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Sokrates

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In der Geschichte der Philosophie gebührt Sokrates ein Platz wie keinem anderen. Einerseits wird er dafür verehrt, die erste große Epoche der Philosophie eingeleitet zu haben, und daher in gewissem Sinne die Philosophie selbst. In Lehrbüchern werden alle früheren Denker als Vorsokratiker zusammengeworfen, als sei die Philosophie vor seinem Zeitalter irgendwie prähistorisch. Andererseits hinterließ Sokrates keinerlei Schriften, und es gibt kaum einen der ihm zugeschriebenen Sätze, von dem wir mit Sicherheit behaupten könnten, er habe ihn selbst geäußert, statt dass es sich um die literarische Schöpfung eines seiner Bewunderer handelt. Wir kennen seine Philosophie weniger direkt als die von Xenophanes, Parmenides, Empedokles oder Demokrit. Doch ist sein Einfluss auf die Philosophie nach ihm bis in unsere eigene Zeit unvergleichlich größer als der dieser anderen Denker.

In der Antike nahmen viele philosophische Schulen Sokrates als ihren Gründer in Anspruch und viele Einzelne verehrten ihn als vorbildhaften Philosophen. Im Mittelalter wurde seine Geschichte kaum studiert, doch sein Name erscheint auf jeder Seite, auf der ein Logiker oder Metaphysiker ein Beispiel geben will: „Sokrates“ war für die scholastischen Philosophen lange Zeit, was „John Doe“ für juristische Autoren war. In neuerer Zeit wurde auf Sokrates’ Leben von vielen Philosophen unterschiedlicher Art als nachahmenswertes Beispiel verwiesen, besonders von solchen, die in Diktaturen lebten und riskierten, politisch verfolgt zu werden, weil sie sich weigerten, sich einer unvernünftigen Ideologie anzuschließen. Viele Denker haben sich den Ausspruch zu eigen gemacht, der einen ebenso großen Anspruch auf Authentizität hat wie jeder andere, der Sokrates zugeschrieben wird: „Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert.“

Was wir von Sokrates mit Sicherheit wissen, ist schnell erzählt. Er wurde etwa um das Jahr 469 v. Chr. in Athen geboren, zehn Jahre nachdem die persische Invasion Griechenlands in der Schlacht von Plataea abgewehrt wurde. Er wuchs in den Jahren auf, als Athen eine blühende Demokratie unter dem Staatsmann Perikles sowie die Hegemonialmacht in der griechischen Welt war. Es war ein goldenes Zeitalter der Kunst und Literatur, in dem Phidias seine Skulpturen schuf, in dem das Parthenon erbaut wurde und in dem Aischylos, Sophokles und Euripides ihre großen Tragödien schrieben. Zur gleichen Zeit verfasste Herodot, „der Vater der Geschichtsschreibung“, seine Darstellungen der Perserkriege und führte Anaxagoras in Athen die Philosophie ein.

Die zweite Lebenshälfte des Sokrates wurde durch den Peleponnesischen Krieg (434–431) überschattet, in dem Athen schließlich gezwungen wurde, seine Führungsrolle in Griechenland an das siegreiche Sparta abzugeben. Während der ersten Jahre des Krieges diente er in der schwerbewaffneten Infanterie und nahm an drei größeren Schlachten teil. Er erwarb sich den Ruf bemerkenswerter Tapferkeit, die sich besonders während eines Rückzugs nach einer verheerenden Niederlage bei Delium im Jahre 422 zeigte. Wieder in Athen, bekleidete er während der letzten Jahre des Krieges im Jahre 406 ein offizielles Amt in der Stadtversammlung. Einer Gruppe von Heerführern wurde der Prozess gemacht, weil sie die Leichname der Gefallenen nach einer siegreichen Seeschlacht bei den Arginusen zurückgelassen hatten. Es war verfassungswidrig, die Befehlshaber gemeinsam statt einzeln anzuklagen, doch Sokrates war der einzige, der gegen die Gesetzeswidrigkeit stimmte, und die Angeklagten wurden hingerichtet.

Im Jahre 404, als der Krieg beendet war, ersetzten die Spartaner die athenische Demokratie durch eine Oligarchie, „die 30 Tyrannen“, an deren Terrorherrschaft man sich noch lange erinnerte. Als man ihm den Auftrag gab, einen unschuldigen Mann, Leon von Salamis, festzunehmen, ignorierte Sokrates diese Anweisung. Er weigerte sich, illegale Befehle anzunehmen, doch schien er an der Revolution, die die Oligarchie stürzte und die Demokratie wiederherstellte, nicht teilgenommen zu haben. Seine Aufrichtigkeit hatte zwischenzeitlich sowohl Demokraten als auch Aristokraten verärgert, und die wieder an die Macht gekommenen Demokraten erinnerten sich auch daran, dass einige seiner engen Gefährten, wie Kritias und Charmides, zu den Dreißig gehört hatten.

