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Platons Dialog Politeia

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In Platons berühmtestem Dialog, dem Dialog Politeia (Der Staat), wird die Ideenlehre nicht nur zur Lösung logischer und semantischer Probleme herangezogen, die wir soeben betrachtet haben, sondern auch, um auf Probleme in der Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik einzugehen. Die Konsequenzen dieser Theorie werden wir in späteren Kapiteln noch erörtern. Der Dialog Politeia ist einer breiteren Öffentlichkeit jedoch nicht aufgrund seiner vielfältigen Verwendung der Ideenlehre bekannt, sondern aufgrund der politischen Einrichtungen, die in seinen mittleren Lehrbüchern beschrieben werden.

Das offizielle Thema des Dialogs ist das Wesen und der Wert der Gerechtigkeit. Nachdem im ersten Buch (das wahrscheinlich ursprünglich als eigenständiger Dialog existierte) eine Reihe von möglichen Definitionen der Gerechtigkeit untersucht und für unzureichend befunden wurden, beginnt der Hauptteil des Werkes mit einer Herausforderung an Sokrates, zu beweisen, dass die Gerechtigkeit etwas ist, das um seiner selbst willen wertvoll ist. Platons Brüder Glaukon und Adeimantos, die als Gesprächspartner in diesem Dialog auftauchen, vertreten die These, dass Gerechtigkeit als Weg zur Vermeidung von Übel gewählt wird. Um zu verhindern, dass sie von anderen unterdrückt werden, sagt Glaukon, schließen sich schwache Menschen zusammen und vereinbaren, Ungerechtigkeit weder zu erleiden noch zu begehen. Menschen würden viel lieber ungerecht handeln, wenn sie dies straffrei tun könnten, zum Beispiel wenn sie die Straffreiheit genießen könnten, die etwa ein Mann besäße, der sich unsichtbar machen kann, sodass seine Übeltaten nicht erkannt werden können. Adeimantos stimmt seinem Bruder zu und sagt, dass unter Menschen der Lohn der Gerechtigkeit eher der Lohn für scheinbare Gerechtigkeit als der für tatsächlich gerechtes Verhalten ist, und im Verhältnis zu den Göttern könne man sich von Strafen für Ungerechtigkeiten durch Gebete und Opfer freikaufen (Pol. 2. 358a–367e).

In Kapitel 8 werden wir sehen, wie Sokrates in den restlichen Büchern des Dialogs dieser anfänglichen Herausforderung begegnet. Im Interesse der Darstellung von Platons politischer Philosophie werden wir uns auf seine unmittelbare Antwort konzentrieren. Um seinen Brüdern zu antworten, verlagert er die Diskussion von der Gerechtigkeit oder Aufrichtigkeit der einzelnen Person zur umfassenderen Frage der Gerechtigkeit im Stadtstaat, denn dort sei das Wesen der Gerechtigkeit in größeren Buchstaben geschrieben und daher leichter zu lesen. Der Zweck des Zusammenlebens in Städten bestehe darin, es Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu ermöglichen, durch eine entsprechende Arbeitsteilung sich gegenseitig bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu helfen. Idealerweise würde, wenn Menschen – wie in der Vergangenheit – mit der Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse zufrieden wären, eine sehr einfache Gemeinschaft ausreichen. Doch im modernen luxuriösen Zeitalter verlangen die Bürger nach mehr als bloßer Subsistenz, und dies mache kompliziertere politische Einrichtungen erforderlich, einschließlich einer gut ausgebildeten Berufsarmee (Pol. 2. 369b–374d).

Sokrates stellt nun einen Plan für eine Stadt mit drei Gesellschaftsklassen vor. Diejenigen unter den Soldaten, die für das Herrschen am geeignetsten sind, werden durch Wettbewerbe ausgewählt und bilden die oberste Klasse, die als Wächter bezeichnet werden. Die restlichen Soldaten werden als Gehilfen bezeichnet, und die anderen Bürger gehören zur Klasse der Bauern und Handwerker (Pol. 2. 374d–376e). Wie können die arbeitenden Klassen dazu gebracht werden, die Autorität der regierenden Klassen zu akzeptieren? Hierzu muss ein Mythos propagiert werden, eine „heilsame Täuschung“, die besagt, dass die Mitglieder der drei Klassen unterschiedliches Metall in ihren Seelen haben: Gold, Silber und Bronze. Im Allgemeinen sollen Bürger in der Klasse bleiben, in die sie hineingeboren wurden, doch erlaubt Sokrates ein begrenztes Maß an sozialer Mobilität (Pol. 3. 414c–415c).

Die Herrscher und Gehilfen sollen eine umfassende Erziehung in der Literatur (basierend auf einem bereinigten Homer), in der Musik (sofern sie kriegerisch und erbaulich ist) und in der Gymnastik (in der sich beide Geschlechter gemeinsam üben) erhalten (Pol. 2. 376e–3.403b). Frauen und Männer sollen Wächter und Gehilfen sein, doch hiermit sind nicht nur Privilegien, sondern auch strenge Auflagen verbunden. Die Angehörigen der oberen Klassen dürfen nicht heiraten: Keine Frau gehört zu einem Mann und die sexuelle Betätigung ist staatlich reglementiert. Die Fortpflanzung erfolgt nach strengen eugenischen Kriterien. Kinder dürfen keinen Kontakt mit ihren Eltern haben, sondern werden in staatlichen Kinderhorten aufgezogen. Wächter und Gehilfen dürfen keinen Privatbesitz haben oder Geld anrühren. Was für ein bescheidenes Leben ausreicht, wird ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt, und sie leben wie Soldaten gemeinsam in einem Lager (Pol. 5. 451d–471c).

