Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 15
Parmenides und die Eleaten
ОглавлениеIm antiken Rom galt Heraklit als der „weinende Philosoph“. Man stellte ihm als lachenden Philosoph den Atomisten Demokrit gegenüber. Es wäre passender gewesen, ihm Parmenides gegenüberzustellen, den Leiter der italienischen Philosophenschule im frühen fünften Jahrhundert. Für das klassische Athen war Heraklit der Vertreter der Theorie, dass sich alles in Bewegung befindet, während Parmenides die Auffassung vertrat, dass sich nichts bewege. Platon und Aristoteles haben, auf unterschiedliche Weise, damit gerungen, die mutige These zu verteidigen, dass sich einige Dinge in Bewegung und andere in Ruhe befinden.
Nach Aristoteles (Metaph. A 5. 986b21–5) war Parmenides ein Schüler von Xenophanes, doch er war zu jung, um unter ihm in Kolophon studieren zu können. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in Elea, etwas mehr als 100 km südlich von Neapel. Möglicherweise ist er dort Xenophanes bei dessen Streifzügen begegnet. Wie Xenophanes war auch er eher ein Dichter: Er schrieb ein philosophisches Gedicht in unbeholfenen Versen, von dem wir noch etwa 120 Zeilen besitzen. Er ist der erste Philosoph, dessen Schriften uns in Form zusammenhängender Fragmente größeren Umfangs überliefert sind.
Das Gedicht besteht aus einem Prolog und zwei Teilen, von denen einer „Pfad der Wahrheit“ und der andere „Pfad der sterblichen Meinung“ heißt. Der Prolog zeichnet ein Bild, in dem der Dichter in einem Pferdewagen mit den Töchtern der Sonne die Hallen der Nacht hinter sich zurücklässt und auf das Licht zufährt. Sie erreichen die Tore, die zu den Pfaden von Tag und Nacht führen. Es ist unklar, ob sie mit den Pfaden der Wahrheit und Meinung identisch sind. Wie dem auch sei, die Göttin, die ihn bei seiner Reise begrüßt, erklärt ihm, dass er beides lernen muss:
„[…] der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterliches Herz,
wie auch die Wahnvorstellungen der Sterblichen.“ (KRS 288.29f.; 164)
Es gibt nur zwei mögliche Wege der Forschung:
„Wohl an, ich will dir sagen, welche Wege der Forschung allein denkbar sind […].
Der eine [zeigt], daß [das Seiende] ist und daß es unmöglich ist, daß es nicht ist.
Das ist der Pfad der Überzeugung; folgt er doch der Wahrheit.
Der andere aber [behauptet], dass es nicht ist, und dass es dieses Nichtsein notwendig geben müsse.“ (KRS 291. 2–5; 165)
(Ich muss den Leser bitten, mir zu glauben, dass Parmenides’ Griechisch so unbeholfen und verwirrend ist, wie dieser deutsche Text.) Der Weg der Wahrheit des Parmenides, den wir damit auf rätselhafte Weise eingeführt haben, markiert eine Epoche in der Philosophie. Er ist die Gründungsurkunde einer neuen Disziplin: der Ontologie oder Metaphysik, der Wissenschaft vom Sein.
Was immer es gibt, was immer gedacht werden kann, ist für Parmenides nichts anderes als das Sein. Das Sein ist eines und unteilbar: Es hat keinen Anfang und kein Ende und unterliegt keiner zeitlichen Veränderung. Wenn ein Kessel mit Wasser kocht, so mag dies in den Worten Heraklits der Tod des Wassers und die Geburt der Luft sein; für Parmenides ist es jedoch nicht der Untergang oder die Entstehung von Sein. Welche Veränderungen auch immer geschehen mögen, es sind keine Änderungen vom Sein zum Nichtsein: Es sind alles Veränderungen innerhalb des Seins. Für Parmenides gibt es jedoch in Wirklichkeit überhaupt keine echten Veränderungen. Das Sein ist ewig dasselbe, und die Zeit ist unwirklich, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle eins sind.12
Die alltägliche Welt der scheinbaren Veränderungen wird im zweiten Teil von Parmenides’ Gedicht beschrieben, dem Weg des Scheins, den seine Göttin auf folgende Weise einführt:
„Hier schließe ich mit dem, was ich von der Wahrheit Sicheres denke und sage.
