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Der Sokrates Xenophons

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In wichtigeren Fragen zu Sokrates’ Leben und Denken wissen wir mit Sicherheit nur Weniges. Für weitere Informationen sind wir hauptsächlich auf zwei Schüler angewiesen, deren Werke uns vollständig überliefert sind: auf den Soldaten und Historiker Xenophon und den idealistischen Philosophen Platon. Xenophon und Platon haben im Nachhinein Reden verfasst, mit denen sich Sokrates während seines Prozesses verteidigt hat. Xenophon hat zusätzlich vier Bücher mit Erinnerungen an Sokrates geschrieben sowie einen sokratischen Dialog, das Symposion. Platon schrieb außer der Apologie mindestens 25 weitere Dialoge, in denen Sokrates – mit nur einer Ausnahme – vorkommt. Xenophon und Platon zeichnen Bilder von Sokrates, die sich ebenso deutlich voneinander unterscheiden wie die Bilder Jesu, die wir in den Evangelien von Markus und Johannes finden. Während der Jesus des Markus-Evangeliums in Parabeln und kurzen Sentenzen spricht und auf Fragen prägnant antwortet, hält der Jesus des vierten Evangeliums umfangreiche Reden mit mehrschichtigen Bedeutungen. Einen ähnlichen Gegensatz finden wir zwischen Xenophons Sokrates, der wie ein Handwerker fragt, argumentiert und ermahnt, und dem Sokrates in Platons Dialog Politeia, der tiefsinnige metaphysische Vorlesungen im Stil eines mehrschichtigen literarischen Kunstwerks hält; und wie es der Jesus des Johannes-Evangeliums war, der auf die spätere theologische Entwicklung den größten Einfluss genommen hat, so ist es der Sokrates Platons, dessen Ideen sich für die Geschichte der Philosophie als fruchtbar erwiesen haben.

Nach Xenophon war Sokrates ein frommer Mann, der Rituale peinlich genau einhielt und die Orakel respektierte. In seinen Gebeten ließ er die Götter entscheiden, was für ihn gut sei, da die Götter allgegenwärtig und allwissend seien. Sie wüssten, was jeder gesprochen und getan habe und was jeder im Stillen beabsichtige (Mem. 1.2. 20; 3.2). Er lehrte, dass das Scherflein des armen Mannes den Göttern ebenso gefiel wie die großartigen Opfer der Reichen (Mem. 1. 3. 3). Er war ein ehrlicher, selbstbeherrschter Mann, frei von Habsucht und Ehrgeiz, der in seinen Wünschen maßvoll war und die Widrigkeiten des Lebens mit Geduld ertrug. Er war kein Erzieher, obwohl er die Jugend sowohl durch sein Verhalten als auch durch Belehrungen unterrichtete. Lasterhaftes Verhalten wies er zurück, sowohl durch ironische Reden und Geschichten als auch durch förmlichen Tadel. Man konnte es ihm nicht vorwerfen, dass sich einige Schüler, trotz seines guten Beispiels, zum Schlechten entwickelten; und obwohl er manchen Aspekten der Demokratie Athens kritisch gegenüberstand, war er ein Freund des Volkes und irgendwelcher Verbrechen und des Verrats völlig unschuldig (Mem. 1.2).

Das Hauptanliegen Xenophons in seinen Erinnerungen bestand darin, Sokrates von sämtlichen während des Verfahrens gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu entlasten, und zu zeigen, dass ihn konservative Athener aufgrund seines Lebenswandels verehrt, statt ihn zum Tode verurteilt haben sollten. Außerdem ist Xenophon sehr darum bemüht, den Abstand zwischen Sokrates und den anderen Philosophen des Zeitalters hervorzuheben. Im Gegensatz zu Anaxagoras habe er sich nicht für nutzlose Wissensgebiete wie Physik oder Astronomie interessiert (Mem. 1.1.16), und anders als die Sophisten habe er kein Honorar verlangt oder Fachwissen beansprucht, das er nicht besaß (Mem. 1.6f.).

Der Sokrates Xenophons ist ein aufrichtiger, etwas grobschlächtiger Mensch, der scharfsinnige und vernünftige Ratschläge in praktischen und moralischen Angelegenheiten geben kann. In der Diskussion klärt er Doppeldeutigkeiten schnell auf und entlarvt leere Phrasen, doch begibt er sich nur selten in philosophische Streitgespräche oder ergeht sich in Spekulationen. In dem seltenen Fall, in dem der dies tut, geht es ihm bezeichnenderweise darum, die Existenz und Vorsehung Gottes zu beweisen. Wenn ein Objekt nützlich ist, so argumentiert Sokrates, muss es das Ergebnis von Planung, kann es kein Produkt des Zufalls sein. Nun sind unsere Sinnesorgane überaus nützlich und kompliziert gebaut. „Da unsere Augen empfindlich sind, sind sie mit Lidern geschützt, die sich öffnen, wenn wir sie brauchen, und die sich im Schlaf schließen. Damit sie nicht einmal der Wind beschädigen kann, wurden Wimpern zu ihrem Schutz angebracht, und unsere Stirn ist mit Brauen versehen, die verhindern, dass ihnen der Schweiß des eigenen Kopfes Schaden zufügt.“ (Mem. 1. 4. 6) Derartige Vorkehrungen sowie die Tatsache, dass die Instinkte zur Fortpflanzung und Selbsterhaltung in uns gelegt wurden, sehen wie die Handlungen eines weisen und wohlwollenden Kunsthandwerkers (demiourgos) aus. Es ist arrogant anzunehmen, dass wir Menschen die einzigen Wesen im Universum sind, die Geist besitzen. Zwar ist es zutreffend, dass wir die kosmische Intelligenz, die das unendliche, unüberschaubare Universum regiert, nicht sehen können, doch können wir die Seelen, die unsere Körper steuern, ebenfalls nicht sehen. Außerdem ist es absurd anzunehmen, der Mensch sei den kosmischen Mächten gleichgültig: Sie haben ihn vor allen anderen Tieren bevorzugt, indem sie ihm einen aufrechten Gang, zu zahlreichen Zwecken nützliche Hände, eine verständliche Sprache sowie einen ganzjährigen Paarungswunsch gegeben haben (Mem. 1.4. 11f.).

Außer dieser Vorwegnahme des zeitlosen teleologischen Arguments finden wir im Werk Xenophons nur wenig, was Sokrates zu einer wichtigen Stellung in der Geschichte der Philosophie berechtigen würde. In der Breite ihrer Interessen, ihrer Einsicht und Originalität sind ihm mehrere der Vorsokratiker mehr als ebenbürtig. Der Sokrates, der Generationen von Philosophen stets aufs Neue fasziniert hat, ist der Sokrates Platons und er ist es, dem wir uns im Folgenden zuwenden werden.

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