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Die Ideenlehre

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Die bekannteste der Lehren, denen wir in Platons Dialogen begegnen, ist die Ideenlehre. In den mittleren Dialogen, angefangen mit dem Euthyphron, wird auf diese Lehre Bezug genommen. Sie wird als wahr vorausgesetzt oder als Argumentationsgrundlage verwendet, statt dass sie explizit dargestellt und formal begründet würde. Die deutlichste Kurzdarstellung der Lehre findet sich nicht in den Dialogen, sondern im siebten der Platon traditionellerweise zugeschriebenen Briefe. Er dient hauptsächlich der Verteidigung von Platons Aktivitäten in Sizilien. In neuerer Zeit hat man die Echtheit dieses Briefes häufig bezweifelt. Es gibt jedoch keinen besseren Grund, Platons siebten Brief an die Syrakuser zu verwerfen als den zweiten Brief des Paulus an die Korinther (dem er in mehrfacher Hinsicht ähnlich ist). Zumindest gibt es keinen guten stilometrischen Grund, seine Echtheit zu bezweifeln.31 Wenn er nicht echt ist, ist er zumindest eine der klarsten und verlässlichsten Darstellungen der Ideenlehre in der gesamten Sekundärliteratur zu Platon.

Der Brief führt Folgendes als Grundlehre an, die Platon häufig entwickelt hat:

„Für jedes Ding gibt es dreierlei, wodurch sich notwendigerweise seine Erkenntnis vollzieht, dazu kommt als viertes die Erkenntnis selbst, als fünftes muss man das selbst ansetzen, was eben Objekt der Erkenntnis und das wahrhaft Seiende ist, nämlich erstens der Name, zweitens die Definition, drittens das Abbild, viertens die Erkenntnis. Nimm als Beispiel einen Einzelfall, wenn du verstehen willst, was ich sage, und dann übertrage das auf alles. Zum Beispiel gibt es ein Ding, das man Kreis nennt. Sein Name ist eben gerade dies Wort, das wir jetzt ausgesprochen haben. Das zweite ist seine Definition; sie besteht aus Substantiven und Verben. Der Satz nämlich: „dasjenige Ding, dessen äußerste Punkte überall gleich weit von der Mitte entfernt sind“, das wird etwa die Definition dessen sein, das den Namen rund und gleichförmig gebogen und Kreis trägt. An dritter Stelle steht das, was gezeichnet und wieder ausgewischt wird, gedrechselt wird und wieder zerstört werden kann. Von all dem erleidet der Kreis selbst, auf denen alle die genannten sich beziehen, nichts, da er etwas anderes ist als sie. Das vierte aber, die Erkenntnis und die Einsicht und die wahre Meinung, stützt sich auf diese Dinge. All dies ist als eine Klasse aufzufassen, da es nicht in Sprachlauten noch in räumlichen Formen, sondern in der Seele existiert: dadurch ist es deutlich etwas anderes als das Wesen des Kreises an und für sich und als die drei vorhin genannten Dinge. Unter ihnen kommt aber die Einsicht dem fünften am nächsten durch Verwandtschaft und Ähnlichkeit, die andern sind weiter entfernt. Ganz gleich steht es mit geraden wie mit krummen Figuren und mit Farbe, Gut und Schön und Gerecht, mit jedem geschaffenen und natürlich gewordenen Körper, Feuer, Wasser und allem Ähnlichen, mit jedem Lebewesen und dem Charakter, jedem Tun und Leiden. Wenn nämlich einer nicht irgendwie die vier Dinge [miteinander] ergreift, wird ihm niemals ganz die Erkenntnis des fünften zuteil werden.“ (342a–d)32

Platon folgend, werde ich damit beginnen, vier Dinge zu unterscheiden: das Wort ‚Kreis‘, die Definition eines Kreises (eine Folge von Wörtern), eine Zeichnung eines Kreises sowie meinen Begriff eines Kreises. Es ist wichtig über diese vier Dinge Klarheit zu erlangen, um sie von etwas zu unterscheiden und ihm gegenüberzustellen: einem fünften Ding, dem wichtigsten von allen, das er als „den Kreis selbst“ bezeichnet. Es handelt sich hierbei um eine der Ideen, um die es in Platons berühmter Lehre geht. Wie aus dem Satz am Ende des zitierten Abschnitts, der die Felder auflistet, in denen die Theorie anwendbar ist, hervorgeht, ist sie sehr umfassend. In seinen anderen Schriften verwendet Platon zahlreiche andere Ausdrücke zur Bezeichnung der Ideen. „Urbilder“ (eide) ist wahrscheinlich der häufigste, doch kann die Idee oder das Urbild von X auch als „X selbst“, „genau dasjenige, was X ist“ oder „X-heit“ oder als „was X ist“ bezeichnet werden.

