Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 22
Der Sokrates Platons
ОглавлениеEs ist allerdings eine Vereinfachung von dem platonischen Sokrates zu sprechen, da der Sokrates genannten Figur in Platons Dialogen keine feste Rolle oder Persönlichkeit zugewiesenen wird. In einigen Dialogen ist er hauptsächlich ein kritisch Fragender, der das angemaßte Wissen anderer Charaktere durch eine charakteristische Technik von Frage und Antwort – den elenchus – angreift und auf diese Weise der Widersprüchlichkeit überführt. In anderen Dialogen ist Sokrates durchaus bereit, seinen Zuhörern eine Moralpredigt zu halten und in dogmatischer Form ein ethisches und metaphysisches System zu entfalten. In wieder anderen Dialogen spielt er nur eine Nebenrolle und überlässt die philosophische Initiative einem anderen Protagonisten. Bevor wir fortfahren, müssen wir daher zunächst ein wenig abschweifen und der Frage nachgehen, wann und wo wir davon ausgehen können, dass die Dialoge Sokrates’ Ansichten wiedergeben und wann und wo Sokrates als Sprachrohr für Platons eigene Philosophie dient.
In den letzten Jahrhunderten haben Gelehrte versucht, diese Unterschiede chronologisch zu erklären: Die Sokrates in den verschiedenen Dialogen zugewiesenen unterschiedlichen Rollen stellen die Entwicklung von Platons Denken und seine allmähliche Emanzipation von den Lehrern seines Meisters dar. Der ursprüngliche Hinweis auf eine chronologische Anordnung der Dialoge stammt von Aristoteles, der uns mitteilt, dass Platons Dialog Nomoi (Die Gesetze) nach dem Dialog Politeia (Der Staat) geschrieben worden sei (Pol. 2.6.1264b24–7). Tatsächlich gibt es eine Tradition, die behauptet, dass der Dialog Nomoi zum Zeitpunkt von Platons Tod noch nicht fertiggestellt war (D.L. 3. 37). Auf der Grundlage dieser Annahme versuchten Gelehrte im 19. Jahrhundert eine Umgruppierung der Dialoge, angefangen von Platons letzter Lebensphase. Sie studierten die Häufigkeit, mit der in den verschiedenen Dialogen unterschiedliche stilistische Merkmale auftauchen, wie zum Beispiel die Verwendung technischer Begriffe, die Bevorzugung bestimmter synonymer Ausdrücke, die Vermeidung von Lücken sowie die Übernahme bestimmter Sprachrhythmen.
Sokrates und Platon. Porträt aus dem 13. Jahrhundert von Matthew Paris. Wer unterrichtet wen?
Auf der Grundlage dieser stilometrischen Studien, die am Ende des 19. Jahrhunderts etwa 500 verschiedene linguistische Kriterien abdeckten, fand die Annahme allgemeine Zustimmung, dass sich eine Gruppe von Dialogen durch ihre Ähnlichkeit mit den Nomoi auszeichne. Sämtliche Forscher stimmten darin überein, dass zu dieser Gruppe die Dialoge Kritias, Philebos, Sophistes, Politikos und Timaios gehörten, und alle waren sich darin einig, dass diese Gruppe der letzten schriftstellerischen Phase von Platon angehörten. Bezüglich der Reihenfolge innerhalb dieser Gruppe gab es keinen vergleichbaren Konsens, doch ist es erwähnenswert, dass diese Gruppe sämtliche Dialoge enthält, in denen die Rolle des Sokrates auf ein Minimum reduziert ist. Allein im Dialog Philebos ist er eine bedeutende Figur. In den Nomoi kommt er überhaupt nicht vor, und im Timaios, Kritias, Sophistes und Politikos spielt er lediglich eine Nebenrolle, während die Hauptrolle ein anderer übernimmt. In den ersten beiden Dialogen ist dies der jeweilige Protagonist, nach dem der Dialog benannt ist, und in den beiden späteren ein Fremder aus Elea, der Heimatstadt des Parmenides. Es scheint daher sinnvoll anzunehmen, dass die Dialoge dieser Gruppe die Ansichten des reifen Platon wiedergeben, statt derjenigen seines bereits vor Jahren gestorbenen Lehrers.
