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Wittgensteins Tractatus

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Ludwig Wittgenstein wurde 1889 in Wien in eine österreichische Familie jüdischer Abstammung geboren. Die Familie war groß und wohlhabend. Sein Vater war ein berühmter Stahlmagnat, der mit seiner katholischen Ehefrau neun Kinder hatte, die alle katholisch getauft wurden. Die Familie war musisch sehr begabt. Johannes Brahms war ein häufiger Gast der Wittgensteins, und Ludwigs Bruder Paul war Konzertpianist, der internationale Berühmtheit erlangte, obwohl er im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte. Ludwig wurde bis zu seinem 14. Lebensjahr zuhause erzogen und ging anschließend drei Jahre auf die Realschule in Linz, wo einer seiner gleichaltrigen Mitschüler Adolf Hitler war.

Während der Schuljahre verlor Wittgenstein, teilweise unter dem Einfluss Schopenhauers, seinen religiösen Glauben. Er studierte Maschinenbau in Berlin und später an der Universität von Manchester, wo er ein Düsentriebwerk für Flugzeuge entwarf. Er las Russells Principia Mathematica und wurde auf diesem Wege mit den Werken Freges bekannt, den er 1911 in Jena besuchte. Er folgte Freges Rat, nach Cambridge zu gehen, wo er am Trinity College fünf Trimester unter Russell studierte, der sein Genie schnell erkannte und großzügig förderte.

Im Jahre 1913 verließ Wittgenstein Cambridge und zog sich als Einsiedler in eine Hütte zurück, die er sich in Norwegen gebaut hatte. Die Aufzeichnungen und Briefe aus dieser Zeit zeigen die Anfänge einer Sicht der Philosophie, die er sein Leben lang beibehalten sollte. Die Philosophie, schrieb er, sei keine deduktive Wissenschaft. Man könne sie nicht auf die gleiche Stufe wie die Naturwissenschaften stellen. Die Philosophie gebe kein Bild der Realität und könne wissenschaftliche Untersuchungen weder bestätigen noch widerlegen (NB 93).

Im Jahre 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wurde Wittgenstein freiwillig Soldat der österreichischen Artillerie. Er leistete seinen Dienst an der östlichen und italienischen Front und fiel durch seine Tapferkeit auf. 1918 wurde er von italienischen Soldaten in Südtirol gefangen genommen und in ein Lager in der Nähe von Monte Cassino gebracht. Während seines Wehrdienstes hatte er philosophische Gedanken in sein Tagebuch geschrieben, und während seiner Gefangenschaft verwandelte er sie in das einzige Buch, das er je veröffentlichte, den Tractatus Logico-Philosophicus. Er schickte das Buch aus dem Gefangenenlager an Russell, mit dem er es später in Holland diskutieren konnte. Es wurde 1921 auf Deutsch herausgegeben und kurz darauf in einer Übersetzung von C. K. Ogden mit einer Einführung von Russell.

Der Tractatus ist kurz, schön und kryptisch. Er besteht aus einer Abfolge nummerierter Absätze, die häufig sehr kurz sind. Der erste lautet: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ und der letzte: „Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“8 Das zentrale Thema des Buches ist die Bildtheorie der Bedeutung. Die Sprache, wird uns gesagt, besteht aus Aussagen, die die Welt abbilden. Aussagen sind der wahrnehmbare Ausdruck von Gedanken, und Gedanken sind logische Bilder von Tatsachen: Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen.

Ein Satz wie etwa „Der Zug nach London fährt um 11:15 Uhr ab“ oder „Blut ist dicker als Wasser“ sieht nicht wie ein Abbild aus. Doch Wittgenstein glaubte, dass Aussagen und Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes Bilder sind. Wenn sie nicht wie Bilder aussahen, lag dies daran, dass die Sprache die Gedanken stark verschleiert. Doch Wittgenstein bestand darauf, dass selbst die Umgangssprache ein deutlich erkennbares Bildelement enthält. Nehmen wir beispielsweise den Satz „Meine Gabel liegt links von meinem Messer“. Dieser Satz behauptet etwas, das von einem anderen Satz, der dieselben Wörter enthält, nämlich „Mein Messer liegt links von meiner Gabel“, sehr verschieden ist. Was dem ersten Satz die Bedeutung gibt, die er hat, ist die Tatsache, dass die Wörter „meine Gabel“ innerhalb des Satzes links von den Wörtern „meinem Messer“ stehen, was im zweiten Satz nicht der Fall ist. Hier bildet eine räumliche Beziehung zwischen Wörtern eine räumliche Beziehung zwischen Dingen ab (TLP 4.012).

Wenige Fälle sind so einfach wie dieser. Wenn die Sätze gesprochen statt geschrieben würden, wäre es eine temporale Beziehung zwischen Geräuschen statt der räumlichen Beziehung auf der bedruckten Seite, was die Beziehung zwischen den Gegenständen auf dem Tisch darstellt. Doch liegt dies seinerseits daran, dass die gesprochene Lautsequenz und die räumliche Anordnung eine gewisse abstrakte Struktur gemeinsam haben. Nach der Lehre des Tractatus muss jedes Bild etwas mit dem, was es abbildet, gemeinsam haben. Wittgenstein nennt dieses gemeinsame Minimum seine logische Form. Die meisten Aussagen haben – im Gegensatz zum obigen untypischen Beispiel – mit der von ihnen dargestellten Situation keine räumliche Form gemeinsam; doch jegliche Aussage muss mit dem, was sie darstellt, eine logische Form gemeinsam haben.