Es ist wichtig sich klarzumachen, was in der Liste in Platons siebtem Brief fehlt. Er erwähnt, selbst auf der untersten Ebene, keine tatsächlichen materiellen kreisförmigen Gegenstände, wie zum Beispiel Wagenräder oder Fässer. Der Grund hierfür geht aus anderen Abschnitten in seinen Schriften hervor (z.B. Phd. 74a–c). Die Wagenräder und Fässer, denen wir auf der Ebene der Erfahrung begegnen, sind niemals vollkommen kreisförmig: Irgendwo haben sie einen Knick oder eine Ausbuchtung, die verhindert, dass alle Punkte auf dem Umfang den gleichen Abstand vom Mittelpunkt haben. Dies gilt natürlich auch für jede Zeichnung eines Kreises auf Papier oder im Sand. Platon hebt diesen Punkt hier nicht hervor, doch ist es der Grund dafür, warum er sagt, dass die Zeichnung einen größeren Abstand zum Kreis selbst hat als mein Begriff von ihm. Mein subjektiver Begriff von einem Kreis – mein Verständnis dessen, was mit dem Wort „Kreis“ gemeint ist – ist nicht dasselbe wie die Idee des Kreises, da der Idee eine objektive Realität zukommt, die keine Eigenschaft eines individuellen Geistes ist. Doch immerhin ist der Begriff in meinem Geist der Begriff eines vollkommenen Kreises. Anders als der Ring an einem Finger ist er nicht nur eine unvollkommene Annäherung an einen Kreis.

In dem von mir zitierten Text gelangt Platon zur Idee des Kreises im Ausgang von Überlegungen über das Wort „Kreis“, das an der Subjektstelle von Sätzen wie dem folgenden auftritt:

Ein Kreis ist ein Gebilde, das aus denjenigen Punkten in einer Ebene besteht, die den gleichen Abstand von einem Mittelpunkt haben.

Manchmal führt Platon jedoch die Idee von X durch Überlegungen zu Sätzen ein, in denen X nicht an der Subjektstelle, sondern als Prädikat vorkommt.

Bedenken wir folgendes Beispiel: Sokrates, Simmias und Kebes werden alle als „Männer“ bezeichnet. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie alle Männer sind. Wenn wir nun sagen: „Simmias ist ein Mann“, können wir uns fragen, ob das Wort „Mann“ auf die gleiche Weise etwas bezeichnet oder für etwas steht wie der Name „Simmias“ für den einzelnen Mann Simmias. Wenn dies zutrifft: Wofür steht es? Ist es dasselbe, für das das Wort „Mann“ in dem Satz „Simmias ist ein Mann“ steht? Um mit Fragen dieser Art umzugehen, führte Platon die Idee des Mannes ein. Es ist dasjenige, was Simmias, Kebes und Sokrates zu Männern macht. Es ist der ursprüngliche Träger des Namens „Mann“.

In vielen Fällen, in denen wir sagen würden, dass ein gemeinsames Prädikat auf eine bestimmte Anzahl von Individuen zutrifft, würde Platon sagen, dass sie alle zu einer bestimmten Idee oder einem Urbild in Beziehung stehen: Wenn A, B und C alle F sind, stehen sie alle in Beziehung zur einzelnen Idee F. Manchmal beschreibt er diese Beziehung als Nachahmung: A, B und C gleichen alle F. Manchmal spricht er stattdessen von Teilhabe: A, B und C haben alle an F teil, F ist, was sie alle gemeinsam haben. Es ist nicht klar, wie allgemein wir das Prinzip, dass hinter einem gemeinsamen Prädikat eine gemeinsame Idee steht, anwenden sollen. Manchmal trägt Platon dieses Prinzip als allgemeingültig vor, manchmal zögert er, es auf bestimmte Arten von Prädikaten anzuwenden. Fest steht, dass er Ideen zahlreicher verschiedener Arten auflistet, wie zum Beispiel die Idee des Guten, die Idee des Bettes, die Idee des Kreises oder die Idee des Seins. Er ist bereit, die Theorie über einstellige Prädikate, wie zum Beispiel „ist rund“, auf zweistellige Prädikate wie „ist verschieden von“ auszudehnen. Wenn wir sagen, dass A von B verschieden ist, und wenn wir sagen, dass B von A verschieden ist, verwenden wir das Wort „verschieden“ zweimal, beziehen uns dabei jedoch jedes Mal auf eine einzige Entität.