Das Staatswesen, dessen Bild Sokrates in den Büchern 3 bis 5 der Politeia entwirft, wurde sowohl als brutaler Totalitarismus verurteilt als auch als frühe Durchführung des Feminismus bewundert. Sollte es ernsthaft als Plan für eine reale politische Gemeinschaft gemeint gewesen sein, so ist zuzugeben, dass es in vieler Hinsicht mit grundlegenden Menschenrechten in Konflikt steht, keine Privatsphäre duldet und voller Täuschung ist. Als Vorschlag für eine Verfassung steht es zu Recht in dem schlechten Ruf, den ihm Konservative und Liberale gegeben haben. Doch wir müssen bedenken, dass der ausdrückliche Zweck dieser Erörterung verschiedener Verfassungen darin bestand, Licht auf die Natur der Gerechtigkeit in der Seele zu werfen, wie es Sokrates im Folgenden tun wird.37 Wir wissen aus anderen Dialogen, dass Platon seine Leser gerne auf ironische Weise in die Irre führte. Die Ironie, die er bei Sokrates gelernt hatte, machte er zu einem wichtigen Prinzip philosophischer Aufklärung.

Nachdem Platon die Analogie mit seinem Klassenstaat in seine Moralpsychologie eingearbeitet hat, kehrt er in den späteren Büchern der Politeia zur politischen Theorie zurück. Der ideale Staat, so schreibt er, verkörpert alle Kardinaltugenden: Die Tugend der Weisheit zeichnet die Wächter aus, Tapferkeit die Gehilfen, Mäßigung die arbeitenden Klassen und Gerechtigkeit wurzelt im Prinzip der Arbeitsteilung, aus der der Stadtstaat ursprünglich hervorgeht. In einem gerechten Staat macht jeder Bürger und jede Klasse das, wofür er oder sie am besten geeignet ist, und zwischen den Klassen der Gesellschaft herrscht Harmonie (Pol. 4. 427d–434c).

In weniger idealen Staaten kommt es zu einem allmählichen Verfall dieser optimalen Zuständen. Es gibt fünf Verfassungstypen (Pol. 8. 544e). Die erste und beste Verfassung wird Monarchie oder Aristokratie genannt: Wenn die Weisheit regierte, ist es unerheblich, ob sie in einem oder mehreren Herrschenden verkörpert ist. Es gibt vier weitere minderwertigere Verfassungstypen: die Timokratie, Oligarchie, Demokratie und die Tyrannis (Pol. 8. 543c). Jede dieser Verfassungen sinkt auf die jeweils niedrigere Stufe, weil eine der Tugenden des idealen Staats verfällt. Wenn die Herrscher keine weisen Menschen mehr sind, weicht die Aristokratie der Timokratie, bei der es sich im Wesentlichen um die Herrschaft einer Militär-Junta handelt (Pol. 8. 547c). Die Oligarchie unterscheidet sich von der Timokratie darin, dass es den oligarchischen Herrschern an Tapferkeit und militärischen Tugenden fehlt (Pol. 8. 556d). Oligarchen besitzen, wenn auch in höchst bescheidener Form, die Tugend der Mäßigung. Wenn nicht mehr entsprechend dieser Tugend gelebt wird, wandelt sich die Oligarchie zur Demokratie (Pol. 8. 555b). Für Platon ist jeder Abfall von der Aristokratie des idealen Staates ein Schritt in Richtung größerer Ungerechtigkeit, doch es ist der Schritt von der Demokratie zur Tyrannis, der die Inthronisierung der allergrößten Ungerechtigkeit bedeutet (Pol. 8. 576a). Demnach zeichnet sich der aristokratische Staat durch das Vorhandensein sämtlicher Tugenden aus, die Timokratie durch das Fehlen von Weisheit, die Oligarchie durch den Verfall der Tapferkeit, der demokratische Staat durch Verachtung der Mäßigung und der despotische Staat durch den völligen Umsturz der Gerechtigkeit.


Trotz Platons Vorschlägen war es selten, dass Frauen, wie Hipparchia in diesem Fresko aus dem vierten Jahrhundert v. Chr., in eine philosophische Schule aufgenommen wurden. Sie schließt sich hier ihrem Ehemann Krates an, dem Gründer der Zyniker.

Platon ist sich bewusst, dass wir in der realen Welt mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit den verschiedenen Formen minderwertiger Staatswesen begegnen, als der in seiner Politeia beschriebenen idealen Verfassung. Dennoch besteht er darauf, dass es nur in einer solchen Stadt öffentliches oder privates Glück geben kann, und dass solche staatlichen Verhältnisse nur herbeigeführt werden können, wenn Philosophen Könige oder die Könige Philosophen werden (Pol. 5. 473c–d). Philosoph wird man natürlich nur, wenn man Platons Erziehungssystem durchläuft, um mit den Ideen vertraut zu werden.

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