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Darwin und die natürliche Zuchtwahl

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Zehn Jahre vor seinem Tod schickte Marx ein Exemplar der zweiten Ausgabe des ersten Bandes des Kapitals an Charles Darwin, dessen Buch Über die Entstehung der Arten 14 Jahre früher erschienen war. Er erhielt eine höfliche Empfangsbestätigung dieses Geschenks „des großen Werkes“, doch wie viele andere Leser fand es Darwin unmöglich, die Lektüre über die ersten Seiten des Bandes hinaus fortzusetzen. In seiner Beerdigungsansprache beschrieb Engels die materialistische Theorie der Geschichte als wissenschaftlichen Durchbruch, der mit der Entdeckung der Evolution durch natürliche Zuchtwahl vergleichbar sei. Dies war zwar eine Übertreibung, doch sollten sich Marx und Darwin als die beiden einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts erweisen – sowie, damals ebenso wie heute, als die am heftigsten kritisierten.

Charles Darwin wurde 1809 in Shrewsbury geboren und war von 1818 bis 1825 im Internat der Shrewsbury School. 1825 schrieb er sich in Edinburgh für das Medizinstudium ein, doch brachte er seine Studien zu keinem Abschluss. Stattdessen ging er an das Christ’s College in Cambridge, wo er 1831 ein unrühmliches Bachelorexamen ablegte. Der Professor für Botanik empfahl ihn Kapitän Fitzroy, dem Kommandeur der HMS Beagle, der ihn als Naturforscher des Schiffes anstellte. Während einer fünfjährigen Reise auf der südlichen Halbkugel sammelte Darwin eine Unmenge geologischen, botanischen, zoologischen und anthropologischen Materials. Anfänglich war er mehr an Geologie als an Zoologie interessiert. Er machte Entdeckungen zur Natur vulkanischer Inseln und zur Entstehung von Korallenriffen. Im Jahre 1839 veröffentlichte er eine populäre Darstellung seiner maritimen Forschungen in einem Band, der am besten als Die Fahrt der Beagle bekannt ist. Im selben Jahr heiratete er Emma Wedgwood und wurde in die Royal Society gewählt.

Während der 1840er und 1850er Jahre entwickelte er beim Studium der Flora und Fauna seines Landsitzes in Kent die Theorie der natürlichen Zuchtwahl. 1844 verfasste er einen Abriss seiner Ideen, der zu ihrer privaten Verbreitung bestimmt war. Er hatte die Absicht, seine Theorie in einem umfassenden Band darzustellen, der irgendwann in den 1860er Jahren fertig werden sollte. Als jedoch ein anderer Zoologe, Alfred Russell Wallace, 1858 einer gelehrten Gesellschaft eine ähnliche Theorie über das Überleben der bestangepassten Individuen („survival of the fittest“) vorstellte, entschloss sich Darwin, die Unabhängigkeit und Priorität seiner eigenen Ideen unter Beweis zu stellen, und gab daraufhin in Eile eine Kurzfassung seiner Ideen in Druck, bei der es sich um seine Schrift Die Entstehung der Arten handelte. Im Jahre 1860 verteidigte Thomas Henry Huxley in einer berühmten Debatte während einer Sitzung der British Association for the Advancement of Science14 den Darwinismus erfolgreich gegen Samuel Wilberforce, den Bischof von Oxford.

In späteren Jahren veröffentlichte Darwin eine Reihe ergänzender Abhandlungen zur Befruchtung sowie zur Variation der Struktur und des Verhaltens innerhalb verschiedener Arten und zwischen ihnen. Das bekannteste seiner späteren Bücher war das 1871 herausgegebene Werk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. In diesem Werk entwickelte er die Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl weiter, indem er sie durch die wichtige Theorie der natürlichen Zuchtwahl ergänzte. Außerdem verteidigte er darin die These, dass der Mensch gemeinsame Vorfahren mit Orang-Utans, Schimpansen und Gorillas hat. Er starb im Jahre 1882 und wurde in der Westminister Abbey beigesetzt.

Darwin war nicht der Erste, der eine Theorie der Evolution aufstellte. In der Antike hatte der auf Sizilien lebende Philosoph Empedokles, was Darwin ausdrücklich anerkannte, „eine dunkle Ahnung des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl“.15 Er wurde dafür jedoch von Aristoteles, der annahm, dass es die Arten seit Ewigkeiten gegeben hatte, äußerst heftig kritisiert. Von den Christen wurde Empedokles ignoriert, da sie glaubten, Gott habe die Tierarten im Garten Eden für Adam erschaffen. Der bedeutende schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778), dessen taxonomisches System der Pflanzen- und Tierarten die Grundlage war, auf der Darwin seine Theorie aufbaute, glaubte, dass jede Art einzeln geschaffen worden war und dass die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen den Plan des Schöpfers offenbarten.