Wittgenstein war der Überzeugung, dass wir, um die Bildstruktur der Gedanken hinter der Verkleidung der gewöhnlichen Sprache aufzudecken, eine logische Analyse von der Art durchführen müssen, die Russell vorgeschlagen hatte. Er behauptete, dass wir auf dem Weg dieser Analyse schließlich zu Symbolen gelangen würden, die vollkommen einfache Gegenstände bezeichnen. Eine vollständig analysierte Aussage besteht aus einer Kombination atomarer Aussagen, deren jede Namen einfacher Gegenstände enthält. Diese Namen stehen zueinander auf solche Weise in Beziehung, dass sie die Relationen zwischen den Gegenständen, die sie bezeichnen, richtig oder falsch abbilden. Eine solche Analyse mag die Kraft des Menschen übersteigen, doch der Gedanke, den die Aussage ausdrückt, hat im Bewusstsein bereits die Komplexität der vollständig analysierten Aussage. Wir drücken diesen Gedanken durch die unbewusste Anwendung äußerst komplizierter Regeln in einfachem Deutsch oder Englisch aus. Die Verbindung zwischen der Sprache und der Welt kommt durch die Korrelation zwischen den letzten Elementen dieser Gedanken tief im Bewusstsein und den atomaren Gegenständen zustande, die das Wesen der Welt ausmachen. Wie diese Korrelationen selbst zustande kommen, wird uns nicht gesagt: Es ist ein mysteriöser Vorgang, der, wie es scheint, jedem von uns selbst gelingen muss, indem wir sozusagen eine private Sprache erschaffen.

Nachdem er die Bildtheorie der Aussage und die dazugehörige Weltstruktur dargelegt hatte, zeigte Wittgenstein, wie Aussagen verschiedener Art durch Analyse zu Kombinationen atomarer Bilder zerlegt werden konnten. Die Wissenschaft besteht aus Aussagen, deren Wahrheitswert von den Wahrheitswerten der atomaren Sätze, aus denen sie bestehen, abhängt. Die Logik besteht aus Tautologien, d.h. aus komplexen Aussagen, die unabhängig vom Wahrheitswert der Teilaussagen, aus denen sie bestehen, wahr sind. Nicht alle Aussagen können in atomare Aussagen zergliedert werden: Es gibt einige, die sich als bloß scheinbare Aussagen erweisen. Hierzu gehören die Aussagen der Ethik und Theologie – und, wie sich herausstellt, auch die Aussagen der Philosophie, einschließlich derjenigen, aus denen der Tractatus selbst besteht.

Der Tractatus versucht, wie jede andere metaphysische Abhandlung, die logische Struktur der Welt zu beschreiben: Doch dies ist etwas, was nicht geleistet werden kann. Ein Bild muss von dem, was es abbildet, verschieden sein. Es muss ein falsches ebenso wie ein wahres Bild sein können. Doch da jede Aussage die logische Form der Welt enthalten muss, kann sie sie nicht abbilden. Was der Metaphysiker zu sagen versucht, kann nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden. Die einzelnen Sätze des Tractatus sind wie eine Leiter, die man hinaufsteigen und dann wegwerfen muss, soll man die Welt richtig sehen können. Die Philosophie ist keine Theorie, sondern eine Aktivität: die Aktivität der Aufklärung nichtphilosophischer Aussagen. Nachdem sie geklärt wurden, spiegeln die Aussagen die logische Form der Welt, und auf diese Weise zeigen sie, was der Philosoph sagen will, aber nicht sagen kann.

Weder die Wissenschaft noch die Philosophie können uns den Sinn des Lebens zeigen. Doch dies bedeutet nicht, dass ein Problem ungelöst bleibt.

„Denn Zweifel kann es nur geben, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann. Wir fühlen, daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (TLP 6.51–6.521)9

Selbst wenn man an Unsterblichkeit glauben könnte, würde dies dem Leben keinen Sinn verleihen; kein Problem wird dadurch gelöst, dass man ewig fortlebt (TLP 6.4312). Ein ewiges Leben wäre ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige. Wittgenstein schrieb: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“ (TLP 6.44).

Die Philosophie kann sehr wenig für uns tun. Was sie jedoch leisten kann, war ein für alle Mal im Tractatus geleistet worden – zumindest war Wittgenstein davon überzeugt. Insofern war es vollkommen konsequent, dass er nach der Veröffentlichung des Buches die Philosophie aufgab und eine Reihe eher eintöniger Arbeiten annahm. Beim Tod seines Vaters im Jahre 1912 hatte Wittgenstein, wie seine Geschwister, ein großes Vermögen geerbt, doch bei seiner Rückkehr aus dem Krieg verzichtete er auf seinen Anteil und finanzierte seinen Lebensunterhalt durch die Arbeit als Gärtner in einem Kloster oder als Dorfschullehrer. 1926 klagte ihn ein Schüler an, ihn sadistisch gestraft zu haben. Obwohl man ihn von dieser Anschuldigung freisprach, kam seine Karriere als Lehrer auf diese Weise an ihr Ende.

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