Über die Ideen und ihre Beziehungen zu den alltäglichen Gegenständen der Welt lassen sich eine Reihe von platonischen Thesen aufstellen:

(1) Das Prinzip der Gemeinschaft. Wann immer mehrere Dinge F sind, ist der Grund hierfür, dass sie an einer einzigen Idee F teilhaben oder sie nachahmen (Phd. 100c; Men. 72c, 75a: Pol. 5. 476a10, 597c).

(2) Das Prinzip der Verschiedenheit. Die Idee F ist von allen Dingen, die F sind, verschieden (Phd. 74c; Sym. 211b).

(3) Das Prinzip der Selbstprädikation. Die Idee F ist selbst F (Hp. Ma. 292e; Prt. 230c–e; Prm. 132a–b).

(4) Das Prinzip der Reinheit. Die Idee F ist nichts als F (Phd. 74c; Sym. 211e).

(5) Das Prinzip der Einzigkeit. Nichts außer der Idee F ist wirklich, wahrhaft und ausschließlich F (Phd. 74d, Pol. 479a–d).

(6) Das Prinzip der höheren Seinsweise. Ideen sind ewig, haben keine Teile, unterliegen keinen Veränderungen und können mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden (Phd. 78d; Sym. 211b).

An sich ist das Prinzip der Gemeinschaft nicht spezifisch platonisch. Viele Philosophen, die der Rede von einer „Teilhabe“ nicht zustimmen können, sind bereit zu sagen, dass Eigenschaften den vielen Dingen, die sie haben, „gemeinsam“ sind. Sie könnten beispielsweise sagen: „Wenn A, B und C alle rot sind, ist der Grund hierfür, dass sie die Eigenschaft rot zu sein gemeinsam haben, und wir lernen die Bedeutung von „rot“, indem wir sehen, was die roten Dinge gemeinsam haben.“ Das Besondere an Platon ist, dass er ernsthaft weiterfragt, was daraus folgt, wenn man von der Metapher „gemeinsam haben“ Gebrauch macht.33 So darf es beispielsweise nur eine einzige Idee F gegeben, denn ansonsten könnten wir nicht erklären, warum die F-Dinge etwas gemeinsam haben (Pol. 597b–c).

Das Prinzip der Verschiedenheit ist mit der Vorstellung einer Hierarchie verbunden, die zwischen den Ideen und den Einzeldingen besteht, die Beispiele für sie sind. Teilhaben und dasjenige zu sein, an dem die Teilhabe sich vollzieht, sind zwei recht verschiedene Relationen, und die beiden Elemente dieser Relationen müssen sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden.

Das Prinzip der Selbstprädikation ist für Platon wichtig, weil er ohne dieses Prinzip nicht zeigen könnte, wie die Ideen das Vorkommen von Eigenschaften in Einzeldingen erklären. Nur was heiß ist, kann auch anderes heiß sein lassen. Mit einem nassen Handtuch kann man sich nicht abtrocknen. Man kann daher generell feststellen, dass nur, was selbst F ist, erklären kann, warum etwas anderes F ist. Wenn also die Idee des Kalten erklären können soll, warum Schnee kalt ist, muss sie selbst kalt sein (Phd. 103b–e).

Die Idee F ist nicht nur F, sondern auch ein perfektes Exemplar eines F. Sie kann durch kein anderes, von der F-heit verschiedenes Element abgeschwächt oder verfälscht werden: Daher ist das Prinzip der Reinheit anzunehmen. Wenn sie über eine andere Eigenschaft verfügte, als F zu sein, so müsste dies durch Teilhabe an irgendeiner anderen Idee geschehen, die ihr mit Sicherheit auf die gleiche Weise überlegen sein müsste, auf welche die Idee F allen nicht-idealen Fs überlegen ist. Die Vorstellung von vielschichtigen Beziehungen zwischen den Ideen öffnet eine Büchse der Pandora, die Platon bei der Darstellung der klassischen Ideenlehre in den mittleren Dialogen vorzugsweise geschlossen hält.

