russell zufolge waren dies logische Konstruktionen aus Sinnesdaten. Ein Satz wie „Cäsar überquerte den Rubikon“, in der deutschen Sprache geäußert, entspricht einer Aussage, die keine einzelnen Elemente enthält, mit denen wir bekannt sind. Um zu erklären, wie wir diesen Satz verstehen können, analysierte Russell die Namen „Cäsar“ und „Rubikon“ als definitive Beschreibungen, die – legte man sie vollständig dar – keine Ausdrücke enthalten würden, die sich auf die Gegenstände beziehen, die scheinbar in dem Satz genannt werden.

Normale Eigennamen waren daher verdeckte Beschreibungen. Ein vollständig analysierter Satz würde nur logische Eigennamen enthalten (Wörter, die auf Einzeldinge Bezug nehmen, mit denen wir vertraut sind) und Allgemeinbegriffe (Wörter, die Merkmale und Relationen bezeichnen). Russells Erläuterung dessen, was als logischer Eigenname zulässig war, schwankte von Zeit zu Zeit. In der strengsten Version der Theorie schienen nur rein demonstrative Fürwörter als Namen zu zählen, sodass eine atomare Aussage ein Satz wäre wie etwa: „(Dieses) Rot“ oder „(Dies) neben (dem)“.

„The Philosophy of Logical Atomism“ war jedoch keineswegs Russells letztes Wort in der Philosophie. Im Jahre 1921 schrieb er The Analysis of Mind (Die Analyse des Geistes), in der er eine Version von William James’ neutralem Monismus verteidigte: die Theorie, dass Geist und Materie aus einem neutralen Stoff bestehen, bei dem es sich – praktisch gesehen – um nichts anderes handelt als die Daten der inneren und äußeren Sinne. Während der 1930er und 1940er Jahre schrieb Russell zahlreiche populäre Bücher über gesellschaftliche und politische Themen. Er wurde berühmt für seine unkonventionellen moralischen Ideen und berüchtigt für das Scheitern mehrerer Ehen. 1940 wurde er, nachdem man ihm am City College von New York eine Kurzzeitprofessur angeboten hatte, vom obersten Gerichtshof des Bundesstaates für lehruntüchtig erklärt. 1945 veröffentlichte er eine brillant geschriebene, wenn auch oft ungenaue History of Western Philosophy (Geschichte der Philosophie des Abendlandes), für die man ihm den Nobelpreis für Literatur verlieh.

Russells letztes philosophisches Werk war Human Knowledge: Its Scope and Limits (Menschliches Wissen: Sein Umfang und seine Grenzen), in dem er versuchte, eine empiristische Rechtfertigung der wissenschaftlichen Methode zu liefern. Sehr zu seiner Enttäuschung erhielt das Buch wenig Aufmerksamkeit. Obwohl er in seinen späten Lebensjahren, besonders nachdem er eine Lordschaft übernommen hatte, als Streiter für gesellschaftliche und politische Forderungen – besonders zur atomaren Abrüstung – sehr bekannt wurde, erreichte sein Ruf unter Fachphilosophen nie wieder das Maß an Respekt, das man seinen Werken vor 1920 entgegengebracht hatte. Der logische Atomismus selbst beruhte – wie er als Erster zugab – zu großen Teilen auf Ideen von Ludwig Wittgenstein, einem seiner früheren Schüler, dem wir uns nun zuwenden.

Geschichte der abendländischen Philosophie

Подняться наверх