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Sokrates’ eigene Philosophie

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Eine plausible Chronologie der platonischen Texte zu erstellen, war erforderlich, um verständlich zu machen, als wie sichere Informationsquelle über den historischen Sokrates man Platon ansehen kann. Nachdem wir dies getan haben, können wir nun Sokrates’ eigene Philosophie darstellen, wie sie in den frühen Dialogen seines Schülers wiedergegeben ist. In der Apologie ist Platon, wie Xenophon, vor allem bestrebt, Sokrates gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen. Er weist auf die Widersprüchlichkeit der beiden Vorwürfe hin, dass er Atheist sei und fremde Gottheiten einführe. Außerdem weist er auf den geistigen Abstand zwischen Sokrates und dem säkularen Physikalismus des Anaxagoras hin. Dass Sokrates in der Apologie bestreitet, sich jemals mit Physik beschäftigt zu haben (Apol. 19d), will nicht so recht überzeugen, auch wenn diese Behauptung später von Aristoteles wiederholt wird (Metaph. A 6. 987b2). Wenn Sokrates sich niemals im geringsten für Fragen der Kosmologie interessiert hätte, wäre seine Verhöhnung durch Aristophanes so abwegig gewesen, dass niemand über diesen Spott hätte lachen können. Außerdem lässt auch Platon Sokrates im Phaidon zugeben, dass er einmal die Neugier des Anaxagoras über die Frage, ob die Erde flach oder rund sei, ob sie sich in der Mitte des Universums befinde, und welches die Ursache der Bewegung und Geschwindigkeit der Sonne, des Mondes und der anderen Himmelskörper sei, geteilt habe (Phd. 97d–99a).

Möglicherweise war es Sokrates’ Enttäuschung über Anaxagoras, die ihn dazu brachte, naturwissenschaftliche Nachforschungen aufzugeben und sich auf die Fragen zu konzentrieren, die nach der Apologie und nach Aristoteles den späteren Teil seines Lebens dominierten. Nach Platon und Xenophon war ein weiterer Faktor, der seinem Interesse die Richtung gab, ein Orakel, das von einer verzauberten Priesterin im Heiligtum von Delphi im Namen des Apollon gesprochen wurde. Als sie gefragt wurde, ob es in Athen jemanden gebe, der weiser als Sokrates sei, hatte die Priesterin diese Frage verneint. Sokrates gestand, dass er durch diese Antwort verblüfft worden sei, und er begann, verschiedene Personengruppen zu befragen, die beanspruchten, über Wissen verschiedener Art zu verfügen. Es stellte sich sehr bald heraus, dass Politiker und Dichter über gar kein echtes Fachwissen verfügten, und dass Handwerker, die in einem bestimmten Bereich tatsächlich Experten waren, nur so taten, als ob sie über eine allgemeine Weisheit verfügten, die sie nicht beanspruchen konnten. Sokrates gelangte auf diese Weise zu der Schlussfolgerung, dass das Orakel Recht hatte, da er allein erkannte, dass seine eigene Weisheit wertlos sei (Apol. 23b).

Vor allem in Fragen der Ethik war es am wichtigsten, wirkliches Wissen zu erstreben und falsche Behauptungen aufzudecken. Denn nach Sokrates waren Tugend und ethisches Wissen ein und dasselbe: Niemand, der wirklich wusste, was am besten zu tun sei, könne dies nicht tun, und alles Fehlverhalten sei eine Folge von Nichtwissen.28 Diese Behauptung lässt den Vorwurf, er habe die Jugend verdorben, umso absurder erscheinen. Offenbar würde jeder es vorziehen, unter tugendhaften statt moralisch schlechten Menschen zu leben, die einem Schaden könnten. Er kann daher keinen Grund gehabt haben, die Jugend absichtlich zu verführen; und sollte er es unabsichtlich tun, sollte er unterwiesen, nicht gerichtlich verfolgt werden (Apol. 26a).