Ein ehrgeiziger demokratischer Politiker, Anytus, erwirkte mit zwei anderen Gefährten, dass gegen Sokrates folgende Anklage erhoben wurde: „Sokrates versündigt sich durch Ableugnung der vom Staat anerkannten Götter sowie durch Einführung neuer göttlicher Wesen; auch vergeht er sich an der Jugend, indem er sie verführt. Der Antrag geht auf Todesstrafe.“ (D.L. 2. 40) Es gibt keine Aufzeichnungen über den Prozess, obwohl uns zwei von Sokrates’ Bewunderern fantasievolle Rekonstruktionen seiner Verteidigungsrede hinterlassen haben. Was er tatsächlich gesagt hat, konnte die 500 Geschworenen, bei denen es sich um Bürger Athens handelte, nicht in ausreichender Zahl umstimmen. Er wurde für schuldig befunden und – wenn auch nur mit knapper Mehrheit – zum Tode verurteilt.

Nach einer kurzen Wartezeit im Gefängnis, die durch die Einhaltung eines religiösen Brauchs erforderlich war, nahm er im Frühjahr des Jahres 399 aus der Hand seines Gefängniswärters den totbringenden Schierlingsbecher entgegen.

Der Vorwurf der Gottlosigkeit in der Anklage des Sokrates war nicht neu. Im Jahre 423 schrieb der Dramatiker Aristophanes eine Komödie, Die Wolken, in der eine Figur namens Sokrates auftritt, die eine Schule für betrügerische Machenschaften leitet, bei der es sich außerdem um ein Institut für fingierte Forschungen handelt. Die Studenten dieser Einrichtung lernen nicht nur, wie man mit schlechten Argumenten gute Argumente widerlegt, sondern sie studieren auch Astronomie, und zwar in einem Geist ehrfurchtloser Skepsis gegenüber der herkömmlichen Religion. Sie berufen sich auf ein neues Pantheon elementarer Gottheiten: Luft, Äther, Wolken und das Chaos (260–6). Die Welt, so lernen sie, wird nicht von Zeus, den es nicht gibt, regiert, sondern von Dinos (wörtlich: Wirbel), der Rotation der Himmelkörper (380f.). Bei großen Teilen des Stückes handelt es sich um eine Parodie, die ganz offensichtlich nicht ernst gemeint war. So misst Sokrates darin beispielsweise, wie viele Flohmeter weit ein Floh springen kann, und er erforscht die Wolken in einem klapprigen Fluggerät. Doch der Vorwurf, dass die Astronomie mit Frömmigkeit nicht vereinbar sei, war ein gefährlicher Witz, wenn es ein Witz sein sollte. Schließlich hatte man erst im vorausgehenden Jahrzehnt Anaxagoras dafür verbannt, dass er behauptet hatte, die Sonne sei ein feuriger Metallklumpen. Am Ende des Stückes wird Sokrates’ Haus von einer aufgebrachten Menge, die ihn dafür bestrafen will, die Götter beleidigt und die Privatsphäre des Mondes verletzt zu haben, in Brand gesteckt. Für diejenigen, die sich an die Komödie des Aristophanes erinnerten, ahmte das Leben in den Ereignisse des Jahres 399 die Kunst auf deprimierende Weise nach.

Einige der Eigenschaften, die Sokrates in den Wolken zugeschriebenen werden, legten ihm auch freundlichere Autoren bei. Man nimmt allgemein an, dass er einen Kugelbauch, eine Stupsnase, hervorstehende Augen und einen Watschelgang hatte. Er wird regelmäßig als von schäbigem Aussehen beschrieben, mit abgewetzter Kleidung, und als jemand, der gerne barfuß ging. Selbst Aristophanes stellt ihn als äußerst ausdauernd und unbekümmert angesichts von Mangel jeder Art dar: „niemals betäubt durch Kälte, niemals hungrig auf sein Frühstück wartend, ein Verächter von Wein und Völlerei“ (414–17). Nach anderen Quellen hat es den Anschein, als sei er ein Verächter von Wein nicht im Sinne eines Abstinenzlers gewesen, sondern insofern er eine ungewöhnlich große Mengen von Alkohol vertragen konnte (Platon, Smp. 214a). Sokrates war mit Xanthippe verheiratet und hatte mit ihr einen Sohn namens Lamprokles. Eine hartnäckiges, aber vermutlich gegenstandsloses Gerücht, stellt sie als einen Hausdrachen dar (D.L. 2. 36f.). Nach einigen anderen antiken Autoren hatte er mit einer offiziellen Konkubine, Myrto (D.L. 2. 26), zwei weitere Söhne. In der Antike war er jedoch am besten für seine Zuneigung zu dem flamboyanten, 20 Jahre jüngeren Aristokraten Alkibiades bekannt. Hierbei scheint es sich zwar um eine leidenschaftliche Beziehung gehandelt zu haben, die aber dennoch, im Sinne des späteren Wortgebrauchs, platonisch geblieben ist.

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