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Die Schule von Milet

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Von Thales von Milet (ca. 625–545 v. Chr.), der traditionellerweise als Gründer der griechischen Philosophie gilt, sind nur zwei Aussprüche überliefert. Sie veranschaulichen die Mischung aus Wissenschaft und Religion, denn der eine von ihnen lautet: „Alles ist voll von Göttern.“ Der andere Ausspruch lautet: „Wasser ist das Urprinzip von allem.“ Thales war ein Geometer, der erste, der eine Methode entdeckte, ein rechtwinkliges Dreieck in einen Kreis einzubeschreiben. Er feierte diese Entdeckung, indem er den Göttern einen Ochsen opferte (D.L. 1. 24f.). Er bestimmte die Höhe der Pyramiden, indem er ihren Schatten zu der Tageszeit maß, zu der die Länge seines eigenen Schattens seiner Körpergröße entsprach. Er setzte sein geometrisches Wissen auch zu praktischem Nutzen ein: Nachdem er bewiesen hatte, dass Dreiecke mit zwei gleichen Seiten und zwei gleichen Winkeln kongruent sind, verwendete er dieses Ergebnis, um die Entfernung von Schiffen zu berechnen.

Thales stand auch in dem Ruf, ein Astronom und ein Meteorologe zu sein. Zusätzlich zur Voraussage der Sonnenfinsternis soll er als erster bewiesen haben, dass das Jahr 365 Tage hat, und bestimmte angeblich erstmals die genauen Daten der Sommer- und der Wintersonnenwende. Er schätzte die Größe der Sonne und des Mondes und studierte ihre Konstellationen. Seine Fähigkeiten in der Wettervorhersage setzte er höchst gewinnbringend ein: Als er eine ungewöhnlich gute Olivenernte voraussah, mietete er sämtliche Ölmühlen an und verdiente durch dieses Monopol ein Vermögen. Auf diese Weise bewies er nach Aristoteles (Pol. 1.11. 1259a6–18), dass Philosophen sehr leicht reich werden könnten, wenn sie es nur wollten.

Wenn nur die Hälfte der über Thales in der Antike kursierenden Geschichten wahr ist, war er ein sehr vielseitiger Mann. Doch das Bild, das die Tradition von ihm zeichnet, ist zwiespältig. Auf der einen Seite erscheint er als philosophischer Unternehmer und als politischer und militärischer Experte. Andererseits waren sein Mangel an lebenspraktischer Tauglichkeit und seine Weltfremdheit sprichwörtlich. Neben anderen Autoren erzählt Platon folgende Geschichte:

„Als er einmal, um die Sterne zu betrachten, nach oben schaute und dabei in einen Brunnen fiel, soll ihn eine schlagfertige und witzige thrakische Magd mit den Worten verspottet haben, dass er zwar darauf aus sei zu wissen, was am Himmel vor sich gehe, ihm aber verborgen bleibe, was in seiner Nähe und vor seinen Füßen liege.“ (Theaitetos 174a)1

Man erzählte sich auch die unwahrscheinliche Geschichte, dass er durch einen solchen Sturz bei der Himmelsbeobachtung zu Tode gekommen sei.

Thales wurde, zusammen mit Solon, dem großen Gesetzgeber Athens, zu den Sieben Weisen Griechenlands gezählt. Man schreibt ihm auch eine Reihe von Aphorismen zu. Er sagte, dass es für einen Mann vor einem bestimmten Alter zu früh sei zu heiraten, und danach zu spät. Als man ihn fragte, warum er keine Kinder habe, sagte er: „Weil ich Kinder sehr gern habe.“

Diese Bemerkungen des Thales sind Vorboten vieler Jahrhunderte philosophischer Geringschätzung der Ehe. Jeder, der eine Liste von 12 wirklich bedeutenden Philosophen zusammenstellt, wird wahrscheinlich feststellen, dass sie fast ausschließlich aus Junggesellen besteht. Eine solche Liste könnte zum Beispiel Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Descartes, Locke, Spinoza, Hume, Kant, Hegel und Wittgenstein enthalten, von denen keiner verheiratet war. Aristoteles ist die große Ausnahme, die die Regel widerlegt, dass Philosophie mit der Ehe nicht vereinbar ist.

Selbst in der Antike konnten die Menschen nur schwer verstehen, warum Thales als letztes Erklärungsprinzip das Wasser angenommen hatte. Die Erde, so sagte er, schwimme auf dem Wasser wie ein Baumstamm auf einem Fluss. Doch worauf ruht dann, fragte Aristoteles, das Wasser? (Cael. 2. 13. 294a28–34) Er ging sogar noch weiter und behauptete, dass alles aus dem Wasser stamme und auf irgendeine Weise aus Wasser bestehe. Auch seine Gründe für diese Behauptung sind unklar, und Aristoteles konnte nur vermuten, dass Thales zu dieser Auffassung gekommen sei, weil alle Tiere und Pflanzen zum Leben Wasser benötigen oder weil die Samenflüssigkeit feucht ist (Metaph. A 3. 983b17–27).