Linné und andere Taxonomen hatten das Pflanzen- und Tierreich in Gattungen und Arten eingeteilt und ihnen lateinische Namen gegeben. Alle Löwen gehören beispielsweise zu derselben Art, felis leo. Die Art der Löwen gehört zur Gattung der Katzen (felis), zu der andere Arten gehören, wie zum Beispiel der Tiger (felis tigris) und der Leopard (felis pardus). Die Eigenschaften der Individuen einer bestimmten Art können stark voneinander abweichen. Das Kriterium der Zugehörigkeit zur selben Art ist die Fähigkeit der Individuen, mit anderen Angehörigen dieser Art die Art fortzupflanzen. Der Nachwuchs von Angehörigen unterschiedlicher Arten ist hingegen normalerweise unfruchtbar.

Statt sich auf die unergründlichen Zwecke eines Schöpfers zu berufen, hatten einige Naturforscher vorgeschlagen, die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Arten innerhalb einer Gattung dadurch zu erklären, dass sie von einer entwicklungsgeschichtlich fernen, gemeinsamen Urform abstammten. Diese Hypothese war von Darwins Großvater Erasmus Darwin (1731–1802) und außerdem von J. B. Lamarck vorgeschlagen worden, der 1815 behauptet hatte, dass jede Generation einer Art eine vorteilhafte Eigenschaft erwerben und sie dann an seine Nachkommen weitergeben könne. Giraffen würden ihren Hals verlängern, da sie ihn streckten, um die höchsten Blätter zu erreichen, und dann Nachkommen mit längeren Hälsen zeugen.

Indem Darwin die alte Idee der natürlichen Zuchtwahl wieder aufgriff, war er in der Lage, eine sehr verschiedene Erklärung der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Arten zu geben. Seine Theorie basierte auf drei Grundtatsachen. Erstens: Der Grad der Anpassung der Organismen an ihre Umwelt weist große Unterschiede auf. Zweitens: Alle Arten können sich mit einer Geschwindigkeit vermehren, die ihre Anzahl von einer Generation zur nächsten anwachsen lassen würde. Selbst ein sich nur langsam vermehrendes Elefantenpaar könnte nach 500 Jahren 15 Millionen Nachkommen haben. Drittens: Der Grund dafür, dass sich Arten nicht auf diese Weise vermehren, ist die Tatsache, dass in jeder Generation nur wenige Nachkommen überleben und sich fortpflanzen. Alle Angehörigen jeder Art müssen um ihre Existenz kämpfen, sowohl gegen das Klima als auch gegen die konkurrierenden Individuen konkurrierender Arten, um Nahrung für sich selbst zu erlangen und zu verhindern, selbst Teil der Nahrung anderer Tiere zu werden. Es ist dieser dritte Faktor, der zu der Auswahl führt, die dem Mechanismus der Evolution entspricht.

„In diesem Wettkampfe wird jede Veränderung, wie gering sie auch sein und aus welchen Ursachen sie auch entstanden sein mag, wenn sie nur irgendwie dem Individuum vorteilhaft ist, auch zur Erhaltung dieses Individuums beitragen und sich gewöhnlich auch auf die Nachkommen vererben. Diese werden daher mehr Aussicht haben am Leben zu bleiben; denn von den vielen Individuen einer Art, die geboren werden, lebt nur eine geringe Anzahl fort.“ (OS 52)16

Darwin unterschied drei verschiedene Arten der Zuchtwahl. Die künstliche Zuchtwahl war schon seit Langem von Menschen praktiziert worden, die für die Zucht diejenigen Exemplare – seien es Kartoffeln oder Rennpferde – ausgewählt hatten, die ihren Absichten am besten entsprachen. Die natürliche Zuchtwahl war im Gegensatz zur künstlichen nicht zweckgerichtet. Vorteilhafte Variationen blieben lediglich durch den natürlichen Überlebensdruck auf die Individuen einer Art erhalten und wurden durch ihre Fortpflanzung vermehrt. Innerhalb der natürlichen Zuchtwahl nahm Darwin eine weitere Unterscheidung vor: zwischen der natürlichen Zuchtwahl im engeren Sinne, die darüber entschied, ob ein Individuum lange genug überlebte, um sich fortzupflanzen, und der geschlechtlichen Zuchtwahl, die festlegte, mit wem ein solches überlebendes Individuum sich fortpflanzen würde. Im Gegensatz zu Lamarck glaubte Darwin nicht, dass die Unterschiede in der Anpassung von den Eltern zu ihren Lebzeiten erworben worden: Die Variationen, die sie weitergaben, waren ihnen selbst vererbt worden. Obwohl es möglich war, einige Gesetze der Variabilität aufzustellen, konnte der Ursprung einer bestimmten vorteilhaften Variation sehr wohl eine Sache des Zufalls sein.