Bei der Einteilung der früheren Dialoge in Gruppen konnten die Forscher ebenfalls einem von Aristoteles gegebenen Hinweis folgen. In der Metaphysik M 4. 1078b 27–32 erläutert er die Vorgeschichte von Platons Ideenlehre und weist Sokrates folgende Rolle zu: „Zweierlei nämlich ist es, was man mit Recht dem Sokrates zuschreiben kann: die Induktionsbeweise und die allgemeinen Definitionen; dies beides nämlich geht auf das Prinzip der Wissenschaft. Sokrates aber setzte das Allgemeine und die Begriffsbestimmungen nicht als abgetrennte, selbstständige Wesenheiten; die Anhänger der Ideenlehre aber trennten sie und nannten diese Ideen der Dinge.“ Darstellungen der Ideenlehre werden Sokrates in mehreren wichtigen Dialogen in den Mund gelegt, insbesondere im Phaidon, in der Politeia und im Symposion. In diesen Dialogen erscheint Sokrates nicht als nachforschend Fragender, sondern als Lehrer im vollen Besitz eines Systems der Philosophie. Nach stilometrischen Kriterien stehen diese Dialoge der bereits beschriebenen letzten Gruppe näher als andere Dialoge. Es ist daher sinnvoll, sie innerhalb des platonischen Gesamtwerks als eine mittlere Gruppe zu behandeln und davon auszugehen, dass sie Platons eigene Philosophie statt derjenige des Sokrates darstellen.
Eine dritte Gruppe von Dialogen lässt sich anhand einer Reihe gemeinsamer Merkmale identifizieren: (1) Sie sind kurz; (2) Sokrates taucht darin als Fragender und nicht als Lehrer auf; (3) die Ideenlehre wird darin nicht vorgestellt; und (4) nach stilometrischen Kriterien haben sie von der zuerst beschriebenen späten Gruppe den größten Abstand. Zu dieser Gruppe gehören die Dialoge Kriton, Charmides, Laches, Lysis, Ion, Euthydemus und Hippias Minor. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass diese Dialoge Darstellungen der philosophischen Ansichten des historischen Sokrates enthalten. Hierher gehört auch die Apologie, in der Sokrates der einzige Sprecher ist, der vor Gericht um sein Leben kämpft. Dieser Dialog gleicht seinem philosophischen Inhalt und stilometrischen Eigenschaften nach den anderen Dialogen der Gruppe. Auch das erste Buch der Politeia gleicht bezüglich Inhalt und Stil dieser Gruppe mehr als den anderen Büchern des Dialogs: Einige Gelehrte nehmen mit guten Gründen an, dass es zunächst als eigener Dialog existierte, vielleicht mit dem Titel Thrasymachos. Es ist schwer, eine zeitliche Reihenfolge innerhalb dieser frühen Gruppe festzulegen, obwohl einige Autoren den Dialog Lysis an die erste Stelle setzen und ihn vor 399 datieren, denn es gibt eine antike Anekdote, nach der dieser Dialog Sokrates selbst vorgelesen worden sein soll und woraufhin dieser gesagt haben soll: „Beim Herakles, was der junge Mann doch alles über mich zusammenlügt“ (D.L. 3.35).