Die Kosmologie von Thales’ jüngerem Landsmann, Anaximander von Milet (gest. ca. 547 v. Chr.) ist weniger schwer zu verstehen. Wir wissen deutlich mehr über seine Ansichten, da er ein Buch mit dem Titel Über die Natur hinterlassen hat. Es ist in Prosa verfasst, einem Medium, das erst begann, in Mode zu kommen. Wie Thales schreibt man auch ihm eine Reihe eigenständiger wissenschaftlicher Leistungen zu: die erste Welt- und die erste Sternenkarte, die erste griechische Sonnenuhr sowie eine Uhr, die auch im Inneren von Häusern verwendbar war.

Er lehrte, dass die Erde, wie der Stumpf einer Säule, eine zylindrische Form habe und nicht höher als ein Drittel ihres Durchmessers sei. Rund um die Erde befänden sich riesige Reifen voller Feuer. In jedem Reifen befinde sich ein Loch, durch das man das Feuer im Inneren von außen sehen könne, und diese Löcher seien die Sonne, der Mond und die Sterne. Die Sonnenfinsternisse und Mondphasen ließen sich durch Blockierungen dieser Löcher erklären. Das himmlische Feuer, das in der Gegenwart zum größten Teil verborgen ist, war einst ein riesiger Feuerball, der die noch junge Erde umgab. Als dieser Ball explodierte, wuchsen um die Fragmente eigene Reifen wie Rinde um einen Baum.

Das Wachstum von Bäumen und die Art und Weise, wie sie ihre Rinde abwerfen, beeindruckten Anaximander sehr. Er verwendete die gleiche Analogie, um den Ursprung des Menschen zu erklären. Andere Tiere, so hatte er beobachtet, können sich direkt nach der Geburt um sich selbst kümmern, Menschen bedürfen hingegen noch langer Fürsorge.

Wäre der Lebenslauf der Menschen immer so gewesen wie in der Gegenwart, hätte ihre Gattung nicht überlebt. In einem früheren Zeitalter, so vermutete er, seien die Menschen in ihrer Kindheit von einer stacheligen Rinde umgeben gewesen, sodass sie wie Fische ausgesehen hätten, und sie hätten im Wasser gelebt. In der Pubertät hätten sie ihre Rinde abgeworfen und seien an Land gekommen, in eine Umgebung, in der sie sich um sich selbst kümmern konnten. Aus diesem Grunde empfahl Anaximander, obwohl er ansonsten kein Vegetarier war, dass die Menschen keinen Fisch essen sollten, da die Fische die Vorfahren der menschlichen Gattung seien (KRS 133–7).

Anaximanders Kosmologie ist in mehrfacher Hinsicht differenzierter als die von Thales. Zunächst suchte er nicht nach etwas, das die Erde abstützen könnte: Sie bleibe an ihrem Ort, weil sie sich in gleichem Abstand von allem anderen befinde und weil es keinen Grund gebe, warum sie sich in die eine statt in eine andere Richtung bewegen sollte (DK 12 A11; Aristoteles, Cael. 2. 13. 295b10).


Anaximander mit seiner Sonnenuhr, in einem römischen Mosaik.

Zweitens war er der Meinung, dass es ein Fehler sei, den Urstoff des Universums mit irgendeinem derjenigen Elemente gleichzusetzen, die wir in der gegenwärtigen Welt um uns finden, wie zum Beispiel Wasser oder Feuer. Er behauptete, dass das Grundprinzip aller Dinge grenzenlos oder undefiniert (apeiron) sein müsse. Das von Anaximander verwendete griechische Wort wird häufig als „das Unendliche“ übersetzt, doch klingt das zu grandios. Er mag angenommen haben oder nicht, dass sich dieser Urstoff im Raum ins Unendliche ausdehnt: Wir wissen jedoch, dass er glaubte, er habe keinen Ursprung und kein Ende in der Zeit, und dass er nicht zu irgendeiner bestimmten Art oder Klasse von Dingen gehöre. „Ewiger Stoff“ ist wahrscheinlich die Umschreibung, die dem damit Gemeinten am nächsten kommt. Aristoteles hat den Begriff später zu demjenigen seiner ersten Materie weiterentwickelt.2