In der Apologie behauptet Sokrates nicht, über das Wissen zu verfügen, das dazu ausreichen würde, jemanden an moralischem Fehlverhalten zu hindern. Stattdessen, sagte er, vertraue er auf eine innere göttliche Stimme, die sich immer melde, wenn er im Begriff sei, einen falschen Schritt zu tun. Weit davon entfernt, ein Atheist zu sein, war sein ganzes Leben einer göttlichen Mission gewidmet, dem Kampf um die Aufdeckung falscher Weisheit, zu dem er durch das delphische Orakel bestimmt wurde. Es käme wirklich einem Verrat an Gott gleich, wenn er seinen Posten aus Todesangst verlassen würde. Wenn man ihn unter der Bedingung freilassen würde, dass er philosophische Nachforschungen aufgebe, würde er antworten: „Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen.“ (Apol. 29d)

Die frühen Dialoge Platons zeigen Sokrates bei der Durchführung seiner philosophischen Mission. Typischerweise wird ein Dialog nach einer Person benannt, die Wissen auf einem bestimmten Gebiet beansprucht oder die als Repräsentant einer bestimmten Tugend angesehen werden kann. Der Dialog Ion, über die Dichtkunst, ist nach einem preisgekrönten Rhapsoden (einem Rezitator Homers) benannt, der Dialog Laches, über die Tapferkeit, nach einem namhaften General. Charmides und Lysis, über Leidenschaft, Mäßigung und Freundschaft, sind nach zwei intelligenten jungen Männern benannt, um die sich jeweils ein Kreis von aristokratischen Bewunderern scharte. In jedem dieser Dialoge sucht Sokrates nach einer wissenschaftlichen Erklärung oder Definition des diskutierten Begriffs, und durch seine Fragen zeigt sich, dass der namensgebende Protagonist nicht imstande ist, eine solche zu liefern. Die Dialoge enden ausnahmslos mit dem scheinbaren Scheitern der Untersuchung, womit sich die Schlussfolgerung der Apologie bestätigt, dass diejenigen, von denen man am meisten erwarten würde, dass sie über Weisheit und Einsicht zu einem bestimmten Thema verfügen, während einer Prüfung unfähig sind, dies unter Beweis zu stellen.

Die Suche nach Definitionen dient in verschiedenen Dialogen unterschiedlichen Zwecken: Im ersten Buch der Politeia wird eine Definition der Gerechtigkeit gesucht, um entscheiden zu können, ob Gerechtigkeit demjenigen nützt, der sie besitzt, und im Dialog Euthyphron wird nach einer Definition der Frömmigkeit gesucht, um eine besonders schwierige Gewissensfrage entscheiden zu können. Doch hatte Aristoteles Recht, als er die Suche nach Definitionen als kennzeichnende Eigenschaft der sokratischen Methode bezeichnete. Man hat die Methode manchmal dafür kritisiert, dass sie die ungültige Behauptung enthalte, wir könnten niemals wissen, ob eine bestimmte Handlung zum Beispiel gerecht oder fromm ist oder nicht, solange wir über keine unanfechtbare Definition der Gerechtigkeit oder Frömmigkeit verfügen. Eine solche Behauptung würde der Praxis des Sokrates widersprechen, die er im Laufe seines elenchus zur Suche nach Übereinstimmung darüber befolgt, ob bestimmte Handlungen (wie zum Beispiel die Rückgabe eines ausgeliehenen Messers an einen Verrückten oder der strategische Rückzug in einer Schlacht) eine bestimmte Tugend bezeugen, wie etwa Gerechtigkeit oder Tapferkeit. Sokrates’ Methode impliziert lediglich die schwächere Behauptung, dass wir ohne eine allgemeine Definition einer Tugend nicht in der Lage sind (a) anzugeben, ob die Tugend im Allgemeinen über eine bestimmte Eigenschaft verfügt, wie zum Beispiel diejenige, lehrbar oder nützlich zu sein, oder (b) in besonders schwierigen Grenzfällen zu einer Entscheidung zu gelangen, wie zum Beispiel in der folgenden Situation: Verstößt es gegen die Frömmigkeit, wenn ein Sohn seinen Vater für die Tötung eines angeklagten Mörders gerichtlich verfolgt?

