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Die Sophisten

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Zu Lebzeiten Demokrits war Protagoras, einer seiner jüngeren Landsleute aus Abdera, einer der Altmeister einer neuen Klasse von Philosophen: der Sophisten. Sophisten waren wandernde Lehrer, die von Stadt zu Stadt reisten und sachkundige Unterweisung in zahlreichen Fächern anboten. Da sie für die Vermittlung ihrer Fähigkeiten ein Honorar verlangten, könnte man sie als die ersten professionellen Philosophen bezeichnen. Was dem entgegensteht, ist allerdings die Tatsache, dass sie ihren Unterricht und ihre Dienste in einer viel größeren Palette von Themen anboten, als die Philosophie selbst im weitesten Sinne umfassen könnte. Der Vielseitigste von ihnen, Hippias von Elis, beanspruchte Fachwissen in Mathematik, Astronomie, Musik, Geschichte, Literatur und Mythologie sowie praktische Fähigkeiten als Schneider und Schuhmacher. Einige andere Sophisten boten Unterricht in Mathematik, Geschichte und Geografie an. Begabte Redner waren sie alle. In der Mitte des fünften Jahrhunderts machten sie in Athen hervorragende Geschäfte. Dort waren junge Männer, die vor Gericht Verteidigungsreden halten mussten oder die eine politische Karriere einschlagen wollten, bereit, ihnen für ihre Unterweisung und Anleitung stattliche Summen zu zahlen.

Die Sophisten analysierten gerichtliche Debatten und die Überredungskunst auf systematische Weise. Während sie dieses Ziel verfolgten, schrieben sie über eine Vielzahl von Themen. Sie begannen mit den Grundlagen der Grammatik: Protagoras war der erste, der das Geschlecht der Hauptwörter sowie Tempus und Modus der Verben unterschied (Aristoteles, Rh. 3.4. 1407b6–8). Weiterhin gaben sie Unterricht in verschiedenen Argumentationstechniken und lehrten allgemeine Kniffe und Tricks bei der Verfechtung einer bestimmten Sache. Als Ausleger mehrdeutiger Texte und wegen ihrer Beurteilung widerstreitender Reden gehörten sie zu den frühesten literarischen Kritikern. Außerdem hielten sie öffentliche Vorlesungen und traten in Volksversammlungen auf, wo sie Proben ihrer Redekunst gaben, sowohl zur Unterweisung als auch zur Unterhaltung (D.L. 9. 53). Insgesamt könnte man sagen, dass ihre Rolle all dasjenige umfasste, was in der modernen Gesellschaft von Tutoren, Beratern, Anwälten, Public Relations-Fachleuten und Medienpersönlichkeiten übernommen wurde.

Protagoras kam zunächst als Botschafter von Abdera nach Athen. Er wurde von den Athenern geehrt und später noch mehrfach eingeladen. Im Jahre 444 v. Chr. bat ihn Perikles, eine Verfassung für die neue panhellenische Kolonie in Thurioi in Süditalien zu entwerfen. Sein erster öffentlicher Auftritt in Athen fand im Haus des Tragikers Euripides statt. Er las laut einen Traktat mit dem Titel Über die Götter, an dessen Eröffnungsworte man sich noch lange erinnerte: „Von den Göttern weiß ich nicht, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind; denn vieles hemmt uns in der Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens“ (D.L. 9. 51). Sein berühmtester Ausspruch, „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, enthält in knapper Form eine relativistische Erkenntnistheorie, die wir an späterer Stelle dieses Buches noch genauer erörtern werden.23

Protagoras scheint bereit gewesen zu sein, für beide Seiten einer beliebigen Frage einzutreten, und er rühmte sich, er könne das schlechtere Argument stets zum besseren machen. Dies mag einfach bedeutet haben, dass er die Fähigkeit besaß, einen schwachen Klienten so zu schulen, dass er seine Sache optimal darstellen konnte. Doch so unterschiedliche Kritiker wie Aristophanes und Aristoteles verstanden ihn so, dass er das Falsche als richtig erscheinen lassen konnte (Aristophanes, Wolken 122ff., 656f.; Aristoteles, Rh. 2.24. 1402a25). Protagoras’ Feinde erzählten gerne die Geschichte, wie er seinen Schüler Eualthos für die Nichtzahlung seines Honorars gerichtlich verfolgte. Eualthos hatte sich geweigert zu zahlen, weil er sagte, er habe noch keinen einzigen Prozess gewonnen. Protagoras sagte: „Aber ich muß das Geld auf jeden Fall erhalten; denn siege ich, so gehört es mir, eben weil ich gesiegt habe; siegst du aber, dann deshalb, weil du gesiegt hast.“ (D.L. 9. 56).