Das Prinzip der Einzigkeit wird von Kommentatoren manchmal auf irreführende Weise beschrieben. Platon sagt häufig, dass nur die Ideen wirkliches Sein haben, und dass die nicht-idealen Einzeldinge, denen wir in der sinnlichen Erfahrung begegnen, zwischen Sein und Nichtsein schweben. Er wird oft so verstanden, als behaupte er, dass nur die Ideen wirklich existierten und dass die greifbaren Objekte unwirklich sind und nur scheinbar existieren. Im jeweiligen Kontext ist jedoch klar: Wenn Platon sagt, nur die Ideen haben wirkliches Sein, meint er damit nicht, nur die Ideen existieren wirklich, sondern dass nur die Idee F wirklich F ist, was immer F in einem besonderen Fall sein mag. Einzeldinge befinden sich zwischen Sein und Nichtsein, insofern sie sich zwischen F-Sein und Nicht-F-Sein befinden, d.h., sie sind manchmal F und manchmal nicht-F.34

So ist beispielsweise nur die Idee der Schönheit wirklich schön, weil einzelne schöne Dinge: (a) schön nur in einer Hinsicht sind, aber hässlich in einer anderen (zum Beispiel schön von Gestalt, aber nicht in der Gesichtsfarbe), (b) schön zu einer Zeit sind, jedoch nicht zu einer anderen (zum Beispiel im Alter von 20, aber nicht im Alter von 70 Jahren), (c) schön im Vergleich zu einigen Dingen, jedoch nicht zu anderen sind (Helena mag im Vergleich mit Medea schön sein, verglichen mit Aphrodite jedoch nicht) und (d) schön in manchen Umgebungen sind, aber nicht in anderen (Smp. 211 a–e).

Ein wichtiger Aspekt der klassischen Ideenlehre ist das Prinzip der höheren Seinsweise. Die Einzeldinge, die an den Ideen teilhaben, gehören zur geringerwertigen Welt des Werdens, der Welt der Veränderung und des Verfalls. Die Ideen, an denen die Einzeldinge teilhaben, gehören zur höherwertigen Welt des Seins, die von ewiger Beständigkeit ist. Die höchste aller Ideen ist die Idee des Guten, die an Rang und Macht allen anderen überlegen ist, und dem alles Erkennbare sein Sein verdankt (Pol. 509c).

Das Problem der Ideenlehre ist, dass die sie definierenden Prinzipien nicht miteinander vereinbar scheinen. Es ist schwierig, das Prinzip der Verschiedenheit mit den Prinzipien der Gemeinschaft und der Selbstprädikation in Einklang zu bringen. Die Schwierigkeit wurde zuerst von Platon selbst in seinem Dialog Parmenides hervorgehoben, wo er folgendes Gegenargument vorbringt. Nehmen wir an, es gebe eine Reihe von Einzeldingen, von denen jedes F ist. Dann existiert nach (1) eine Idee F. Diese muss nach (3) selbst F sein. Doch nun machen die Idee F und die ursprünglichen einzelnen Fs eine neue Menge von Dingen aus, die F sind. Nach (1) muss der Grund hierfür sein, dass sie an der Idee F teilhaben. Nach (2) kann dies nicht die Idee sein, die zunächst postuliert wurde. Es muss daher eine weitere Idee F geben, und diese muss ihrerseits, nach (3), F sein, und so weiter bis ins Unendliche. Wenn wir diesen Regress ins Unendliche vermeiden wollen, müssen wir das eine oder andere der Prinzipien, die ihn herbeiführen, aufgeben. Bis heute sind sich die Fachwissenschaftler nicht einig, wie ernst Platon diese Schwierigkeit genommen hat, und welches seiner Prinzipien er, wenn überhaupt, modifiziert hat, um ihr zu begegnen. Ich werde auf diese Frage zurückkommen, wenn wir uns in der Folge mit Platons Metaphysik noch eingehender beschäftigen werden.35