Das andere von Aristoteles hervorgehobene Merkmal der sokratischen Methode, d.h. die Verwendung induktiver Argumente, setzt voraus, dass wir uns der Wahrheit einzelner Fälle bereits sicher sein können, während wir noch nach einer allgemeinen Definition suchen. Platons Sokrates beansprucht nicht, im Besitz einer unwiderlegbaren Definition der techne oder Geschicklichkeit zu sein; aber dennoch untersucht er wiederholt bestimmte Kunstfertigkeiten, um allgemeine Wahrheiten über ihr Wesen zu gewinnen. So versucht er beispielsweise im ersten Buch der Politeia zu zeigen, dass der Test, ob jemand ein guter Handwerker ist oder nicht, nicht darin besteht, ob er sehr viel Geld verdient, sondern darin, ob er den Empfängern seiner Kunstfertigkeit nützt. Um dies zu zeigen, geht er die Produkte verschiedener Handwerke und Fertigkeiten durch: Ein guter Arzt stellt die Gesundheit seiner Patienten wieder her, ein guter Kapitän führt sein Schiff sicher ans Ziel, ein fähiger Baumeister baut ein gutes Haus, usw. Wie viel Geld diese Leute verdienen, spielt für die Qualität ihrer Kunstfertigkeit keine Rolle. Ihr Einkommen zeigt lediglich, wie gut sie die sehr verschiedene Geschicklichkeit des Geldverdienens beherrschen (Pol. 1. 346a–e).

Die beiden von Aristoteles als zur sokratischen Methode gehörenden Verfahren sind eng miteinander verwandt. Das induktive Argument, das von besonderen Fällen auf allgemeine Wahrheiten schließt, leistet einen Beitrag zur allgemeinen Definition, obwohl dieser Beitrag in diesen Dialogen stets unvollständig bleibt und niemals auf eine Definition führt, zu der sich keine Ausnahme mehr finden lässt. Angesichts des Fehlens einer allgemeinen Definition der Tugend werden die allgemeinen Wahrheiten verwendet, um schwierige Grenzfälle der Praxis zu entscheiden und um vorläufige Hypothesen über die Eigenschaften der Tugend zu bewerten. So wird beispielsweise in der Politeia das induktive Argument verwendet, um zu zeigen, dass derjenige ein guter Herrscher ist, der seinen Untergebenen nützt, und dass, was gerecht ist, daher nicht (wie einer der Charaktere in dem Dialog behauptet) einfach mit demjenigen gleichgesetzt werden darf, was für die Machthaber von Vorteil ist.

In diesen frühen Dialogen über die Tugend tauchen – trotz Sokrates’ Beteuerung der Unwissenheit – dennoch eine Reihe von Thesen sowohl über das Wissen als auch über die Tugend auf. In späteren Kapiteln über Erkenntnistheorie und Ethik werden wir hierauf noch näher eingehen. Vorerst wollen wir lediglich darauf hinweisen, dass die Probleme sich auf die eine Frage zuspitzen: Ist die Tugend lehrbar? Denn wenn Tugend in Wissen besteht, ist sie gewiss lehrbar. Dennoch ist es schwer, irgendeinen erfolgreichen Lehrer der Tugend zu nennen.

In Athen gab es jedoch keinen Mangel an Leuten, die behaupteten, über das relevante Fachwissen zu verfügen: die Sophisten. Am Ende der frühen Periode, und vor der mittleren Phase von Platons schriftstellerischer Karriere, finden wir eine Reihe von Dialogen, die nach bekannten Sophisten benannt sind – Hippias, Gorgias, Protagoras – und der Frage nachgehen, ob die Tugend lehrbar ist. In jedem Fall wird die Behauptung der Sophisten, das Geheimnis der Lehrbarkeit der Tugend zu kennen, als unhaltbar erwiesen. Der Dialog Hippias Minor entwickelt eine große Schwierigkeit für die Theorie, die Tugend sei eine Geschicklichkeit, die erlernt werden könne. Ein Handwerker, der unwissend einen Fehler macht, versteht seine Kunst weniger gut als ein Handwerker, der einen Fehler absichtlich macht. Wenn die Tugend daher eine Geschicklichkeit ist, ist derjenige, der sich absichtlich untugendhaft verhält, tugendhafter als jemand, der aus Unwissenheit etwas moralisch Falsches tut. Der Dialog Gorgias liefert Argumente für die Behauptung, dass Rhetorik, der wichtigste Pfeil im Köcher der Sophisten, unfähig ist, wahrhafte Tugend zu bewirken. Der Dialog Protagoras scheint schließlich nahezulegen – sei es ernsthaft oder ironisch –, dass die Tugend tatsächlich lehrbar ist, da es sich hierbei um die Kunst handele, die Lust- und Schmerzensanteile an den Folgen der eigenen Handlungen zu berechnen.29

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