Ein anderer Sophist, Prodikos, von der ägäischen Insel Keos, kam wie Protagoras in einer offiziellen Angelegenheit seines Heimatstaates nach Athen. Er war ein Linguist, der sich stärker für Semantik als für Grammatik interessierte: Vielleicht kann man ihn als den ersten Lexikografen ansehen. Aristophanes und Platon machten sich über ihn als einen Pedanten lustig, der spitzfindige Unterscheidungen zwischen Wörtern traf, die praktisch gleichbedeutend waren. Tatsächlich erlangten jedoch einige der Unterscheidungen, die man ihm zuschreibt (wie zum Beispiel zwischen den beiden griechischen Äquivalenten für „wollen“, boulethai und epithumein; Platon, Protagoras 340b2), später eine wichtige philosophische Bedeutung.

Prodikos soll auch der Verfasser einer romantisch-moralischen Fabel über die Wahl des jungen Herakles zwischen zwei weiblichen Verkörperungen der Tugend und des Lasters gewesen sein. Er vertrat auch eine Theorie über den Ursprung der Religion. „Die Menschen der Urzeit hielten Sonne und Mond, Flüsse und Quellen und überhaupt alles, was für unser Leben von Nutzen ist, wegen des von ihnen gespendeten Nutzens für Götter, wie zum Beispiel die Ägypter den Nil.“ (DK 84 B5; 267f.). Daher ist die Verehrung von Hephaistos in Wirklichkeit eine Verehrung des Feuers und die Anbetung von Demeter in Wirklichkeit die Anbetung des Brotes.

Gorgias aus Leontinoi in Sizilien, einst Schüler von Empedokles, war ein weiterer Sophist, der auf einer diplomatischen Mission nach Athen kam, um Hilfe in einem Krieg gegen Syrakus zu erbitten. Er war nicht nur ein überzeugender Redner, sondern auch ein Theoretiker der Rhetorik, der unterschiedliche Redefiguren unterschied, wie zum Beispiel die Antithese und rhetorische Fragen. Sein Stil wurde zu seinen Lebzeiten sehr bewundert, doch später hielt man ihn für viel zu überladen. Von seinen Schriften sind zwei kurze Abhandlungen von philosophischem Interesse erhalten geblieben.

Die erste ist eine rhetorische Übung zur Verteidigung Helenas von Troja gegen ihre Verleumder. Darin wird für die These argumentiert, dass man ihr nicht vorwerfen könne, mit Paris davongelaufen zu sein und auf diese Weise den Trojanischen Krieg ausgelöst zu haben. „Sie unternahm, was sie tat, entweder aufgrund einer Laune des Schicksals, der Entscheidungen der Götter und der Anordnungen der Notwendigkeit, oder weil sie mit Gewalt entführt wurde, oder von Reden überzeugt oder weil sie von Liebe überwältigt wurde“ (DK 82 B11, 21–4). Gorgias geht diese Alternativen der Reihe nach durch und argumentiert in jedem einzelnen Fall, dass Helena kein Vorwurf gemacht werden sollte. Kein Mensch kann dem Schicksal widerstehen, und nicht der Entführte, sondern der Entführer verdient beschuldigt zu werden. Bis hierher hat Gorgias eine leichte Aufgabe. Um aber zu zeigen, dass man Helena nicht beschuldigen sollte, der Überredung nachgegeben zu haben, muss er eine nicht überzeugende, wenn auch zweifellos sympathische Lobrede auf die Kraft des gesprochenen Wortes halten: „Es ist ein mächtiger Herr, ohne Substanz und nicht wahrnehmbar, doch kann es göttliche Wirkungen entfalten“. Auch in diesem Fall ist es der Überredende und nicht der Überredete, der es verdient beschuldigt zu werden. Wenn Helena sich schließlich verliebt haben sollte, trifft sie kein Tadel: Denn die Liebe ist entweder ein Gott, dem man nicht widerstehen kann, oder eine Geisteskrankheit, die unser Mitleid erregt. Dieser kurze, geistreiche Text ist der Vorläufer zahlreicher philosophischer Erörterungen über Freiheit und Notwendigkeit, force majeure, Anstiftung und unwiderstehliche Impulse.

