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Von Sokrates zu Platon

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Ob dies nun tatsächlich Sokrates’ letztes Wort über die Lehrbarkeit der Tugend gewesen ist oder nicht, der Leser der platonischen Dialoge begegnet im Menon und Phaidon schon bald einer ganz anderen Antwort: Die Tugend und die Kenntnis des Guten und Bösen, die für Sokrates mit der Tugend identisch ist, kann in diesem Leben nicht gelehrt werden. Sie kann nur durch Wiedererinnerung an eine andere, bessere Welt wiedergewonnen werden. Dies wird nicht als eine spezielle These über die Tugend vorgestellt, sondern als generelle Behauptung über das Wissen. Im Dialog Menon wird behauptet, dass ein Sklavenjunge, der nie zuvor Unterricht in Geometrie erhalten hat, durch geeignete Fragen dazu gebracht werden kann, sich an wichtige geometrische Lehrsätze zu erinnern (Men. 82b–86a). Im Dialog Phaidon wird die Behauptung aufgestellt, dass wir – obwohl wir häufig Dinge sehen, die mehr oder weniger gleich groß sind – niemals zwei Dinge sehen, die absolut identisch sind. Die Idee der absoluten Gleichheit kann daher nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern muss in einem früheren Leben erworben worden sein. Dasselbe gilt auch für ähnliche Ideen, wie zum Beispiel das absolut Gute und Schöne (Phd. 74b–75b).

Die Dialoge Menon und Phaidon führen daher zwei Lehren ein, die Ideen- und die Wiedererinnerungslehre, die nach dem allgemeinen Urteil der Forschung Platon und nicht dem historischen Sokrates zuzurechnen sind. Sie nehmen die „Trennung“ vor, von der Aristoteles gesprochen hatte: zwischen den von Sokrates gesuchten allgemeinen Definitionen und den empirischen Gegenständen unserer Alltagswelt.

Der Dialog Phaidon enthält auch Platons Darstellung von Sokrates’ letzten Tagen im Gefängnis. Sokrates Freund Kriton war es (in einem nach ihm benannten Dialog) nicht gelungen, für seinen Fluchtplan Zustimmung zu finden. Sokrates lehnte diesen Vorschlag mit der Begründung ab, dass er den Gesetzen Athens, unter denen er geboren und großgezogen worden sei und zufrieden gelebt habe, so viel verdanke, dass er jetzt dem Bündnis mit ihnen nicht den Rücken kehren und davonlaufen könne (Phd. 51d–54c). Mit der Ankunft eines Schiffes von der heiligen Insel Delos ging die aus religiösen Gründen einzuhaltende Aufschubsfrist der Hinrichtung zu Ende, und Sokrates bereitet sich auf den Tod vor, indem er mit seinen Freunden ein langes Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele führt.30 Das Gespräch endet damit, dass Sokrates eine Reihe von Mythen über die Reisen der Seele in die Unterwelt erzählt, nachdem sie den Tod überlebt hat.

Kriton fragt, ob Sokrates irgendwelche Anweisungen bezüglich des Begräbnisses habe. Ihm wird gesagt, er solle bedenken, dass sie nur seinen Körper und nicht die Seele, die die Freude der Seligen teilen werde, beerdigen würden. Nach seinem letzten Bad verabschiedet sich Sokrates von seiner Familie, scherzt mit dem Gefängniswärter und nimmt den Schierlingsbecher aus seiner Hand entgegen. Es wird beschrieben (was medizinisch eher unplausibel ist), wie gelassen und gefasst er sich gibt, während seine Gliedmaßen nach und nach empfindungslos werden. Seine letzten Worte sind, wie so viele in seinem Leben, rätselhaft: „Oh Kriton, wir sind dem Asklepios [dem Gott der Heilkunst] einen Hahn schuldig, entrichte ihm den und versäume es ja nicht.“ Auch hier fragt man sich, ob das Gesagte wörtlich zu verstehen ist, oder ob wir es mit einem Fall der für Sokrates typischen Ironie zu tun haben.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Platon in ein und demselben Dialog die letzten Stunden von Sokrates’ Leben beschreibt und zum ersten Mal eine klare Darstellung seiner eigenen Ideenlehre gibt. Wir werden zu Zeugen nicht nur von Sokrates’ physischem Ende, sondern auch des Untergangs seiner persönlichen Philosophie, die in der Folge in der metaphysischeren und mystischen Form des Platonismus wiedergeboren wird.

