Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 18
Die Atomisten
ОглавлениеDie letzte und bemerkenswerteste Vorwegnahme der modernen Naturwissenschaft im vorsokratischen Zeitalter geschah durch Leukipp von Milet und Demokrit von Abderra. Obwohl die beiden immer in einem Atemzug genannt werden, wie Max und Moritz, und gemeinsam als Gründer des Atomismus gelten, wissen wir über Leukipp eigentlich nichts anderes, als dass er der Lehrer Demokrits gewesen ist. Unsere Kenntnis der Atomtheorie stützt sich hauptsächlich auf die überlieferten Schriften des Letzteren. Demokrit war ein Universalgelehrter und produktiver philosophischer Autor, der an die 80 Abhandlungen über Themen schrieb, die von der Poesie und Harmonielehre bis zu militärischen Strategien und babylonischer Theologie reichten. Alle diese Abhandlungen sind verloren gegangen, doch wir besitzen eine umfangreiche Sammlung von Fragmenten Demokrits, mehr als von jedem anderen früheren Philosophen.
Demokrit wurde in Abdera an der Küste Thrakiens geboren, und ist damit der erste bedeutende Philosoph, der auf griechischem Boden geboren ist. Das Datum seiner Geburt ist zweifelhaft, doch liegt es wahrscheinlich zwischen 470 und 460 v. Chr. Er soll 40 Jahre jünger als Anaxagoras gewesen sein, von dem er einige seiner Ideen übernahm. Er unternahm weite Reisen, unter anderem nach Ägypten und Persien, doch war er von den besuchten Ländern nicht sonderlich beeindruckt. Er sagte einmal, er würde lieber eine einzige wissenschaftliche Erklärung entdecken, als König von Persien werden (D.L. 9. 41; DK 68 B118).
Demokrits Grundthese lautet, dass die Materie nicht unendlich teilbar ist. Wie genau er zu dieser Schlussfolgerung gelangt ist, wissen wir nicht, doch Aristoteles vermutet, er habe folgendermaßen argumentiert. Wenn wir ein Stück irgendeines Stoffes so oft teilen, wie es uns möglich ist, müssen wir schließlich bei winzigen Körperchen ankommen, die nicht weiter teilbar sind. Wir können nicht zulassen, dass die Materie ins Unendliche teilbar ist. Denn nehmen wir an, die Teilung sei durchgeführt worden, und wir fragten dann: Was wäre das Ergebnis dieser Teilung? Wenn jedes der unendlichen Anzahl von Teilchen eine bestimmte Größe hätte, so müsste diese weiter teilbar sein, was unserer Hypothese widerspricht. Sollten andererseits die zurückgebliebenen Teilchen keine Größe haben, so könnten sie gemeinsam niemals eine bestimmte Menge ausgemacht haben: Denn Null multipliziert mit dem Unendlichen bleibt Null. Daher müssen wir schließen, dass die Teilbarkeit ein Ende hat und die kleinstmöglichen Fragmente müssen Körper mit einer bestimmten Größe und Form sein. Diese winzigen unteilbaren Körper nannte Demokrit „Atome“ (das griechische Wort atomos bedeutet „unteilbar“21) (Aristoteles, GC 1.2. 316a13–b16).
Demokrit glaubte, die Atome seien zu klein, um mit den Sinnen wahrgenommen werden zu können. Es gebe unendlich viele von ihnen, sie seien von unendlicher Vielfalt und haben seit Ewigkeiten existiert. Gegenüber den Eleaten war er der Auffassung, dass es keinen Widerspruch bedeute, wenn man die Existenz eines Vakuums zugab: Es gab das Leere und in diesem unendlichen leeren Raum befanden sich die Atome, wie die Staubkörner in einem Sonnenstrahl, in ständiger Bewegung. Sie haben verschiedene Formen. Sie können sich in der Gestalt unterscheiden (wie der Buchstabe A vom Buchstaben N), in der Anordnung (wie sich AN von NA unterscheidet) und in der räumlichen Ausrichtung (wie sich N von Z unterscheidet). Einige von ihnen sind konkav und andere konvex, und einige sind wie Häkchen und andere wie Augen. In ihrer endlosen Bewegung kollidieren sie miteinander und schließen sich zusammen (KRS 583). Die uns im Alltag umgebenden Objekte mittlerer Größe sind Komplexe aus Atomen, die sich auf diese Weise durch zufällige Kollisionen verbunden haben. Die unterschiedlichen Arten dieser Gegenstände basieren auf den Unterschieden zwischen den Atomen, aus denen sie bestehen (Aristoteles, Metaph. A 4. 985b4–20; KRS 556).
Wie Anaxagoras glaubte auch Demokrit an eine Vielzahl von Welten.
„Es gäbe unzählige Welten, die sich durch ihre Größe unterschieden. In manchen sei weder Sonne noch Mond, in manchen seien sie größer als die in unserer Welt und in manchen gäbe es mehr davon. Es seien aber die Entfernungen der Welten voneinander ungleich, und an der einen Stelle gäbe es mehr Welten, an der anderen weniger, und die einen seien noch im Wachsen, die anderen ständen auf der Höhe ihrer Blüte; andere seien im Schwinden begriffen, und an der einen Stelle entständen sie, an der anderen schwänden sie. Sie gingen aber durcheinander zugrunde, wenn sie aufeinanderstießen. Und es gäbe einige Welten, in denen es keine Tiere und Pflanzen und keinerlei Feuchtigkeit gäbe.“ (KRS 565; 416)
Für Demokrit waren die Atome und das Leere die einzigen beiden Wirklichkeiten: Was wir als Wasser oder Feuer oder Pflanzen oder Menschen wahrnehmen, sind nichts als Konglomerate von Atomen im Leeren. Die von uns wahrgenommenen sinnlichen Qualitäten sind unwirklich: Sie beruhen auf Konvention.
Demokrit gab eine detaillierte Erklärung dafür, wie die wahrgenommenen Qualitäten durch die verschiedenen Arten und Konfiguration der Atome zustande kamen. So erklärte er beispielsweise den scharfen Geschmack eines Gewürzes durch sehr kleine, dünne, winkelige und gezackte Atome, während süße Geschmacksrichtungen durch größere, rundere und glattere Atome verursacht würden. Verglichen mit der Erleuchtung, die wir der Atomtheorie zu verdanken haben, ist das uns durch die Sinne vermittelte Wissen bloße Dunkelheit. Um diese Behauptungen zu rechtfertigen, entwickelte Demokrit eine systematische Erkenntnistheorie.22
Außer über Physik schrieb Demokrit auch über Ethik. Es sind uns zahlreiche Aphorismen erhalten geblieben, von denen einige Gemeinplätzen sind oder dazu geworden sind. Es wäre jedoch falsch, in ihm einen Denker zu sehen, der uns auf schulmeisterliche Art herkömmliche Weisheiten auftischt. Wie wir in Kapitel 8 noch sehen werden, zeigt eine genaue Lektüre seiner Äußerungen, dass er als einer der ersten Philosophen eine systematische Moralphilosophie entwickelt hat.