Platon wendete seine Ideenlehre auf viele philosophische Probleme an: Er schlägt Ideen als die Grundlage moralischer Werte, als letztes Fundament des wissenschaftlichen Wissens und als den letzten Ursprung allen Seins vor. Ein Problem, für das Platon seine Theorie als Antwort anbot, wird häufig als Universalienproblem bezeichnet: das Problem der Bedeutung allgemeiner Ausdrücke wie „Mensch“, „Bett“, „Tugend“ und „gut“. Da sich Platons Antwort als unbefriedigend herausgestellt hat, blieb das Problem auf der philosophischen Tagesordnung. In späteren Kapiteln werden wir sehen, wie Aristoteles mit dieser Frage umging. Ihre Geschichte setzt sich durch das gesamte Mittelalter fort und reicht bis in unsere Gegenwart. Eine Reihe von Vorstellungen, die in modernen Diskussionen des Problems vorkommen, weisen eine Ähnlichkeit mit Platons Ideen auf.

Prädikate. In der modernen Logik geht man davon aus, dass ein Satz wie etwa „Sokrates ist weise“ aus einem Subjekt, Sokrates, und einem Prädikat besteht, das aus dem Rest des Satzes besteht, d.h.: „… ist weise“. Einige Logiker haben im Anschluss an Gottlob Frege angenommen, dass Prädikate eine extra-mentale Entsprechung haben: Dem Ausdruck „… ist ein Mann“ entspreche ein objektives Prädikat (Frege nannte es eine „Funktion“) auf ähnliche Weise, wie der Mann Sokrates dem Namen „Sokrates“ korrespondiert. Freges Funktionen, wie etwa die Funktion x ist ein Mann, sind objektive Entitäten: Sie sind dem fünften Element des siebten Briefes ähnlicher als die vier anderen. Sie teilen mit den Ideen einige ihrer transzendentalen Eigenschaften: Die Funktion x ist ein Mann wächst oder stirbt nicht, wie es Menschen tun, und nirgendwo in der Welt kann man die Funktion x ist durch 7 teilbar betrachten oder anfassen. Doch die Prinzipien der Selbstprädikation und Einzigkeit gelten für Funktionen nicht. Wie könnte man sich je vorstellen, dass die Funktion x ist ein Mensch, und nur diese Funktion, wirklich und wahrhaft ein Mensch ist?

Klassen. Funktionen dienen als Prinzipien, nach denen Objekte zu Klassen zusammengefasst werden könnten: Objekte, die die Funktion x ist ein Mensch erfüllen, können beispielsweise zur Klasse der menschlichen Wesen zusammengefasst werden. Ideen haben mit Klassen eine gewisse Ähnlichkeit: Die Teilhabe an einer Idee kann mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse verglichen werden. Die Schwierigkeit der Gleichsetzung von Ideen mit Klassen ergibt sich erneut aufgrund des Prinzips der Selbstprädikation. Die Klasse der Männer ist selbst kein Mann, und wir können nicht allgemein behaupten, dass eine Klasse von Fs selbst F ist. Es scheint jedoch auf den ersten Blick, als ob es tatsächlich Klassen gäbe, die sich selbst angehören, wie zum Beispiel die Klasse der Klassen. Doch genau so, wie Platon feststellte, dass das Prinzip der Selbstprädikation zu schwerwiegenden Problemen führt, fanden auch die modernen Logiker, dass sich Paradoxa ergeben, wenn man bei der Definition der Klassen von Klassen völlige Freiheit walten lässt. Am bekanntesten ist das Paradoxon der Klasse all derjenigen Klassen, die sich nicht selbst angehören. Bertrand Russell wies darauf hin, dass diese Klasse, wenn sie sich selbst angehört, sich nicht selbst angehört, und wenn sie sich nicht angehört, sich selbst gehört. Es ist kein Zufall, dass Russells Paradoxon eine auffällige Ähnlichkeit mit Platons Selbstkritik im Parmenides aufweist.