Die natürliche Zuchtwahl lässt sich sehr leicht anhand der Beispiele innerhalb einer einzelnen Art veranschaulichen und beobachten. Nehmen wir an, es gäbe eine bestimmte Population von Motten, von denen einige dunkel und andere blasser sind, die auf Birken lebt und die Vögeln als Nahrung dienen. Solange die Bäume ihre natürliche silberne Farbe behalten, haben die besser getarnten, blassen Motten eine höhere Überlebenschance und sie werden daher den größeren Teil der Population ausmachen. Bekommen die Bäume hingegen durch Ruß dunkle Rinden, verschiebt sich die Überlebenswahrscheinlichkeit zugunsten der dunkleren Motten. Da sie in überdurchschnittlicher Zahl überleben, hat es den äußeren Anschein, dass die Art ihre Farbe ändert, von einer charakteristischen blassen zu einer charakteristischen dunklen Farbe. Darwin war der Überzeugung, dass die natürliche Zuchtwahl über lange Zeiträume sogar noch weiter gehen und völlig neue Pflanzen- und Tierarten entstehen lassen konnte. Tatsächlich würde dies ein so langsamer Vorgang sein, dass er im normalen Sinne unbeobachtbar wäre. Doch hatten neuerliche Entdeckungen in der Geologie die Vorstellung plausibel gemacht, dass die Erde eine ausreichend lange Zeit existiert hatte, um Arten auf diese Weise entstehen und wieder aussterben zu lassen. Die Evolution konnte daher nicht nur die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vorhandenen Arten erklären, sondern auch die Unterschiede zwischen den in der Gegenwart lebenden und den ausgestorbenen Arten früherer Zeitalter, deren Fossilien man auf der ganzen Welt entdeckte. Selbst komplexeste Organe und Instinkte, behauptete Darwin, konnten durch die Ansammlung zahlloser winziger, dem jeweiligen Individuum nützlicher Änderungen erklärt werden.

„Die Annahme, daß das Auge mit allen seinen unnachahmlichen Einrichtungen: die Linse den verschiedenen Entfernungen anzupassen, wechselnde Lichtmengen zuzulassen und sphärische wie chromatische Abweichungen zu verbessern, durch natürliche Zuchtwahl entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, im höchsten Grade als absurd. […] Der Verstand sagt mir: wenn zahlreiche Abstufungen vom einfachen unvollkommenen Auge bis zum zusammengesetzten und vollkommenen nachgewiesen werden und jede Abstufung ihrem Besitzer nützt, was ja sicher der Fall ist; wenn ferner das Auge beständig variiert und diese Veränderungen erblich sind, was gleichfalls sicherlich zutrifft; und wenn schließlich diese Veränderungen einem Tier unter wechselnden Lebensverhältnissen nützen, so kann die Schwierigkeit der Annahme, daß ein vollkommenes, kompliziertes Auge durch natürliche Zuchtwahl gebildet worden sein könne (so unüberwindlich sie unserer Einbildungskraft auch erscheinen mag), unsere Theorie nicht umstürzen.“ (OS 152)17

Darwins Theorie wurde nach seinem Tode durch wichtige Entdeckungen weiter untermauert. Zuerst dadurch, dass die von Gregor Mendel entdeckten Gesetze der Populationsgenetik allgemein bekannt wurden, und dann dadurch, dass die Entdeckung der DNA es den Molekulargenetikern erlaubte, den Mechanismus der Vererbung zu erklären. Die Geschichte des Darwinismus ist ein Teil der Geschichte der Wissenschaft, nicht der Philosophie. Völlig unerwähnt lassen kann eine Geschichte der Philosophie Darwin allerdings nicht, da seine biologischen Arbeiten für die Philosophie der Religion und die allgemeine Metaphysik von Bedeutung sind.18

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