Drittens finden wir bei Anaximander eine Erklärung für den Ursprung der gegenwärtigen Welt. Er erläuterte, welche Kräfte wirksam waren, um ihr zur Existenz zu verhelfen, und fragte damit, wie Aristoteles sagen würde, sowohl nach der Wirk- als auch nach der Stoffursache. Er sah das Universum als Schauplatz widerstreitender Gegensätze: des Heißen und Kalten, Nassen und Trockenen. Manchmal gewann eine Seite eines Gegensatzpaares die Oberhand, manchmal die andere. Sie dringen gegenseitig auf ihr jeweiliges Gebiet vor und ziehen sich dann zurück. Ihre Einwirkungen aufeinander werden vom Prinzip der Wechselseitigkeit bestimmt. In einem seiner überlieferten Fragmente drückt Anaximander dies auf poetische Weise aus: „Sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit“. Man mag vermuten, dass auf diese Weise das Heiße und das Trockene im Winter dem Kalten und Nassen für die Angriffe büßen müssen, die sie im Sommer unternommen haben. Das Heiße und Kalte war das erste in Erscheinung tretende Gegensatzpaar, als sie sich vom ursprünglichen kosmischen Ei des ewigen, unbestimmten Stoffs trennten. Aus ihnen entwickelten sich das Feuer und die Erde, die, wie wir bereits erfahren haben, dem gegenwärtigen Kosmos als Ursprung zugrunde lagen.

Anaximenes (546–525 v. Chr.), eine Generation jünger als Anaximander, war der letzte im Trio der milesischen Kosmologen. In vieler Hinsicht steht er Thales näher als Anaximander, doch wäre es falsch anzunehmen, dass die Wissenschaft mit ihm einen Rückschritt statt weitere Fortschritte gemacht habe. Wie Thales war er der Auffassung, dass die Erde auf etwas ruhen müsse, doch schlug er als ihr Kissen anstelle von Wasser die Luft vor. Die Erde selbst sei flach, ebenso wie die Himmelskörper. Diese umkreisten uns horizontal, wie sich ein Hut um den Kopf dreht, statt über und unter der Erde hindurch im Laufe eines Tages ihre Bahnen zu ziehen (KRS 151–6). Der Auf- und Untergang der Himmelskörper lasse sich dadurch erklären, dass sich die Ausrichtung der Erdscheibe ändere. Was das Urprinzip betrifft, hielt Anaximenes den grenzenlosen Stoff Anaximanders für einen zu abstrakten Begriff, und er entschied sich, wie Thales, für ein einziges der existierenden Elemente als Grundelement, wobei er sich ebenfalls für die Luft statt für das Wasser entschied.

In ihrem stabilen Zustand ist die Luft unsichtbar, doch wenn sie bewegt und komprimiert wird, wird sie zunächst zu Wind und dann zu Wolken und schließlich zu Wasser, und Wasser verdichtet sich dann weiter und wird zu Lehm und Gestein. Verdünnte Luft wird zu Feuer, womit sich der Kreis der Elemente schließt. Auf diese Weise können durch Verdünnung und Verdichtung alle Dinge aus der zugrunde liegenden Luft entstehen (KRS 140f.). Als Argument für diese Behauptung appelliert Anaximenes an die Erfahrung, ja sogar das Experiment – ein Experiment, das der Leser oder die Leserin sehr leicht selbst durchführen kann: Blase auf deine Hand, erst mit gespitzten Lippen und dann mit offenem Mund. Das erste Mal wird sich die Luft kalt anfühlen, das zweite Mal heiß. Nach Anaximenes beweist dies den Zusammenhang zwischen Dichte und Temperatur (KRS 143).

Die Berufung auf Experimente und die Einsicht, dass Änderungen der Qualität mit Änderungen der Quantität verbunden sind, zeichnet Anaximenes als aufkeimenden Wissenschaftler aus, als mehr allerdings noch nicht: Er verfügte noch über keine Methode, mit der er die von ihm angeführten Größen hätte messen können, er stellte keine Gleichungen auf, um sie zueinander in Beziehung zu setzen, und sein Grundprinzip zeichnet sich noch durch mythische und religiöse Aspekte aus. Die Luft ist göttlich und erzeugt Gottheiten aus sich (KRS 144–6); Luft ist unsere Seele und sie hält unsere Körper zusammen (KRS 160).

Die Milesier sind demnach noch keine wirklichen Physiker, doch bringen sie auch nicht nur Mythen in Umlauf. Sie haben den Mythos noch nicht hinter sich gelassen, aber sie gehen zu ihm auf Distanz. Sie sind auch keine echten Philosophen, es sei denn, man bezeichnet als „Philosophie“ die Wissenschaft in ihren Kinderschuhen. Begriffsanalyse und apriorische Argumente, die zum Handwerkszeug der Philosophen von Platon bis zur Gegenwart gehören, spielen bei ihnen noch kaum eine Rolle. Sie sind der Spekulation ergeben, und in ihren Spekulationen vermischen sich Elemente der Philosophie, der Wissenschaft und Religion zu einem reichhaltigen, berauschenden Gebräu.

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