Paradigmen. Es ist mehr als einmal vorgeschlagen worden, platonische Ideen sollten als Paradigmen oder Standards angesehen werden. Die Beziehung zwischen Einzeldingen und Ideen könnte man sich ähnlich denken wie diejenige zwischen ein Meter langen Objekten und dem Standardmeter, durch das die Länge eines Meters formal definiert ist.36 Diese Vorstellung passt gut zu der Art und Weise, auf die nach Platon Einzeldinge die Ideen nachahmen oder ihnen gleichen: einen Meter lang sein besteht exakt darin, dem Standardmeter ähnlich zu sein, und wenn zwei Dinge jeweils einen Meter lang sind, so ist der Grund hierfür, dass beide dem Paradigma gleichen. Doch gilt für solche Paradigmata das Prinzip der höheren Seinsweise nicht: Das Standardmeter befindet sich nicht im Himmel, sondern in Paris.

Konkrete Universalien. Philosophen haben manchmal mit dem Gedanken gespielt, dass das Wort „Wasser“ in einem Satz wie „Wasser ist eine Flüssigkeit“ wie der Name eines einzelnen, jedoch verstreuten Gegenstandes, des wässrigen Teils der Welt, betrachtet werden sollte, der aus Pfützen, Flüssen, Seen usw. besteht. Hierdurch ließe sich Platons Prinzip, dass Einzeldinge an Ideen teilhaben, ein deutlicher Sinn geben: Das Wasser in dieser Flasche ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Teil allen-Wassers-in-der-Welt. Darüber hinaus ist Wasser zweifellos Wasser, und nichts, was nicht Wasser ist, ist wirklich und wahrhaft Wasser. Dieser Gedanke passt auch zu Platons Vorliebe (die seine Kommentatoren nur selten teilen), sich auf die Ideen durch einen konkreten (zum Beispiel „das Schöne“) statt durch einen abstrakten Sprachmodus zu beziehen (zum Beispiel „Schönheit“). Konkrete Universalien scheitern jedoch am Prinzip der höheren Seinsweise und der Reinheit: Das Wasser im Universum hat einen Ort im Raum, es kann seine Menge und Verteilung ändern und es verfügt über andere Eigenschaften außer derjenigen, Wasser zu sein.

Keine dieser Vorstellungen wird den zahlreichen Aspekten von Platons Ideenlehre gerecht. Wenn man sich veranschaulichen will, wie diese sechs Prinzipien Platon plausibel erschienen, ist es besser, statt eines technischen Begriffes der modernen Logik einen alltäglicheren Begriff zu betrachten. Stellen wir uns die Richtungen eines Kompass vor: Norden, Süden, Westen und Osten. Nehmen wir beispielsweise den Begriff des Ostens, wie er in der naiven Reflexion in verschiedenen Redewendungen von Briten verwendet wird. Es gibt viele Orte, die von uns aus gesehen im Osten liegen, zum Beispiel Belgrad und Hongkong. Alles, was auf diese Weise östlich liegt, gehört zum Osten (Teilnahme) und liegt in derselben Richtung wie der Osten (Nachahmung). Das ist es, wodurch, was im Osten liegt, östlich ist (1). Der Osten kann jedoch mit keinem Punkt im Raum gleichgesetzt werden, wie weit dieser auch im Osten liegen mag (2). Selbstverständlich ist der Osten östlich von uns (3), und der Osten ist nichts als der Osten (4): Wenn wir sagen „Der Osten ist rot“ meinen wir lediglich, dass der östliche Himmel rot ist. Nichts außer dem Osten ist bedingungslos östlich: Die Sonne steht manchmal im Osten und manchmal im Westen, Indien liegt östlich von Iran, jedoch westlich von Vietnam, doch der Osten liegt jederzeit und überall im Osten (5). Der Osten hat keine Geschichte in der Zeit und man kann ihn nicht sehen, greifen oder aufteilen (6).

Ich schlage natürlich nicht vor, dass die Richtungen des Kompass eine Interpretation von Platons Prinzipien liefern, nach der jedes von ihnen zutrifft: Keine Interpretation könnte dies leisten, da sie einen inkonsistenten Prinzipiensatz ausmachen. Ich sage nur, dass diese Interpretation die Thesen auf den ersten Blick plausibler erscheinen lassen als die vorher betrachteten Interpretationen. Funktionen, Klassen, Paradigmata und konkrete Universalien führen zu je eigenen Problemen, wie Philosophen lange nach Platon entdeckt haben, und obwohl wir zur klassischen Ideenlehre nicht zurückkehren können, steht eine vollständig befriedigende Antwort auf die Probleme, die sie zu lösen versuchte, noch aus.

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