Als Sokrates starb, war Platon, der acht Jahre lang sein Schüler gewesen war, in seinen späten 20er Jahren. Als Angehöriger einer aristokratischen Familie Athens war Platon gerade alt genug, um am Peleponnesischen Krieg teilgenommen zu haben; seine Brüder Glaukon und Adeimantos nahmen mit Sicherheit daran teil. Seine Onkel Kritias und Charmides waren zwei der 30 Tyrannen, er selbst nahm am politischen Leben Athens jedoch nicht teil. Im Alter von 40 Jahren ging er nach Sizilien und wurde ein Vertrauter von Dion, dem Schwager des regierenden Monarchen Dionysos I. Während dieses Aufenthalts lernte er den pythagoreischen Philosophen Archytas kennen. Nach seiner Rückkehr nach Athen gründete er in einem kleinen privaten Waldstück neben seinem Haus eine philosophische Gemeinschaft: die Akademie. Dort verfolgte eine Gruppe von Denkern unter seiner Leitung gemeinsam ihre Interessen in der Mathematik, Astronomie, Metaphysik, Ethik und Mystik. Als er 60 Jahre alt war, wurde er von Dions Neffen, der in der Zwischenzeit als Dionysios II den Thron bestiegen hatte, erneut nach Sizilien eingeladen. Doch sein Besuch war nicht von Erfolg gekrönt, weil sich Dion und Dionysios zerstritten. Ein dritter Besuch als königlicher Berater verlief ebenfalls erfolglos, und Platon kehrte im Jahre 360 enttäuscht in seine Heimatstadt zurück. Im Jahre 347 starb er, selbst unverheiratet, im Alter von 80 Jahren auf einer Hochzeit in Athen eines friedlichen Todes.

Platons Leben wurde von den Schriftstellern der Antike mit zahlreichen Geschichten umrankt, von denen nur wenigen Glauben geschenkt werden kann. Wenn wir die Grunddaten seiner Biografie durch weitere Details erweitern möchten, lesen wir am besten die Briefe, die traditionellerweise in seine Werke aufgenommen wurden. Obwohl einige, wenn nicht sogar alle, aus der Feder anderer Autoren stammen, enthalten sie Informationen, die wesentlich plausibler sind als die Anekdoten, die in Diogenes Laertius’ Darstellung von Platons Leben zu finden sind. Die Briefe geben an, dass sie aus den letzten zwei Jahrzehnten von Platons Leben stammen. Sie handeln hauptsächlich von seiner Verwicklung in die Regierung von Syrakus und von seinem Versuch, eine Gewaltherrschaft in einen Staat mit einer Verfassung zu verwandeln, die seine eigenen politischen Ideale verkörpert.


Eine Herme des Sokrates, mit einem Zitat aus Platons Dialog Kriton.

Die uns von Platon überlieferten Werke umfassen insgesamt eine halbe Million Wörter. Obwohl wahrscheinlich einige der im platonischen Corpus enthaltenen Werke unecht sind, gibt es keine Platon in der Antike zugeschriebenen Dialoge, die nicht überlebt haben. Spätere antike Autoren haben nicht nur umfangreiche Passagen aus seinen Dialogen zitiert, sondern zeitweilig auch der mündlichen Tradition seiner Vorlesungen in der Akademie eine Bedeutung beigemessen.

Da Platon in Dialogform geschrieben hat und er in den Dialogen niemals selbst als Sprecher auftaucht, lässt sich nur schwer mit Sicherheit sagen, welche der vielfältigen philosophischen Thesen, die von seinen Charakteren vorgetragen werden, er selbst vertrat. Ein Paradebeispiel hierfür hat sich uns im Fall des platonischen Sokrates gezeigt, doch muss man ähnliche vorsichtig sein, wenn man versucht, ihm die Lehren der anderen wichtigen Gesprächspartner in den Dialogen zuzuschreiben: von Timaios, des eleatischen Fremden in den Dialogen Sophistes und Politikos sowie des athenischen Fremden in den Nomoi. Die Dialogform ermöglichte es Platon, sich in wichtigen philosophischen Fragen des Urteils zu enthalten, während er gleichzeitig die stärksten Argumente, die er finden konnte, auf beiden Seiten der Frage vortrug (siehe D.L. 3.52).

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