Gorgias’ Schrift Vom Nichtseienden enthielt Argumente für drei skeptische Schlussfolgerungen. Erstens: Es gibt nichts. Zweitens: Wenn es etwas gäbe, könnte es nicht erkannt werden. Drittens: Wenn etwas erkannt werden könnte, so könnte es niemand einem anderen mitteilten. Diese Folge von Argumenten ist in zweifacher Form überliefert worden: einmal in der pseudo-aristotelischen Abhandlung Über Melissos und dann durch Sextus Empiricus.

Das erste Argument macht sich die Vieldeutigkeit des griechischen Verbs „sein“ zunutze. Ich werde dieses Argument hier nicht im Einzelnen darlegen, jedoch in Kapitel 6 versuchen, die Mehrdeutigkeiten zu klären, die hier im Spiel sind. Das zweite Argument lautet folgendermaßen: Dinge, die ein Sein haben, können nur Gegenstände des Denkens werden, wenn Gegenstände des Denkens Dinge sind, die ein Sein haben. Doch Gegenstände des Denkens sind keine Dinge, die ein Sein haben; ansonsten würde alles, was man denkt, der Fall sein. Doch man kann an einen fliegenden Menschen oder einen Streitwagen denken, der über das Meer fährt, ohne dass es solche Dinge gibt. Daher können Dinge, die ein Sein haben, nicht Gegenstände des Denkens sein. Das dritte Argument, das plausibelste der drei, behauptet, dass die Wahrnehmungen jedes Einzelnen individuell sind, und dass wir an unsere Mitmenschen nur Worte, jedoch keine Erfahrungen weitergeben können.

Die Argumente dieses berühmten Sophisten für diese alarmierenden Schlussfolgerungen sind in der Tat Trugschlüsse und wurden von denen, die sie zuerst hörten, bestimmt auch als solche verworfen. Doch es ist leichter, einen Trugschluss zu verwerfen, als seinem Wesen auf den Grund zu gehen, und es ist noch schwieriger, Abhilfe dafür zu schaffen. Der erste Sophismus wurde im Wesentlichen von Platon in seinem Dialog mit dem passenden Namen Sophistes verworfen.24 Der zweite basiert auf einer ungültigen Argumentationsform, die uns manchmal auch bei Platon selbst begegnet. Die Logik des Aristoteles stellte jedoch für alle Denker nach ihm klar, dass die Aussage „Nicht alle As sind B“ den Satz „Kein B ist ein A“ nicht impliziert. Dem dritten Argument, das sich auf die Privatheit aller Erfahrung stützt, wurde erst im 20. Jahrhundert, im Werk von Wittgenstein, der Zahn gezogen.

Außer Protagoras, Hippias, Prodikos und Gorgias gab es noch andere Sophisten, von denen uns Name und Ansehen überliefert sind. Da gab es beispielsweise Kallikles, den Verteidiger der Lehre vom Recht des Stärkeren, und Thrasymachos, der Gerechtigkeit als Selbstinteresse der Mächtigen entlarvt haben wollte. Dann gab es noch Euthydemos und Dionysidoros, zwei Logiker, die einem bewiesen, dass der eigene Vater ein Hund gewesen sei. Wir kennen diese Männer und selbst die bekannteren Sophisten, auf die wir eingegangen sind, jedoch hauptsächlich als Charaktere in den Dialogen Platons. Ihre philosophischen Behauptungen studiert man am besten im Kontext dieser Dialoge. Nach der historischen Wahrheit über die Sophisten zu forschen, ist in etwa so lohnend wie der Versuch, in Erfahrung zu bringen, wie Shakespeare König Lear und Prinz Hamlet in seinen Dialogen umgestaltet hat.

Wir verabschieden uns daher von diesen Sophisten und wenden uns Sokrates zu, der nach einer Deutung der größte der Sophisten gewesen sein soll, und andererseits als das Musterbeispiel des wahren Philosophen im völligen Gegensatz zu jeder Art von Sophistik gilt.

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