Von hier an aber lerne die Wahnvorstellungen der Sterblichen kennen,
indem du den trügerischen Bau meiner Verse hörst.“ (KRS 300; 168)
Es ist nicht klar, warum sich Parmenides verpflichtet fühlte, die falschen Auffassungen, die von den verblendeten Sterblichen geglaubt werden, überhaupt wiederzugeben. Nähmen wir den zweiten Teil dieses Gedichts aus seinem Kontext, so würden wir darin eine Kosmologie finden, die eindeutig in der Tradition der ionischen Denker steht. Den üblichen Gegensatzpaaren fügt Parmenides Licht und Dunkelheit hinzu, und Aristoteles lobte, dass er als Wirkursache vor allem die Liebe eingeführt habe (Metaph. A 3. 984b27). Tatsächlich umfasst der Weg des Scheins zwei Wahrheiten, die bisher nicht allgemein bekannt waren: erstens, dass die Erde eine Kugel ist (D.L. 9.21), und zweitens, dass der Morgenstern derselbe Stern ist wie der Abendstern. Die von Parmenides bestrittene Entdeckung sollte den Philosophen einer späteren Generation als Musterbeispiel für Identitätsaussagen gelten.13
Parmenides hatte einen Schüler, Melissos, der von Pythagoras’ Insel Samos stammte, und von dem man sagte, er habe außerdem bei Heraklit studiert. Er war politisch aktiv und stieg bis zum Rang eines Admirals der Flotte von Samos auf. Im Jahre 441 v. Chr. wurde Samos von Athen angegriffen, und obwohl Athen in diesem Krieg schließlich siegreich war, wird berichtet, Melissos habe der Flotte von Perikles zwei Niederlagen zugefügt (Plutarch, Perikles; D.L. 9.4).
Melissos legte die Philosophie des parmenideischen Lehrgedichts in schlichter Prosa dar, und behauptete, das Universum sei unbegrenzt, unveränderlich, unbeweglich, unteilbar und gleichförmig. Er war dafür bekannt, aus dieser monistischen Ansicht zwei Konsequenzen gezogen zu haben: (1) dass Schmerz unwirklich ist, weil er (unmöglicherweise) einen Mangel an Sein implizierte; und (2) dass es kein Vakuum gebe, da es sich hierbei um einen Teil des Nichtseienden handeln müsste. Lokale Bewegungen seien daher unmöglich, denn für die Körper im Raum gibt es keinen Platz, in dem sie sich bewegen könnten (KRS 534).
Ein weiterer von Parmenides’ Schülern war Zenon von Elea. Ihm verdanken wir eine Reihe berühmter Argumente gegen die Möglichkeit von Bewegung. Das erste von ihnen lautet folgendermaßen: „Es gibt keine Bewegung, denn was immer sich bewegt, muss den Mittelpunkt seines Weges erreichen, bevor es den Endpunkt erreicht.“ Um bis zum anderen Ende eines Stadions zu laufen, muss man zunächst den halben Weg zurücklegen, um bis zur Mitte des Stadions zu gelangen, muss man die Hälfte dieser Strecke zurückgelegt haben, und so weiter bis ins Unendliche. Bekannter ist das zweite Argument, das als der Wettlauf des Achilles mit einer Schildkröte bekannt ist. „Der Langsamere“, sagte Zenon, „wird vom Schnelleren niemals überholt werden, denn der Verfolger muss zunächst den Punkt erreichen, den der Davonlaufende verlassen hat, sodass der Langsamere notwendigerweise dem Schnelleren immer voraus ist.“ Nehmen wir an, Achilles laufe viermal so schnell wie die Schildkröte, und die Schildkröte habe zu Beginn eines Wettlaufs über eine 100 m lange Strecke einen Vorsprung von 40 m. Zenons Argument zufolge kann Achilles den Wettlauf niemals gewinnen. Hat er nämlich die 40-Meter-Marke erreicht, ist die Schildkröte bereits 10 m weiter. Wenn Achilles diese 10 Meter gelaufen ist, hat die Schildkröte immer noch einen Vorsprung von 2,5 Meter. Jedes Mal, wenn Achilles die Lücke schließt, öffnete die Schildkröte eine neue, kleinere Lücke, sodass er die Schildkröte niemals überholen kann (Aristoteles, Ph. 5.9. 239b11–14).
Diese und ähnliche Argumente Zenons setzen voraus, dass Entfernungen und Geschwindigkeiten unendlich teilbar sind. Seine Argumente wurden von einigen Philosophen als intelligente, aber spitzfindige Paradoxa verworfen. Von anderen wurden sie sehr bewundert: Bertrand Russell behauptete beispielsweise, sie seien die Grundlage für die durch Weierstrass und Cantor eingeleitete Renaissance der Mathematik im 19. Jahrhundert gewesen.14 Aristoteles, der die Rätsel Zenons überliefert hat, glaubte sie entkräftet und damit die Möglichkeit von Bewegung bewiesen zu haben, indem er zwischen zwei Arten von Unendlichkeit unterschied: der wirklichen und der potenziellen Unendlichkeit.15 Doch es sollte noch viele Jahrhunderte dauern, bis die von Zenon aufgeworfenen Fragen Lösungen erhielten, die sowohl die Philosophen als auch die Mathematiker zufriedenstellten.