Nach meiner Ansicht gibt es gute Gründe, die allgemeine Übereinstimmung zu akzeptieren, nach der die platonischen Dialoge in drei Gruppen eingeteilt werden: die Gruppe der frühen, mittleren und späten Dialoge. Diese Einteilung ist das Ergebnis der frappierenden Koinzidenz von drei unabhängigen Arten von Kriterien: dramatischen, philosophischen und stilometrischen. Unabhängig davon, ob wir die dramatische Rolle betrachten, die Sokrates zugewiesen wird, oder den philosophischen Inhalt der Dialoge oder die aussagekräftigen Einzelheiten des Stils und der Wortwahl: Wir gelangen in jedem Fall zur gleichen Aufteilung in drei Gruppen. Die Entwicklungen in der Stilometrie des 20. Jahrhunderts, die über wesentlich präzisere statistische Techniken verfügte und über eine riesige Menge neuer Daten, die sich durch die Computerisierung der Texte erschlossen hat, hat im Großen und Ganzen lediglich den Konsensus bestätigt, der bereits gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht worden war.25
Eine Reihe von Dialogen lassen sich keiner dieser drei Gruppen eindeutig zuordnen, weil die drei Kriterien in ihrem Fall nicht so glücklich zusammentreffen. Die wichtigsten Dialoge, für die dies gilt, sind Kratylos, Euthyphron, Gorgias, Menon, Phaedros, Parmenides, Protagoras und der Theaitetos. Hier haben neuere stilometrische Untersuchungen neues Licht auf die Probleme geworfen.26 Es würde den hier gesteckten Rahmen sprengen auf die Argumente, mit denen diese Dialoge einer bestimmten Schaffensphase zugeordnet werden, im Detail einzugehen, sodass ich im Folgenden einfach diejenige Chronologie wiedergeben werde, die mir nach einer Prüfung der drei Kriterienarten die wahrscheinlichste zu sein scheint.
Gorgias, Protagoras und Menon scheinen zwischen die erste und zweite Gruppe zu gehören. Obwohl die Ideenlehre in den Diskussionen dieser Dialoge nicht vorkommt, steht die Rolle des Sokrates dem didaktischen Philosophen der mittleren Dialoge näher als dem agnostisch Fragenden der frühen Dialoge. Aufgrund philosophischer Erwägungen ergibt sich die Reihenfolge Protagoras, Gorgias, Menon; die aus stilometrischen Untersuchungen hervorgehende Reihenfolge lautet: Menon, Protagoras, Gorgias. Im Stil steht der Dialog Kratylos diesen dreien nahe, es ist jedoch schwierig, ihn exakt zu platzieren. Der Dialog Euthyphron gilt im Allgemeinen als früher Dialog, doch enthält er einen Hinweis auf die Ideenlehre, und nach stilistischen Kriterien steht er dem Gorgias nahe. Daher würde ich ihn dieser Zwischengruppe zuordnen.
In der Antike ging man manchmal davon aus, dass der Phaidros der früheste von Platons Dialogen ist (D.L. 3. 38), doch aufgrund einzelner darin auftauchender Lehrstücke und stilistischer Kriterien passt der Dialog relativ gut in die mittlere Gruppe. Dies trifft für zwei andere wichtige Dialoge, die dem Phaedros stilistisch nahe stehen, nämlich für den Parmenides und den Theaitetos, nicht zu. Inhaltlich haben diese Werke einen relativ großen Abstand von der klassischen Ideenlehre, die im Theaitetos ignoriert27 und im Parmenides einer strengen Kritik unterworfen wird. In der Struktur unterscheidet sich der Parmenides von allen anderen Dialogen; der Theaitetos gleicht den Dialogen der frühen Gruppe. Interne Referenzen im Theaitetos schauen auf den Parmenides zurück (Tht. 183e) und auf den Sophistes voraus (Tht. 210d). Alles in allem scheint es vernünftig, diese beiden Dialoge zwischen die mittleren und späten Dialogen einzuordnen, doch können wir die Probleme, die sich bei dem Versuch ergeben, eine zusammenhängende Darstellung von Platons philosophischer Position in dieser Phase zu geben, erst diskutieren, nachdem wir die Ideenlehre dargestellt haben.